An unsere Leser
- Sunrise 1/1976
Im Jahre 1875, vor nunmehr einhundert Jahren, beschloß eine kleine Gruppe gelehrter Männer und Frauen die Gründung einer Gesellschaft zur Erforschung der spirituellen Gesetze, die das physische Universum beherrschen. Sie trafen sich in der Wohnung von Madame Helena P. Blavatsky, die jetzt als die inspirierende Kraft hinter der modernen theosophischen Bewegung anerkannt ist. Das geschah Anfang September. Ende Oktober wurden die Satzungen und eine Präambel angenommen, und am 17. November 1875 hielt der erste Präsident der Theosophischen Gesellschaft, Henry S. Olcott, in der Mott Memorial Hall, New York City, die Eröffnungsrede, aus der wir zitieren:
In künftigen Zeiten, wenn der unparteiische Historiker einen Bericht über den Fortschritt der religiösen Ideen im gegenwärtigen Jahrhundert schreiben wird, wird die Bildung dieser Theosophischen Gesellschaft, an deren ersten Zusammenkunft wir jetzt teilnehmen und bei der ihre Prinzipien formell bekanntgegeben werden, nicht unvermerkt bleiben. Soviel ist gewiß. ...
Was ist es, das mich nicht nur zufrieden, sondern auch stolz macht, für einen kurzen Augenblick als Sprachrohr und Repräsentant dieser Bewegung dazustehen und Schmähung, Verdrehung und jede gemeine Beschimpfung in Kauf zu nehmen? Es kommt daher, weil ich in meiner Seele fühle, daß hinter uns, hinter unserer kleinen Schar, hinter unserer schwachen, neugeborenen Organisation sich eine mächtige Kraft konzentriert, der nichts widerstehen kann - die Kraft der Wahrheit! Ich bin überzeugt, daß wir nur die Vorhut sind, die die Stellung hält, bis das Gros nachkommt.
Es ist sicher angebracht, daß ein Jahrhundert voller Hingabe an das Streben nach Wahrheit und der Bemühung, ihrer Forderung gemäß zum Wohle der Menschheit zu leben, in den Seiten von Sunrise Anerkennung findet. Deshalb hat jeder, der zu diesem Heft mit beigetragen hat, einen Aspekt des Lebenswerks und der Schriften H. P. Blavatskys aufgegriffen. Natürlich ist diese vorliegende Bearbeitung alles andere als vollständig. Die Schwierigkeit lag nicht im Mangel an Quellenmaterial, sondern darin, daß aus einem Überfluß an Schätzen eine angemessene Auswahl zu treffen war.
H. P. Blavatsky - oder H. P. B. - kann nur richtig verstanden werden, wenn man sie als Träger einer Botschaft, als Sprachrohr jener erkennt, die weiser sind als sie. Sie sind Mitglieder einer Bruderschaft von Hütern und Beschützern der Menschheit, die die archaischen Wahrheiten über den Menschen, über seinen spirituellen Ursprung, über seine Bestimmung und seine enge Verbindung mit dem solaren Kosmos, dessen Abkömmling er ist, in ihrer Obhut halten. Es sind Wahrheiten, die periodisch mitgeteilt werden, wenn der Zyklus reif und der Ruf aus den Herzen der Menschen eindringlich genug ist, um einen weiteren großen Weisen oder Meister der Weisheit herbeizuziehen. Als Gehilfe ihrer Lehrer, die selbst Mahatmas hohen Rangs sind, bezeichnete man H. P. B. als den Sendboten für das kommende Zeitalter, das Wassermann-Zeitalter, das jetzt an Einfluß und Macht gewinnt.
Da sie absolut an den "einen unendlichen, unveränderlichen Geist der Liebe, Wahrheit und Weisheit im Universum als ein Licht für alle" glaubte, an dem die ganze menschliche Rasse teilhat, versicherte sie: "Wir sind Brüder", und deshalb sollten wir "in Liebe einander helfen und jeden gegen alle Unwahrheit oder Täuschung verteidigen - 'ohne Ansehen der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe.'" Das Herz und der Kern ihres Vorhabens und auch das der Gesellschaft, die sie von 1875 an bis zu ihrem Tod mit Leben erfüllte und weiterführte, war: Einen Kern von Männern und Frauen zu bilden, die für die endgültige Verwirklichung einer universalen Bruderschaft arbeiten würden. Die Verwirklichung dieses Ziels, nämlich die Bruderschaft so allumfassend zu machen, daß die Menschen überall beginnen würden, sich mit dem "Kleinsten des Kleinen und dem Größten des Großen" eins zu fühlen, verlangte ferner eine Philosophie, die den Angriffen der karmischen Rückschläge widerstehen würde. So wurde es ihre heilige Aufgabe, die alten Weisheitslehren vollständiger und zusammenhängender als sie bisher seit Jahrtausenden gegeben worden waren, auszusäen.
H. P. Blavatsky behauptete nicht, eine neue Religion, ein neues philosophisches System verkündet zu haben. Sie war nur Übermittler, wie sie es selbst nannte, aber sie kam aus der Reihe jener, die vorausgegangen waren. Sie war ein Übermittler von "ein paar fundamentalen Wahrheiten aus der Geheimlehre der archaischen Zeitalter" in moderner Sprache.
Aber was ist nun Theosophie wirklich? Das Wort ist griechischen Ursprungs, theos, 'Gott', und sophia, 'Weisheit', daher Gottes-Weisheit oder Weisheit, die göttliche Dinge betrifft. Als Fachausdruck hat dieses Wort eine ehrwürdige Geschichte. Frau Blavatsky und ihre Mitgründer wählten es, weil Gelehrte diese Bezeichnung mit jenen esoterischen Gruppen und Individuen in Verbindung brachten, die alle - angefangen bei den Gnostikern der vor- und nachchristlichen Zeiten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts - auf ihre eigene Art "Wärter der Flamme" waren. In Alexandria z. B. - so wird berichtet - gründete Ammonius Sakkas eine Schule der Theosophie, die das, was man später Neoplatonismus nannte, unmittelbar inspiriert hat, was Plotin zu verdanken ist, der die Instruktionen seines Lehrers niedergeschrieben hatte (3. Jahrhundert n. Chr.).
Später dann, vor und nach der Renaissance, gab es die Kabbalisten, die ursprünglichen Gemeinschaften der Rosenkreuzer, Freimaurer und Alchimisten, die als einzelne und in Geheimgesellschaften weiter nach dem spirituellen Lösungsmittel suchten, das das irdische Element des Menschen in das Gold der Sonnenessenz umwandeln würde. Der kurze Glanz ihrer Spur, die hier und da durch das hingebungsvolle Leben außerordentlicher Menschen an Zentren in ganz Europa und Großbritannien aufleuchtete, ist Zeugnis für den in der Stille wirkenden inneren Strom.
Dieser Strom theosophischen Bemühens mußte als Lehre und in der Praxis wegen des damaligen Zeitgeistes, der alles unterdrückte und hemmte, meist im "Untergrund" bleiben. Giordano Bruno und andere wurden gemartert, weil sie es gewagt hatten, öffentlich zu versichern, daß der Mensch und jede Kreatur die göttliche Potenz in sich tragen, "eine einfache Gottheit, die in allen Dingen ist ... offenbart sich in den verschiedensten Formen"; wieder andere, wie z. B. Kopernikus, wurden wegen ihrer fortschrittlichen Ideen über die Natur der Sonne und der Planeten, "daß die Erde sich dreht und das Firmament still steht",1 verfolgt.
Erst durch die Veröffentlichung des Werkes Die Geheimlehre, im Jahre 1888, wurde die Mysterien-Lehre über den Menschen, seine siebenfache Konstitution und ihre Beziehungen zu ähnlichen Beschaffenheiten im Sonnensystem im Westen bekannt. Allein diese Lehre, die im Bewußtsein eines immer größer werdenden Teils der denkenden Welt Wurzeln faßt, hat in den letzten Jahrzehnten dramatische Ergebnisse hervorgebracht: es wurde erkannt, daß nicht nur unser Körper eine Ansammlung von Lichtatomen ist, sondern daß auch unsere Gedanken und Emotionen sich gleicherweise in einer vielfarbigen Aura oder atmosphärischen Hülle aus Lichtteilchen zum Ausdruck bringen, was jetzt mit photographischen Mitteln dem bloßen Auge sichtbar gemacht wurde. Noch bedeutsamer ist jedoch, daß jede uns bekannte Lebensform - Mineral, Pflanze, Tier, organische und sogenannte anorganische Stoffe - gleicherweise als ein Brennpunkt des Lichts, als ein Kanal für ebendieselben elektromagnetischen Kräfte wahrnehmbar ist, die von der Sonne und von noch weiter her zu uns und durch uns fließen.
Mit der Übersetzung einiger hundert Stanzen aus dem Buch des Dzyan, einem alten, den Gelehrten völlig unbekannten Manuskript, führt uns H. P. Blavatsky jenseits von Zeit und Raum zu den Abgründen des Unbekannten zurück, als "Dunkelheit allein das grenzenlose All erfüllte" und das Universum "noch im göttlichen Denken verborgen war." In majestätischer Prosa verfolgte sie das "Wiedererwachen des Universums", der Sonnen und Planeten, der Erde, des Menschen und all der Reiche, die hinter ihm wandern. "Die Dunkelheit strahlt das Licht aus, und das Licht sendet einen einzelnen Strahl in die mütterliche Tiefe... Die Wurzel des Lebens war in jedem Tropfen des Ozeans der Unsterblichkeit enthalten, und der Ozean war strahlendes Licht, das Feuer, Wärme und Bewegung war" (Die Geheimlehre I, 55-58). Für sie gab es nicht ein Teilchen im Gefilde der Unendlichkeit, das nicht bewußtes, von Göttlichkeit bewegtes Leben war und als solches Teil des ungeheuren evolutionären Stroms, der alle Dinge zu immer größerer Entfaltung vorwärts treibt.
Manchen Menschen mag Theosophie als ein rein intellektuelles Gedankensystem, als eine Quelle schwieriger philosophischer Lehren erscheinen, die sich auf himmlische und irdische Bewegungen beziehen und diese erklären. In Wirklichkeit ist sie weit mehr als dies, denn durch das Entrollen oder die Emanation von Welten aus dem Grenzenlosen entfaltet sich ein Muster aktiver Göttlichkeit, das in Struktur und Funktion so vollkommen ist, daß es die hartnäckigsten Skeptiker dazu zwingt, eine göttliche Grundlage für das universale Sein, sozusagen einen leitenden Strom, vom höchsten Hierarchen bis zum letzten Atomteilchen anzuerkennen.
Überdies verlor H. P. B. ungeachtet ihrer großen und weitreichenden Perspektive nie die Realitäten der menschlichen Sorgen und Nöte aus den Augen. In all ihren Büchern, in ihren Briefen, in Bemerkungen, die sie spontan bei Versammlungen machte, sowie bei privaten Gesprächen mit Rat- und Hilfesuchenden kam ihre einzige leidenschaftliche Bitte zum Ausdruck, für die Linderung der Leiden der "armen, verwaisten Menschheit" zu arbeiten. Dabei versicherte sie den Menschen, daß sie unendliche Wachstumsmöglichkeiten haben, daß sie im Herzen göttlich sind, daß das Leben nicht mit dem Tode enden wird und die Wiedergeburt für die Seele so natürlich und unvermeidbar ist wie der Wiederaufstieg der Säfte in jedem Frühling. Karma und Reinkarnation - im Westen so lange vergessen - waren für sie Lehren voll unermeßlicher Hoffnung, denn sie lassen den Menschen wieder den Zweck der ununterbrochenen Fortdauer erkennen, sie geben dem Leben Sinn und Gerechtigkeit, das sonst bedeutungslos wäre.
Man kann sagen, es gibt so viele Interpretationen der Theosophie, wie es Menschen gibt, die nach Wahrheit suchen. Eine der ansprechendsten kam vor wenigen Monaten in einem Brief von einem jungen Nigerianer, dem ich im vergangenen Jahr in seinem Land begegnet war. Er schrieb:
Ich finde, die Theosophie ist so tief, wenn nicht tiefer als der tiefste Ozean; oder besser, sie ist für mich so weit und umfassend wie der Himmel. Ich bin nur ein Kind. Sie ist als Lehre für jeden zu tiefgründig, um bloß verstandesmäßig darüber nachzudenken, denn ihr Geist ist mächtiger als der menschliche Intellekt insgesamt. Ich begnüge mich damit, alles zu lernen und zu beherzigen, was ich im Augenblick davon in meinem Herzen aufnehmen kann, da sie wahrlich die Lehre des Herzens ist. Theosophie ist reichhaltig genug für alle. So fürchte ich nicht, von ihrem überfließenden Reichtum ausgeschlossen zu sein, der Welten zu befriedigen vermag und doch genug für noch ungeborene Welten zurückbehält. Mein Problem bin ich selbst - die Überwindung meiner selbst. ...
In diesen schlichten Worten gewahren wir die Poesie und Tiefe einer "Gottesweisheit", die allumfassend ist, tief wie das Meer und weit wie der Himmel, ausreichend für noch ungeborene Welten und dennoch jedes menschliche Herz umfassend. Als Jesus sagte, daß es nicht ein Haar auf unserem Haupt gäbe, das nicht vom Göttlichen gezählt würde, meinte er damit doch sicher, daß das Herz der Natur Mitleid, das höchste Gesetz des Seins, sei?
Wenn wir diese Ausgabe dem historischen Rückblick widmen, besteht jedoch nicht die Absicht, die Vergangenheit zu ehren, nur weil ein volles Jahrhundert seit der Geburt einer Bewegung vollendet wurde, die jetzt weltweit Verbreitung und Einfluß erlangt hat. Dennoch hält die Vergangenheit Lehren und Werte für die Gegenwart bereit, und wenn die Theosophische Gesellschaft tatsächlich ursprünglich "als der Eckstein der zukünftigen Religion(en) der Menschheit ausersehen" wurde, könnte die von Blavatsky und ihren Lehrern herausgegebenen schöpferischen Ideen, die das Gedankenklima unserer Welt schon innerhalb der kurzen Zeitspanne von hundert Jahren katalytisch beeinflußt haben, sich für kommende Jahrhunderte als lebensfähig erweisen. Ehre gebührt jenen, die es wagen, neue Pfade für andere abzustecken. In diesem Geiste entbieten wir diese Sonderausgabe als Gruß an eine große Seele - H. P. Blavatsky - in dankbarer Anerkennung für die kosmische Vision, die sie einer Welt wiedergab, die sie dringend benötigte.
Fußnoten
1. Giordano Bruno and The Hermetic Tradition von Frances A. Yates, Seite 213 und 208. [back]