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Jainismus

Die gewaltige Aufgabe, die verschiedenen Kasten wieder zu vereinigen und die großartige Philosophie, die den alten Veden zugrunde liegt, neu zu beleben, wurde von zwei großen erleuchteten Persönlichkeiten in die Wege geleitet. Sie waren in der Kaste der Kshatriya (indischer Kriegeradel) geboren und wandten sich ganz entschieden gegen jegliches Tieropfer und gegen die in Ritualen erstarrte vedische Religion. Diese beiden geistig hochstehenden Söhne Indiens waren keine anderen als Vardhamana Mahavira und Gautama Sakyamuni; beide lehnten den Glauben an einen persönlichen Gott ab und waren dennoch gottähnliche Menschen; beide wollten den Menschen aus den Fesseln von Samsara oder dem Zyklus der wiederholten irdischen Existenzen erlösen.

Vardhamana, ein Zeitgenosse von Gautama, dem Buddha, wurde im 6. Jahrhundert v. Chr. in Magadha geboren. Er war der Sohn eines Kshatriya-Königs, der in dem Fürstentum regierte, das heute als Nord-Bihar bekannt ist. Seine erste Erziehung erhielt er von den königlichen Lehrern, die ihn in allen Zweigen der Veden, in Atma-Vidya und anderen Wissenschaften unterrichteten. Als seine beiden Eltern starben, entsagte der dreißig Jahre alte Prinz allem weltlichen Besitz und zog sich in die Wälder zurück. Zwölf Jahre lang übte er strenge Selbstkasteiung und Meditation und erkannte schließlich die höchste Wahrheit. Nachdem er seine Regeln strenger systematischer Entsagung und Bußübungen erfüllt hatte, wie es für einen Jaina-Propheten vorgeschrieben ist, wurde er ein Jina oder Sieger, der 24. Tirthankara in einer Reihe spiritueller Lehrer, und war seitdem als Mahavira, der 'große Held', bekannt.

Der erste Tirthankara war Rishabha-Deva, der wahrscheinlich in der Zeit des Rig-Veda lebte. Er wurde von den Dichtern Bana und Mayura als der unvergleichliche Heilige beschrieben, der höher stand als die höchste Gottheit im Pantheon der Hindus. Nach dem Bericht in The Cambridge History of India war der 23. Tirthankara, Parsvanatha, eine historische Persönlichkeit, die 250 Jahre vor der Geburt des Vardhamana lebte. Die Geschichten in der Jaina-Literatur, die in Prakrit und anderen indischen Sprachen geschrieben sind, preisen die unübertroffenen Tugenden der 24 Tirthankaras (wörtlich Furtenmacher, d. h. einer, der die Seelen an das jenseitige Ufer des Meeres der Transmigration bringt). Wie seine Vorgänger widmete Mahavira sein Leben der Verbreitung der ethischen Philosophie, die auf dem Grundsatz, kein Geschöpf zu verletzen oder Ahimsa, beruht. Die Anhänger des Jainismus bemühen sich sogar, dem winzigsten Lebewesen nicht weh zu tun und befolgen strikt den Befehl, daß man nicht töten soll. In der großen Jaina-Literatur gibt es Hunderte von Lehrgedichten, die speziell ausdrücken, wie wichtig diese Tugend vor allen anderen ist.

Ahimsa ist wie eine liebende Mutter aller Geschöpfe,

Ahimsa ist wie ein Strom von Nektar in der Wüste von Samsara,

Ahimsa ist wie ein Zug von Regenwolken für einen brennenden Wald,

Die beste Heilpflanze für die Wesen, die von der Krankheit gequält werden,

Die die ewige Wiederkehr genannt wird, das ist Ahimsa.

 

Der König der Berge kann schwanken,

Und das Feuer kann erkalten,

Der Felsen kann im Wasser schwimmen

Und der Mond Strahlen der Hitze aussenden,

Die Sonne kann im Westen aufgehen,

Aber keine Religion kann zulassen, daß Lebewesen getötet werden.

Manch europäischer Indienforscher, der dieses einzigartige Philosophiesystem, das auf der Hauptforderung, nicht zu verletzen, beruht, nicht gründlich genug studiert hat, stellte irrtümlich fest, es sei eine Abzweigung des Buddhismus - irregeleitet durch die Tatsache, daß einige Lehren in beiden Systemen enthalten sind. Aber wenn die Gelehrten tiefer eindrangen, entdeckten sie, daß sie sich geirrt hatten. Zugegeben, beide Philosophien lehnten das Opfern von Tieren strikt ab und stellten sich gegen die Vielgötterei der Veden; aber sie waren zwei rivalisierende religiöse Gemeinschaften, die sich in allem anderen beträchtlich voneinander unterschieden.

Der Jainismus vertritt die Lehre von der Seele und der Buddhismus die vom Nicht-Selbst. Der Jainismus spricht von Beständigkeit der Materie, während der Buddhismus die Vergänglichkeit aller zusammengesetzten Dinge verficht. Nach dem Jainismus wird die Wirklichkeit durch ein fortwährendes Erscheinen und Verschwinden inmitten eines Zustandes der Dauer gekennzeichnet. Die Materie an sich ist ewig, während die verschiedenen Formen und Arten der Substanz Umwandlungen und Änderungen unterworfen sind. Andererseits lehrt der Buddhismus, daß alles Zusammengesetzte dem Wechsel und der Auflösung unterworfen ist, ganz gleich, ob es belebt oder unbelebt ist.

Die Terminologie der jainistischen Metaphysik unterscheidet sich weitgehend von der buddhistischen. Der Jainismus vertritt die atomare Struktur des Universums, und seine Philosophie verficht einen pluralistischen Realismus. Von seiner Theorie über die Atome könnte man sagen, daß sie wissenschaftlicher ist als die von Leukippos und Demokrit. Nach Ansicht der modernen Physiker ist die Materie an sich nichts anderes als ein Energiezentrum, das Strahlungen und Lichtwellen aussendet. - Diese Anschauung nähert sich weitgehend der buddhistischen Definition von Materie. - Die Jainisten behaupten dagegen, daß die Materie von Dauer ist. Sie ist eine Substanz, Dravya, etwas, was gesehen, gefühlt, gerochen und geschmeckt werden kann. Am anderen Ende der Stufenleiter ist Jiva1, das 'Leben', oder das körperlose Sein, das in jedem Objekt oder Geschöpf vorhanden ist. Die gesamte Erscheinungswelt kann somit in zwei große Gruppen eingeteilt werden, sozusagen in zwei Extreme, nämlich Jiva und Pudgala, wobei der letzte Ausdruck die ursprüngliche Materie, eine Anhäufung von Atomen bedeutet. In der Jaina-Philosophie wird das Universum mit seinen Jiva- und Nicht-Jiva- (oder Ajiva) Kategorien, Maha-Skandha genannt, die große Summe.

In der buddhistischen Terminologie wird dagegen der Ausdruck Skandha benutzt, um damit die fünf Gruppen der mentalen und physischen Erscheinungsformen zu bezeichnen: Körperlichkeit, Fühlen, Wahrnehmen, mentale Empfindungen und Bewußtsein. Und während das Wort Pudgala im jainistischen metaphysischen Denken grober Stoff bedeutet, war in der gesamten buddhistischen Literatur ausnahmslos das Gegenteil damit gemeint - eine Person oder Individualität, eine Seele oder sogar Atman.

Für die Jainisten sind die Jivas mit Erkenntnisfähigkeit, mit Willen und mit Gefühl ausgestattet. Unerschaffen und daher unzerstörbar manifestieren sich die Seelen oder Jivas in physischen Körpern dieser konkreten Welt. Wenn sie nun derart gefangen sind, hängen sie von den Sinnesorganen ab, um Kenntnis von der objektiven Welt zu erlangen. Auf diese Weise genießt Jiva (die Seele) die Früchte seiner guten und schlechten Taten und bleibt in den Zyklen von Samsara verstrickt. Dabei schafft es sich einen karmischen Körper, den es nicht verläßt, bis die endgültige Befreiung der Seele aus der Knechtschaft von Geburt und Tod stattfindet.

Dharma, Adharma, Akasa und Kala sind die anderen vier Dravyas oder "Substanzen" des Jainismus, von denen man sagt, daß sie einen harmonischen Kosmos herstellen. Dharma und Adharma sind hier technische Begriffe mit einer besonderen Bedeutung und sollten daher nicht mit der Bezeichnung der Hindus für Gerechtigkeit, Pflicht und deren Gegensätze (Ungerechtigkeit usw.) verwechselt werden. In der Jaina-Philosophie bedeutet Dharma das Prinzip der Bewegung, das das ganze Universum durchdringt; es ist immer mit Akasa oder mit Raum verbunden und für alle Bewegungen in den organischen und anorganischen Sphären verantwortlich. Um seine wahre Beschaffenheit deutlich zu machen, wird folgendes Gleichnis herangezogen: Obgleich der Fisch mit den für das Schwimmen erforderlichen Fähigkeiten ausgestattet ist, kann er diese Fähigkeit nicht ausüben, wenn kein Teich mit Wasser vorhanden ist. Die Funktion von Dharma wird damit verglichen, daß Wasser im Teich vorhanden ist. Das Gegenteil davon, Adharma, ist auch ein Dravya, aber ohne Form. Es ist das Prinzip der Ruhe und kann mit dem Ast eines Baumes verglichen werden, auf dem sich ein Vogel niederlassen kann, wenn er nicht mehr fliegen will. Dharma und Adharma sind nicht kausal aufzufassen, sondern vielmehr als nicht antreibende Zustände, die sowohl Bewegung als auch Ruhe zulassen, jedoch kommen diese durch die Jivas oder Ajivas zum Ausdruck, welche die innere Kraft besitzen, einen Tätigkeits- oder Ruhezustand auszulösen. Wie gesagt, sie sind keine atomaren und keine körperlichen Zustände, können von den Sinnen nicht wahrgenommen werden und haben dieselbe Ausdehnung wie Akasa. Nach der Auffassung des Jainismus würde die Welt ohne diese beiden Prinzipien form- oder gesetzlos (ohne Gesetz oder Ordnung) in eine unendliche Anzahl von Atomen zerfallen, in ein Chaos, dem nicht mehr die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos (in seiner systematischen Zusammensetzung) zugrunde liegen. Unter den indischen Philosophen entwickelten nur die Jainisten die Lehre dieser beiden Kategorien von Bewegung und Ruhe.

Akasa Dravya ist die Erscheinungsform, die die vier anderen, nämlich Jiva, Pudgala, Dharma und Adharma vereinigt. Akasa oder der Raum ist der Ausdehnung nach unbegrenzt und zweigeteilt: in den Raum, der das sichtbare Universum mit all seinen Jivas und Ajivas (Loka-Akasa) umfaßt - und den Raum, der das Leere oder das Jenseitige genannt werden kann (Aloka-Akasa). Das letzte und sechste Dravya ist die Zeit oder Kala, ohne die der Wechsel nicht verstanden werden kann, dem alles im Universum im Verlauf der Evolution und Involution ausgesetzt ist.

Wie schon angedeutet: Wenn Jiva (Geist) von Pudgala (Materie) beherrscht wird, wird Jiva an das Rad von Geburt und Tod gekettet. Durch diesen Vorgang zieht jedes Individuum die feinen karmischen Moleküle an sich, die seine reine, eigentliche Intelligenz (Atman) einhüllen. Wenn Jiva (die Seele) seine wahre Natur erkennt, beschließt es sofort, sich aus den Banden dieses karmischen Körpers zu befreien. Durch Übung und Schulung, Meditation und Enthaltsamkeit beginnt der Aspirant seinen Weg nach oben, und seine Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, das Karma, das er in der Vergangenheit angehäuft hat, aufzulösen. Wenn der Geist endlich von den Fesseln der Materie frei ist, steigt er automatisch zu höheren Reichen auf und verbleibt dort unveränderlich in dem Zustand unendlicher Glückseligkeit, unendlicher Weisheit, unendlicher Kraft und ewigen Friedens. Wenn man sagen kann, Jiva hat keinen Anfang, aber ein Ende, so kann man auch behaupten, daß, wenn Jiva befreit ist, es einen Anfang hat, aber kein Ende. Denn obwohl es von der Knechtschaft der Materie und der Bindung an Samsara vollständig frei ist, so existiert es dennoch und erfreut sich des ewigen Glückes von Nirvana. Somit hat jedes Jiva die Möglichkeit, ein allwissender Jina oder "Sieger" zu werden.

In diesem Gedankensystem gibt es keinen Raum für einen außerweltlichen Schöpfer, der für die Erschaffung des Universums verantwortlich ist. Wir selbst sind unsere eigenen Schöpfer. Sogar das winzigste Atom ist ein Universum von Leben. Mahavira wies darauf hin, daß Myriaden winziger mikroskopischer Jivas in einem Atom existieren und daß die ganze mit Leben erfüllte Welt darum kämpft, sich endgültig von der Herrschaft der Materie freizumachen.

Die Jainisten waren die ersten, die sich bemühten, die uralte Biologie zu studieren. Sie betrachteten sogar die Pflanzen als beseelte Wesen und klassifizierten sie als Jivas, die nur ein Sinnesorgan besitzen. Sie beschrieben das Universum als eine Einheit in der Vielheit. Geist und Materie sind, obgleich einander entgegengesetzt, Daseinsformen, die ewig miteinander bestehen und nie völlig vernichtet werden können. Auch wenn die äußeren Formen nicht von Dauer sind, wird die Materie als solche nie zerstört.

Die Jainisten haben zwei besondere moralische Regeln für Laien und Mönche. Um die endgültige Befreiung oder Nirvana erreichen zu können, müssen sie, ob Weltliche oder Asketen, zuallererst die Regeln von Ahimsa oder die Vorschrift, andere Wesen nicht zu verletzen, befolgen - und dann erst kommen die drei Juwelen (Ratnatraya): rechter Glaube (Samyak Darsana); rechtes Wissen (Samyak Jnana); und rechte Lebensführung (Samyak Charitra). Diese Tugenden sollten gleichzeitig ausgeübt werden, wenn man dem Pfad folgt, der zur endgültigen Befreiung führt. Für Asketen werden noch strengere Regeln des sittlichen Verhaltens vorgeschrieben.

Leider ist in der buddhistischen und jainistischen Literatur eine Fülle von Auseinandersetzungen, Streitgesprächen und Beweisführungen zu finden, die zu Lebzeiten von Mahavira und Buddha stattfanden. Dabei, meint Prof. Winternitz, gibt es vieles, was sie beide gemeinsam haben, so daß man verstehen kann, warum der Jainismus lange Zeit lediglich als eine buddhistische Sekte angesehen wurde. Doch in wesentlichen Punkten unterscheiden sie sich. Er fährt fort:

Der Jainismus legt viel mehr Gewicht auf Askese und kultische Übungen als der Buddhismus, und im Gegensatz zu Buddha lehrte Mahavira sorgfältig ausgearbeitete Glaubenssätze über die Seele. Alles, was die beiden Religionen gemeinsam haben, ist die altindische "asketische Moral". ... Die Berührungspunkte zwischen buddhistischer und Jaina-Literatur beziehen sich genaugenommen auf Dinge, die die beiden philosophischen Systeme mit der gesamten indischen Poesie über Askese teilen.

In jenem glanzvollen Zeitalter, als Buddha geboren wurde, lebten in dem heiligen Land von Aryavarta außer Mahavira Vardhamana noch einige andere hervorragende Philosophen oder Weise, doch er wurde als der bedeutendste von ihnen angesehen. Es würde zu weit führen, die verschiedenen religiösen und philosophischen Kulte zu betrachten, die gerade in jener Zeitspanne vorherrschten; doch sie alle gehören als Teil in den historischen Zusammenhang, als Buddha erschien, um "das Rad des heiligen Gesetzes in Bewegung zu bringen" - das ewige Gesetz, das für alle Zeiten gilt, für die Vergangenheit, die Gegenwart und für die kommenden Ewigkeiten.

Fußnoten

1. Jiva - ein Neutrum. [back]