Wie die Geheimlehre geschrieben wurde
- Sunrise 1/1976
Zwischen den Schriften von H. P. Blavatsky und dem wachsenden Verständnis ihrer Anhänger für die Arbeit der Theosophischen Gesellschaft kann es keine Trennung geben. Es muß aber ebenfalls gesagt werden, daß damals, als die ersten Lehren der alten Weisheit gerade entworfen und veröffentlicht waren, ein natürliches Verlangen entstand, diese Philosophie in einer vollständigeren Ausführung herauszubringen. Die Ziele und Prinzipien, die H. P. B. von Zeit zu Zeit im Laufe ihres Lebens formuliert hat, veränderten sich, wurden näher definiert und gaben einen Überblick über die Arbeit, die die Gesellschaft leisten sollte, so wie sie von jenen, die für ihre Gründung hauptsächlich verantwortlich waren, gesehen wurde. In der Tat waren die eigentlichen Gründer der Theosophischen Gesellschaft die Lehrer H. P. B.s, und diese waren größtenteils für den Inhalt von Isis Unveiled / Die entschleierte Isis und The Secret Doctrine / Die Geheimlehre verantwortlich.
H. P. B.s erstes Werk Die entschleierte Isis wurde im Sommer 1875, wenige Monate vor der Gründung der T. G., begonnen, obwohl sie zu dieser Zeit noch nicht wußte, was aus dem wachsenden Manuskriptberg werden sollte. Später, im September, so hatte es H. S. Olcott aufgezeichnet, "schrieb sie mir, daß es ein Buch über die Geschichte und die Philosophie der östlichen Schulen und ihre Beziehungen zu unseren zeitgenössischen Schulen werden sollte."1
Im Dezember 1878, ein Jahr nachdem es veröffentlicht worden war, verließen Madame Blavatsky und Oberst Olcott New York, um nach Indien zu reisen, wo sie ihr Werk für die nächsten sechs Jahre fortführten. Sie machten bald die Bekanntschaft von A. P. Sinnett, dem Herausgeber der anglo-indischen Zeitschrift The Pioneer. Seine Korrespondenz mit Madame Blavatsky und ihren Lehrern übte eine nachhaltige Wirkung auf ihn aus. Als direktes Ergebnis der Inspiration und Belehrung, die er empfangen hatte, und auch aufgrund gewisser Phänomene, bei denen er selbst Zeuge gewesen war, veröffentlichte Sinnett im Jahre 1881 The Occult World (Die okkulte Welt) und zwei Jahre später Esoteric Buddhism (Die esoterische Lehre oder Geheimbuddhismus), zwei bedeutende Bücher, die in verschiedenen Teilen der Welt beachtliches Aufsehen erregten. In einigen wenigen Fällen war jedoch Sinnetts Interpretation der Lehren unrichtig. Er konnte auch nur schwer verstehen, warum Unterschiede bestanden zwischen der philosophischen Darstellung der Theosophie, wie er sie niedergeschrieben hatte, und der, wie sie von H. P. B. in Isis gegeben wurde. Er erkannte nicht, daß Madame Blavatsky in Isis Grenzen gesetzt waren, weil sie darauf achten mußte, wieviel sie von der alten Weisheit preisgeben durfte. Das war im Jahr 1877. Innerhalb der nächsten fünf oder sechs Jahre war anscheinend die Zeit gekommen, in der mehr von der esoterischen Philosophie enthüllt werden durfte, und es wurde eine Terminologie ausgedacht, die für das westliche Verständnis geeigneter war. Im Jahr 1882 schrieb K. H. (das sind die Initiale, die einer von H. P. B.s Lehrer benutzte) an Sinnett:
Sie (Isis) sollte wirklich um der Familienehre willen neu geschrieben werden. ... Sehen Sie nicht, daß alles, was Sie in Isis finden, nur im Entwurf, nur skizzenhaft dargelegt ist und daß nichts vollständig oder völlig erklärt wird. Gut, die Zeit ist gekommen, aber wo sind die Arbeiter für solch eine ungeheure Aufgabe?
- The Mahatma Letters to A. P. Sinnett, 130-131
Trotzdem erschienen im Jahr 1884, in der Januar-Ausgabe des Journal,2 Anzeigen für Die Geheimlehre als neuer Version von Isis Unveiled / Die entschleierte Isis. In jenem Sommer begannen zwei Schüler der Theosophie, Man: Fragments of Forgotten History (Der Mensch: Bruchstücke einer vergessenen Geschichte) zu schreiben. Doch diese Darstellung der theosophischen Philosophie erwies sich im ganzen als unbefriedigend, weil der ursprüngliche Entwurf nicht richtig weitergeführt wurde. Nach diesem Versuch erhielt H. P. B. am 9. Januar 1885 den "Plan" für das große Werk Die Geheimlehre. Oberst Olcott schreibt:
Am folgenden Abend - so steht es in meiner Tagebucheintragung - "erhielt H. P. B. von ihrem Lehrer den Plan für ihre Geheimlehre, und er ist ausgezeichnet. Oakley und ich versuchten gestern, uns damit (H. P. B.s Notizen und Unterlagen für die Neufassung der Isis) zu befassen, aber diese Lösung ist viel besser." Inzwischen ist schon lange das Material für das Buch weiter gesammelt worden. Für einige wird es neu sein, daß ursprünglich kein neues Buch vorgesehen war, sondern nur eine Umarbeitung und Erweiterung von Isis Unveiled / Die entschleierte Isis. Unter Mitwirkung des verstorbenen T. Subba Row, B. A., B. L., als Mitherausgeber von H. P. B., wie es zuerst in The Theosophist angekündigt war, sollte es in monatlichen Teilen von je 77 Seiten ausgeliefert werden und sich auf etwa zwanzig Teile belaufen. Dieser neue Plan, der ihr von ihrem Lehrer gegeben worden war, änderte dieses Programm, und das Ergebnis war der schrittweise Aufbau des nun vorliegenden großen Werkes.
- O. D. L., III, 199-200
Ein Jahr zuvor, im Februar 1884, waren H. P. B., Olcott und vier Begleiter von Bombay nach Europa gereist. Während ihrer Abwesenheit wurde von Mr. und Mrs. Coulomb (ein in die Hauptquartier-Familie in Adyar aufgenommenes Ehepaar) und den Herausgebern des Christian College Magazine in Madras ein sorgfältig geplanter Angriff gegen H. P. B., und indirekt gegen die Theosophische Gesellschaft, vorbereitet. H. P. B. wurde beschuldigt, die Briefe ihrer Lehrer erfunden und bei der Erzeugung von Phänomenen Tricks angewandt zu haben. Die Wirkung dieses boshaften Angriffs bestand darin, daß diese Dinge sofort in der ganzen Welt bekannt wurden und sowohl Olcott als auch Blavatsky am Ende des Jahres nach Indien zurückkehrten. Zu dieser Zeit schickte die Society for Psychical Research (Gesellschaft für psychische Forschung) einen jungen Mann namens Richard Hodgson nach Indien, der die ganze Angelegenheit untersuchen und darüber Bericht erstatten sollte. H. S. O. und das Komitee in Adyar waren bemüht, nicht noch mehr Aufsehen zu erregen und die Namen der Meister vor der Öffentlichkeit nicht preiszugeben, deshalb ließen sie H. P. B. nicht durch die Gesellschaft verteidigen und gaben indirekt durch diese Unterlassung ihre Schuld zu. H. P. B. protestierte energisch; die Ehre der Gesellschaft und ihrer Lehrer standen auf dem Spiel. Olcott drohte jedoch H. P. B. mit seinem Rücktritt, wenn sie nicht dem Kurs folgte, der vom Komitee festgelegt worden war. Schließlich brach ihre bereits geschwächte Gesundheit zusammen. Ende März wurde ihr Rücktritt vom Amt des korrespondierenden Sekretärs angenommen. Ein paar Tage später verließ sie auf Anordnung des Arztes Indien, vielleicht um zu sterben - oder um sich ausreichend zu erholen und Die Geheimlehre beenden zu können. Als sie den Dampfer bestieg, bat Subba Row sie, "die Geheimlehre zu schreiben und ihm" über Olcott jede Woche das Geschriebene zu senden, weil er dann "Anmerkungen und Kommentare machen" wollte (Theos., März 1925, 783).
Selbst auf offener See erhielt sie Manuskripte und Informationen für Die Geheimlehre.3 Sie blieb etwa drei Monate in Italien, in Torre del Greco und in Rom, und später in der Schweiz und ließ sich schließlich Anfang August in Würzburg, Deutschland, nieder. Am 28. Oktober 1885 schrieb H. P. B. an Olcott, ich hatte "jetzt nicht so viel Zeit für die Geheimlehre ... werde aber in einem oder zwei Monaten die ersten sechs Abschnitte senden" (O. D. L., III, 317).
Die wirkliche Arbeit begann aber erst, als im Dezember die Gräfin Wachtmeister kam, um ihr Gesellschaft zu leisten und sich um sie zu kümmern. H. P. B. konnte nun ohne ständige Unterbrechungen, denen sie vorher ausgesetzt war, einen Stundenplan einhalten, wodurch sie Tag für Tag viele Stunden lang mit Schreiben beschäftigt sein konnte. In den folgenden Monaten gelang es der Gräfin nur dreimal, sie zum Verlassen der Wohnung zu bewegen.
Der Dezember war kaum vorüber, als H. P. B. die Untersuchungsprotokolle der Society for Psychical Research erhielt, die sich auf Mr. Hodgsons Untersuchungen in Indien stützten. Dieser Bericht war ihr gegenüber ebenso ungerecht wie der frühere Angriff durch die Coulombs und das Christian College Magazine. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie dieser Bericht auf H. P. B. wirkte. Gräfin Wachtmeister berichtet:
"Das", rief sie aus, "ist das Karma der Theosophischen Gesellschaft, und es fällt auf mich. Ich bin der Sündenbock. Ich soll alle Sünden der Gesellschaft tragen, und wer wird jetzt noch, wo ich als die größte Betrügerin des Jahrhunderts und dazu noch als russische Spionin bezeichnet werde, auf mich hören oder Die Geheimlehre lesen?"
- Reminiscences, Wachtmeister, 26
Am 6. Januar 1886 schrieb H. P. B. an Olcott, daß Die Geheimlehre die Rechtfertigung für sie und ihre Lehrer sein würde.
Denn die Geheimlehre ist vollständig neu. Es sind weniger als 20 Seiten, die Zitate aus der Isis enthalten. ... In vier Teilen - archaische, alte, mittelalterliche und moderne Zeiten. Jeder Teil 12 Kapitel mit Anhängen und einem Wörterverzeichnis mit Erklärungen am Schluß. Die Gräfin ist hier, und sie sieht, daß ich fast keine Bücher habe. Der Meister und Kashmiri diktieren abwechselnd. Sie schreibt alles ab.
- Theos., Aug. 1931, 666-667
H. P. B. hielt sich von August 1885 bis Mai 1886 in Würzburg auf. Gegen Ende April beschloß sie, die Sommermonate mit ihrer Schwester und ihrer Nichte in Ostende, Belgien, zu verbringen. Auf dem Weg dorthin wurde sie jedoch von den Gebhards überredet, ihr Haus in Elberfeld, Deutschland, zu besuchen. Dort verletzte H. P. B. sich am Bein. Sie ließ sich erst im Juli in Ostende nieder, wohin auch die Gräfin bald kam, und die Abfassung der Geheimlehre konnte nun wieder ohne Unterbrechung fortgesetzt werden.
Am Abend, nach ihrer Tagesarbeit, war H. P. B. nicht abgeneigt, Besuchern das Geschriebene vorzulesen, wenn sie den Eindruck hatte, daß diese daran interessiert waren. Sie gab auch Teile des Manuskripts verschiedenen Leuten zum Lesen. Acht Seiten wurden an Mr. Sinnett geschickt, damit er sie Sir William Crookes zeigen konnte, der zu jener Zeit der bedeutendste Chemiker in England und ebenfalls Theosoph war. Bei anderen Gelegenheiten wurden Manuskriptteile von Würzburg und auch von Ostende aus per Post nach Adyar, Indien, geschickt. Ein andermal sandte H. P. B. einen großen Teil ihres Manuskripts an Olcott und ermahnte ihn und Subba Row, nichts davon zu verlieren.
Machen Sie jedoch, was Sie wollen, ... und wenn Sie etwas hinzufügen möchten, so schreiben Sie den Zusatz auf ein Blatt und heften Sie es zu der Seite, der Sie es hinzufügen wollen. Denken Sie daran, das ist mein letztes großes Werk. Falls es verloren ginge, hätte ich nicht die Zeit, es neu zu schreiben, oder eine Möglichkeit, die Gesellschaft am Leben zu erhalten, was mehr bedeutet.
- Theos., März 1925, 790
Am 21. Oktober schrieb Sie ihm dann, daß sie im Frühjahr nach London reisen würde, weil sie dort im Museum Bücher zur Verfügung hätte, um Nachprüfungen machen zu können, und außerdem hätte sie unter den dort ansässigen Mitgliedern Korrektoren, die ihr helfen könnten. H. S. O. hatte ihr geschrieben, daß Subba Row sich weigere, das Material durchzusehen, und sie fragte, was sie nun ohne seine Hilfe mit dem zweiten Band machen solle, "wo ich doch jede Menge Sanskritwörter und Sanskritsätze habe sowie die esoterische Bedeutung von einer Reihe exoterischer Hindu-Allegorien aus ihrer Kosmogonie und Theogonie."
Antworten Sie bitte sofort. Es stammt fast alles von dem "alten Herrn" und dem Meister, und ich sage Ihnen, es sind wunderbare Dinge darin enthalten. Aber jemand muß das Sanskrit und die Richtigstellungen der exoterischen Interpretationen prüfen.
- Ebenda, 787
In Old Diary Leaves (Alte Tagebuchblätter) schreibt Olcott, daß die Geheimlehre-Papiere in der ersten Woche des Dezembers 1887 angekommen seien, daß Subba Row sie aber nicht, wie ursprünglich verabredet, bearbeiten wolle, weil, wie er sagte, es darin so viele Fehler gäbe, so daß er alles hätte neu schreiben müssen. H. P. B., die darüber sehr beunruhigt war, überarbeitete noch einmal das Material und korrigierte vieles.
Zu dieser Zeit waren in England eine Anzahl Mitglieder in Mr. Sinnetts Londoner Loge mit dem augenblicklichen Stand der Dinge unzufrieden. Sie fanden, daß ein frischer Impuls für ihre öffentliche Arbeit4 notwendig sei, und beschlossen, daß jeder persönlich an H. P. B. wegen dieses Problems schreiben solle. Jeder erhielt daraufhin einen langen Brief von ihr. Unter anderem erklärte sie, wie dringend es für sie sei, Die Geheimlehre zu beenden, bevor von ihr andere Dinge in Angriff genommen werden konnten. Trotzdem reiste Bertram Keigthley Anfang 1887 nach Ostende, um H. P. B. zu besuchen, die ihn bat, "Teile des Manuskripts durchzusehen." Sie willigte ein, Ende April nach London zu kommen, vorausgesetzt, daß eine Unterkunft und andere Dinge arrangiert werden könnten. Bald danach reiste Dr. Archibald Keigthley5 nach Ostende, um H. P. B. einen Besuch abzustatten; und auch ihm gab sie einiges aus der Geheimlehre zum Lesen. Schon kurz nachdem er nach England zurückgekehrt war, traf die Nachricht ein, daß H. P. B. schwer erkrankt sei. Ihr Arzt und ihre Freunde dachten damals, daß sie sicherlich sterben würde, aber wie im Februar 1885 in Indien, erholte sie sich wunderbarerweise wieder. Fast unmittelbar danach kündigte sie an, daß die nächste Phase ihrer Arbeit an der Geheimlehre und auch für die Theosophische Gesellschaft in England fortgeführt würde. Nachdem die Keigthleys das erfahren hatten, kamen sie in den letzten Aprilwochen nach Ostende, um die Übersiedlung vorzubereiten. H. P. B. sollte in dem kleinen Haus von Mrs. Mabel Cook (Mabel Collins), Maycot, Upper Norwood, London, wohnen.
Madame Blavatsky beschreibt ihren Umzug auf einer Postkarte an William Q. Judge:
Maycot, Crownhill, Upper Norwood, London, C. S., 7. Mai
"Oh Deine prophetische Seele!" Sie wußte nicht, daß die alte H. P. B. 17 Tage lang zwischen Leben & Tod schwebte; unwiderstehlich angezogen von der Schönheit, die hinter letzterem zu erwarten war und von der Gräfin & von einigen Londoner Logen an den Rockschößen zurückgehalten? Guter, intuitiver Freund. Dennoch wurde ich noch einmal gerettet & noch einmal mit meiner klassischen Nase in den Schmutz des Lebens gesteckt. Die beiden Keigthleys & Thornton (ein lieber, ECHTER neuer Theosoph) kamen nach Ostende, packten mich, Bücher, Nieren & gichtische Beine, & beförderten mich über das Wasser, teils im Dampfer, teils im Rollstuhl & zum Schluß im Zug nach Norwood in eines der Häuschen, in dem ich hier lebe (vielmehr vegetiere), bis die Gräfin zurückkehrt. Hier "1000 Worte für den Pfad" schreiben? Ich will es versuchen, alter Freund. Sehr, sehr unpäßlich & schwach; aber etwas besser nach der schrecklichen Krankheit, die mich reinigte, da sie mich nicht hinwegraffte. Herzlichst & aufrichtig wie üblich & für immer. Dein in Himmel & Hölle. - "0. L." H. P. B.6
Sobald wie möglich war sie wieder an ihrem Schreibtisch, und die Arbeit ging wie üblich weiter. Die Aufgabe, die Geheimlehre für die Veröffentlichung durchzusehen, fiel hauptsächlich den Keigthleys zu. Bertram Keigthley sagt, daß H. P. B. sie bei ihrer Ankunft in England fragte, was sie tun möchten, und nachdem sie ihre Antworten gehört hatte, bemerkte sie: "In Ordnung, dann machen Sie sich sogleich an die Arbeit" (Reminiscences, B. K., S. 7). Damit übergab sie ihnen das ganze Manuskript zur Überprüfung, und gleichzeitig sollten sie ihr einen Vorschlag für eine entsprechende Anordnung machen. Das Manuskript erwies sich als ein über einen Meter hoher Stoß und war, wie Archibald Keigthley berichtet, "in gesonderte Abschnitte eingeteilt, ... aber völlig ungeordnet; vieles war von der Gräfin Wachtmeister geduldig und fleißig abgeschrieben worden." Nach längeren Beratungen wurde der Plan, der H. P. B. vorgeschlagen worden war, zur Grundlage für die gegenwärtige Einteilung der Bände und den Inhalt gemacht. Anderes Material, das nicht in diese Anordnung und nicht in diesen Plan paßte, wurde für die Zukunft aufbewahrt. Sie arbeiteten die ganzen Sommermonate hindurch, "lesend, nocheinmal lesend, abschreibend und korrigierend."7 Viele Zitate mußten im Britischen Museum, oder wo auch immer sie ausfindig gemacht werden konnten, geprüft werden.
Es muß erwähnt werden, daß die Stanzen des Dzyan, auf denen Die Geheimlehre basiert, in den ersten Entwürfen des Buches nur wenig erläutert wurden. Für H. P. B. waren sie vollkommen verständlich, aber für den Studierenden waren Erklärungen notwendig. Ein Plan wurde gefaßt, nach dem je eine Stanze auf ein leeres Blatt Papier geschrieben und Fragen daran angeheftet werden sollten, zu denen H. P. B. dann Antworten schreiben würde. Oft mußten die Fragen geklärt werden, bevor sie ihre Kommentare geben konnte. Neben all dieser Arbeit für Die Geheimlehre gründete H. P. B. noch eine neue Zeitschrift, Lucifer. Das erste Heft erschien im September 1887. Im gleichen Monat zog sie in ein größeres Quartier in der Lansdowne Road 17 um. Der Geist und die Begeisterung derer, die mit ihr zusammenarbeiteten, kommt in den folgenden Zeilen aus einem Brief vom 29. Mai 1887 von Bertram Keigthley an W. Q. Judge8 zum Ausdruck:
H. P. B. geht es leidlich gut & sie arbeitet weiter intensiv an der Geheimlehre, die ungemein gut ist & ich bin sicher, daß Sie Ihre helle Freude daran haben werden. Obwohl ich diesen Brief in Linden Gardens schreibe, wohne ich mit H. P. B. in Maycot, Crown Hill, Upper Norwood, S. E., wo sie hoffentlich für die nächsten zwei oder drei Monate bleiben wird. Wir haben einen Plan aufgestellt und wollen H. P. B. in einem Winterquartier nahe London unterbringen, wo sie in Frieden leben & die wirklichen Mitarbeiter der Gesellschaft um sich versammeln kann. Ob er aber Erfolg haben wird oder ob es je wirklich dazu kommt, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, daß wir unser möglichstes tun werden, um alles zuwege zu bringen. Erwähnen Sie noch nichts darüber; da "zwischen Lipp' und Kelches Rand schwebt der dunklen Mächte Hand" & über diese Dinge am besten nicht gesprochen wird, bis sie wirklich ausgeführt worden sind. Auf jeden Fall meinen wir, daß man bemüht sein sollte, frisches Leben in diese schwerfällige L. L. (Londoner Loge) zu bringen, & die neue Zeitschrift ist der erste Schritt. Der Name, der uns augenblicklich am meisten zusagt, lautet "Lucifer: the Lightbearer" ("Luzifer: der Lichtbringer"), aber zu einer endgültigen Entscheidung ist es noch nicht gekommen. Auf jeden Fall beabsichtigen wir, zwei Dinge zu tun: es H. P. B. so behaglich wie möglich zu machen & ihr zu beweisen, daß es wenigstens einige gibt, die wirklich ihre unaufhörliche Selbstaufopferung & ihre unermüdlichen Bemühungen für die Sache würdigen.
Nach vielem Schneiden, Kleben und Tippen sauberer Kopien der Bände I und II wurde das Manuskript schließlich in die Druckerei gegeben. Dann kam das Korrekturenlesen, und auch das war mit Schwierigkeiten verbunden, wie sich Archibald Keigthley erinnert:
Man begann, die Geheimlehre zu drucken, und Mme. Blavatskys Abneigung, eine druckreife Seite anders zu behandeln als ein Manuskript, führte bei der Geheimlehre und bei Lucifer zu vielen Debatten und großen Kosten. Es ging nicht nur darum, daß sie eine Seite, nachdem die Typen bereits gesetzt waren, teilen und viel neuen Text einfügen wollte, sondern sie wollte auch mit viel Sorgfalt und Genauigkeit mit der Schere einzelne Sätze ausschneiden und dann an einer völlig anderen Stelle einkleben. Wehe dem mutigen Redakteur, der im Namen der Drucker und wegen der anfallenden Mehrkosten protestierte. "Köpft ihn" oder herunter mit seinem metaphysischen Skalp, waren die Befehle der Königin unseres Wunderlands. Schließlich waren die Ausgaben für die Korrekturen der Geheimlehre höher als der Preis für den ursprünglichen Satz!
- Theosophical Quarterly, VIII, No. 30, 115, "Reminiscences of H. P. Blavatsky".
Fragen wie: wer hat Die Geheimlehre geschrieben und wie ist sie geschrieben worden, sind seit dem Erscheinen des Buches immer wieder gestellt worden. Madame Blavatsky erhob keinen Anspruch darauf, die ganze Arbeit allein gemacht zu haben, wie sie Mr. Sinnett in ihrem Brief vom 3. März 1886 erklärte:
Jeden Morgen gibt es eine neue Entwicklung und Szenerie. Ich lebe wieder zwei Leben. Der Meister findet, daß es für mich zu schwer ist, für meine G. L. (Geheimlehre) dauernd bewußt in das Astrallicht zu sehen, und deshalb, es sind jetzt etwa vierzehn Tage her, wurde ich in die Lage versetzt, alles, was ich sehen muß, wie in einem Traum zu sehen. Ich sehe große und lange Papierrollen, auf denen die Dinge geschrieben stehen, und ich erinnere mich dann daran.
- The Letters of H. P. Blavatsky to A. P. Sinnett, 194
Der Meister K. H. gibt in seinem Brief vom 18. August 1888 an H. S. Olcott einen weiteren Einblick, wie die G. L. geschrieben wurde:
Ich habe auch Ihre Gedanken über die "Geheimlehre" bemerkt. Sie können sicher sein, daß alles, was sie nicht aus wissenschaftlichen und anderen Büchern übernommen hat, wir ihr vermittelt oder suggeriert haben. Jeder Fehler oder jeder falsche Begriff, der von ihr aus den Werken anderer Theosophen berichtigt oder erklärt wurde, wurde von mir oder auf meine Anweisung hin berichtigt. Es ist ein wertvolleres Werk als sein Vorgänger (Isis), ein Abriß okkulter Wahrheiten, der es für den ernsthaft Studierenden zu einer Quelle der Information und Instruktion für lange Zeiten machen wird.
- Letters from the Masters of the Wisdom, No. 19, I, 47
Jedes Werk muß natürlich nach seinem eigentlichen Wert beurteilt werden und nicht nach den Mitteln, mit denen es produziert wurde. Jeder Leser muß selbst beurteilen, wie gut H. P. B. ihr Vorhaben ausführte. Sie selbst stellt das in ihrem Vorwort fest, Die Geheimlehre wurde "im Dienste für die Menschheit geschrieben, und von der Menschheit und den zukünftigen Generationen muß sie beurteilt werden."
Wie die letzten Sätze des eingefügten Faksimiles andeuten, hatte H. P. B. zwei weitere Bände vorbereitet, die herausgegeben werden sollten, wenn die entsprechende Aufnahme der ersten Bände es rechtfertigen würde. Sie bleiben unveröffentlicht, und man kann nur vermuten, daß mehr Zeit erforderlich war, um das bereits ausgegebene Material zu verstehen. Sie verfaßte jedoch The Voice of the Silence / Die Stimme der Stille, ein kleines Buch mit Vorschriften und Regeln, die aus "derselben Serie stammen wie die 'Stanzen', die dem Book of Dzyan / Buch des Dzyan entnommen wurden, die der Geheimlehre zugrunde liegen." Diese Seiten vermitteln jenen eine edle Lebensauffassung, die bessere Diener für die Menschheit werden wollen, wobei man hoffte, daß vielleicht einige wenige Zugang zu jenem inneren Wissen finden würden, zu dem H. P. B. den Weg gezeigt hat. Was nun die Bände III und IV betrifft, wer kann wohl sagen, ob sie je veröffentlicht werden?
Heute, ein Jahrhundert nach H. P. B., leben neue Egos, die eine andere Welt schaffen, und wenn ihre Schriften irgendeine Wirkung erzeugt haben, dann kann man sie in dem tieferen spirituellen Verlangen einer immer größeren Zahl von Menschen finden, die die Bruderschaft der Menschen zuwege bringen wollen, für die sie so hart gearbeitet hat. Die Lehren, die diese Menschen für das nächste Jahrhundert hervorrufen, werden ihrem Karma und dem Karma der Zeiten entsprechen.
Fußnoten
1. Old Diary Leaves, I, 203 (Alte Tagebuchblätter). [back]
2. Journal of The Theosophical Society (Beilage zur Zeitschrift The Theosophist). [back]
3. Siehe Reminiscences of H. P. Blavatsky and "The Secret Doctrine", Brief von F. Hartmann an Mrs. Johnstone, 2. Juni 1893, S. 109. [back]
4. Reminiscences of H. P. B. von Bertram Keigthley, 1931. [back]
5. Onkel von Bertram, obgleich ein Jahr jünger. [back]
6. Original in den Archiven, Theosophische Gesellschaft, Pasadena. [back]
7. Reminiscences, Wachtmeister, 97, 91, 98. [back]
8. Original in den Archiven, T. G., Pasadena. [back]