Theosophische Perspektiven
- Sunrise 2/1975
In den vergangenen Jahren haben wir von Lesern aus den verschiedensten Teilen der Welt Fragen über Theosophie und deren grundlegende Begriffe erhalten, die bisher individuell behandelt wurden. Da jedoch die meisten der erörterten Themen allgemein interessieren dürften, wollen wir einige der Fragen künftig im Sunrise bringen. Fragen und auch Kommentare über alle Aspekte der Theosophie und ihren Einfluß auf die Erfahrungen des menschlichen Lebens sind immer willkommen.
Ein Student an einer der Hochschulen im Osten der Vereinigten Staaten schreibt, er habe mehr Fragen als Zeit zu fragen, und diese beträfen vor allem sein Studium über Platon. Wahrscheinlich gibt es keinen Dialog, der bei Professoren und Studenten wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung mehr ernsthafte Diskussion entfacht als Der Staat. Wir zitieren Teile des Briefes:
Wie groß ist die Ähnlichkeit zwischen der Ideenlehre Platons in Der Staat und den Lehren Helena Blavatskys? Soweit ich verstehe, sieht Platon in der 'Welt der Ideen' den Ort, wo Seelen an Weisheit zunehmen, wo die Vollkommenheit aller irdischen Ziele und Systeme zu finden ist, d. h. vollkommene Wahrheit, Regierung, Menschen. Dann erwähnt er verschiedene Seelentypen: Gold (Au), Silber (Ag) und Blei (Pb); Gold war am längsten in den höheren Welten, Blei am kürzesten. Doch, beim Abstieg der Seele in die physische Welt, wird sie von Unwissenheit umhüllt, wobei bestimmte Eigenschaften der vollkommenen Welt gelegentlich zurückgezogen werden.
Meine Fragen lauten: Ist es überhaupt wahrscheinlich, daß Platon sich auf die mentale Welt bezog, in die die Seele vor ihrer Rückkehr zur Erde eintritt? Mir scheint, daß, mit der zunehmenden Zahl von Inkarnationen und durch längere Aufenthalte in den höheren Welten, die Weisheit und die Entwicklung zunehmen sollten; daher erscheint die Idee von der Gold-Seele annehmbar. Da der Funke aus der Evolution von oben sich entfaltet, würde dann ein Mensch in dem Maße, wie er sich in Einklang mit den höheren Ebenen bringt, nicht fast wörtlich einen 'Himmel auf Erden' schaffen? Das alles setzt voraus, daß sich Platon dabei auf die Reinkarnation bezog und nicht die Herrschaft der Aristokratie damit begründen wollte. Immerhin scheinen Platons Ideen sehr in die Richtung zu gehen, die ich als wahr ansehe.
Gewiß hat Platons Ideenlehre, und besonders seine Idee über das Gute, nicht nur in der Theosophie, sondern in jeder großen religiösen Philosophie deutliche Parallelen. Wird nicht in allen das Göttliche, die göttliche Macht, Brahman oder Jenes, - ganz gleich, wie das Unendliche oder Höchste genannt wird - als die ursprüngliche Quelle des Seins bezeichnet? Vielleicht erinnern Sie sich, wie Timaios sorgfältig unterscheidet zwischen dem "immer Seienden, welches kein Werden zuläßt" und dem "immer Werdenden, welches niemals zum Sein gelangt" und hinzufügt: "Den Schöpfer und Vater dieses Alls nun zu finden, ist freilich schwierig, und wenn man ihn gefunden hat, ist es unmöglich, sich für alle verständlich über ihn auszusprechen" (28 A - 29 A).
Dies ist ein umfangreiches Forschungsgebiet; es sieht so aus, als ob Platon den Vorstellungen seiner Vorgänger lediglich eine andere Richtung, eine neue Interpretation gegeben hat. Heraklit und andere griechische Philosophen des 6. bis 5. Jh. v. Chr. hatten als die ursprüngliche Quelle von allem die geistige Ursubstanz angesehen, die dem Feuer verwandt ist - nicht dem irdischen Feuer, sondern seinem subtilen Ausgangspunkt. Mit anderen Worten, Platons Idee über das Gute läßt an ein göttliches Modell oder an ein Urbild denken, aus dem alles hervorgeht und zu dem alles Gewordene wieder zurückkehren muß.
Es besteht kaum ein Zweifel, daß Platon die Wiedergeburt der Seele lehrte, denn er spricht in verschiedenen seiner Dialoge davon, daß sie eine unsterbliche Essenz besitzt, die unzerstörbar und dauernd ist, "denn so stark sei sie von Natur, daß sie dieses" (das Geborenwerden und wieder Sterben) "gar vielmal aushalten könne" (Phaidon 87 E - 88 D); und einige Seiten vorher läßt er Sokrates ausführlich mit Simmias diskutieren über das Vorhandensein "einer absoluten Essenz aller Dinge", einer Essenz des Schönen und Guten, und daß der Mensch eine innewohnende Erkenntnis von dieser "Essenz" hat, von diesen "Ideen", die wir schon vor der Geburt des Menschen empfangen haben, so daß wir "in ihrem Besitz geboren worden sind." Kurz, echtes Lernen und der Erwerb von Wissen über das Wirkliche ist Wiedererinnerung an unsere innewohnende Weisheit, die in Urzeiten, wie ein Siegel in weiches Wachs, in den Grund unseres Wesens eingeprägt wurde - eine Weisheit, die uns nach Belieben zur Verfügung steht, sobald wir entschlossen sind, lieber den edleren Weg als den geringeren zu gehen (s. Menon).
In der theosophischen Literatur wurde viel über diese Themen geschrieben, besonders über diese 'innewohnenden (nicht durch Erfahrung erworbenen) Ideen' oder heiligen Wahrheiten, die in die Seelensubstanz der ersten Menschen an ihrem rassischen Beginn eingepflanzt wurden; sie wurden von dem Planetengeist oder 'Lenker' mit solcher Kraft eingeprägt, daß sie in den zukünftigen Zyklen nie ganz in Vergessenheit geraten können. Platon gibt lediglich als Echo die gleiche "unerschöpfliche Lehre" wieder, von der Krishna zu Arjuna sprach (Bhagavad-Gîtâ, Kap. IV), die, wie er sagte, über eine lange Reihe ihm vorausgegangener Rishis und Weiser direkt von der Sonne selbst empfangen wurde. Die Überlieferung, daß eine archaische Weisheitslehre den Menschen von den Göttern mitgeteilt wurde (ob von solaren oder planetarischen, ist unwichtig), ist weitverbreitet. Jeder Heiland oder Avatâra, ja, jeder Weise, Philosoph oder 'Liebhaber der Wahrheit', wie etwa Platon, hat aus der gleichen Quelle geschöpft. Sie haben die gleichen Grundtöne angeschlagen, für den gleichen Zweck: Die Menschen müssen sich in ihrem jeweiligen Jahrhundert und in ihrem speziellen Land erneut ihrer göttlichen Berufung bewußt werden und sich durch höhergeistiges Streben und Wollen wieder an das Wissen erinnern, das ihnen kraft ihrer Abstammung gehört. Immer wieder sieht es aber so aus, als ob die lebendige Botschaft vergessen sei, begraben unter dem Elend und der Verderbnis irdischer Verstrickungen. Wie können wir uns aber aus dem selbstgesponnenen Netz befreien?
Es ist offensichtlich, daß die Reinigung und die Wiedereinordnung der Seele nach oben oder innen weder in einem kurzen Erdenleben, noch in ein paar Inkarnationen vollzogen werden können. Die Neuordnung der Ströme des eigenen Wesens auf die Sonne im Innern, die Läuterung des 'Goldes' des Charakters im Schmelztiegel der Prüfungen sind das Ergebnis von Zeitaltern.
Sie nehmen Bezug auf Der Staat, Buch III (415 A), wo Platon von den Seelen spricht, denen "Gold beigemischt" sei und die deshalb "vorzüglichen Wert" hätten; anderen Seelen sei Silber beigemischt, diese dienten der ersten Klasse als Helfer; wieder andere Seelen seien mit Eisen und Erz gebildet. Das Ganze erinnert an die vier (oder fünf, wenn man das Geschlecht der 'Heroen' mitzählt, das unserem vorausging) großen Menschengeschlechter des Hesiod, das goldene, silberne, bronzene und eiserne, deren jedes an Geistigkeit abnahm bis zum gegenwärtigen Geschlecht oder Zeitalter, in dem das Materielle vorherrscht.
Es ist interessant, daß die indischen Purânas die gleiche absteigende Reihenfolge von Zeitaltern und Geschlechtern überliefern, vom Krita- oder Satya-Yuga, dem Zeitalter der Reinheit oder Wahrheit, in dem die Generationen von Wesen keine Kasten kannten und zu vier Vierteln spirituell waren; und so weiter, hinab bis zum Kali- oder 'schwarzen' Yuga, unserem eisernen Zeitalter, das eine Menschenrasse hervorbrachte, in der kaum ein Viertel Wahrheit erkannt wird. Es ist immer die gleiche Abstiegsfolge: 4, 3, 2, 1. Die Kabbalisten haben ebenfalls eine vergleichbare Reihe absteigender Welten oder Olâmîm, deren niedrigste unser irdisches Reich ist.
Sie verstehen sicherlich, daß Platons verschiedene Seelentypen lediglich eine farbige Darstellung sind, ein weiteres Beispiel, wie er die universale Symbolsprache anwendet. Gold bezeichnet praktisch in allen mystischen Lehren der Welt die Sonne, den Sonnenfunken oder den solaren Kern im Menschen; Silber steht für den Mond, die Psyche oder menschliche Seele, dual im Wesen: ihre höheren Energien sind sonnenwärts gerichtet, hin zum Nous, dem inneren Wisser, und ihre niederen Energien sind zur Erde gerichtet, dem Sterblichen, das mit dem Körper vergeht. Eisen und Blei stehen für die niederen Elemente, die transmutiert werden müssen. Ich möchte hinzufügen, daß die Alchimie ehemals eine heilige Kunst war, die nur von jenen ausgeübt wurde, die sich ernsthaft entschlossen hatten, das niedere Metall ihres Wesens in das Gold erleuchteter Individualität umzuwandeln; die tatsächliche physikalische Arbeit mit dem Ziel einer Transformation gewisser Elemente war großenteils nur der äußere Rahmen oder zumindest zweitrangig gegenüber der Extraktion des 'inwendigen Goldes' aus dem Schmelztiegel der Seele.
Es ist bedeutsam, daß Platon an verschiedenen Stellen in Der Staat einen Unterschied macht zwischen dem "göttlichen Metall", dem 'Gold', das in jedem ist, da "alle aus dem gleichen ursprünglichen Stamm" sind, und dem "gewöhnlichen Metall", dem Gold der Erde, "weil viel Sündhaftes damit geschehen ist" (III, 417 A).
Wenn wir an die Zeit denken, in der Platon geschrieben hat, - Athen war erobert worden (404 v. Chr.) und der kurz danach erfolgte Tod des Sokrates war noch in frischer Erinnerung - dann können wir ermessen, wie intensiv er nach den grundlegenden Prinzipien suchte. Es war ihm nur zu klar, daß die Niederlage Athens hauptsächlich von innen her erfolgte und erst in zweiter Linie von außen. Wo war die Erziehung der Jugend Athens in die falsche Richtung gegangen? Paideia - dieses schöne griechische Wort für die Pflege der Seele von Jugend an - hatte ihren Glanz verloren. Er versuchte deshalb, die Erziehung durch die Errichtung eines Systems wiederherzustellen, mit dem die Jugend von Kind an mit den edelsten Idealen der Ehre und Gerechtigkeit und in geistiger und körperlicher Zucht und Genügsamkeit aufwachsen sollte, damit wir "also wirkliche Wächter machen" und "am wenigsten solche, die dem Staate Schaden bringen" (IV, 421 B). In seiner idealen Regierung ist der wirkliche Wächter derjenige, der "die Herrschaft über sich selbst gewonnen und sich in Ordnung gebracht hat und sein eigener Freund geworden ist" (IV, 443 D), und der daher sowohl bei seinen privaten, wie auch bei den öffentlichen Verpflichtungen weise und im Interesse aller handeln wird, die ihm anvertraut sind.
Ich möchte Professor Werner Jaeger1 zustimmen, daß "das höchste Interesse in Platons Staat der menschlichen Seele gilt", und daß alles andere, über das er spricht, wie z. B. die verschiedenen "politischen Systeme" und Regierungsformen, von ihm lediglich verwendet wird, "um ein 'erweitertes Bild' von der Seele und ihrer Struktur" zu geben. Es war die Paideia, die Erziehung der Seele, der sein brennendes Interesse galt.
Außerdem gebraucht Platon das Wort Seele in einem viel umfassenderen Sinn als es heute üblich ist; er gibt ihr einen Rang, der fast dem spirituellen oder göttlichen Selbst im Menschen entspricht. Andererseits erkannte er auch, daß die menschliche Konstitution in Qualität und Funktion vielfältig ist. Es gibt "vier Abschnitte des Seins in der menschlichen Seele" (Staat, VI, 511 E), wobei diese in der Rangordnung von noêsis, der höchsten Vernunfteinsicht, ausgehen. In mehr als nur einem Dialog kommt seine Vorstellung zum Ausdruck, daß die Seele sich wiederholt auf der Erde verkörpert und deshalb ihre Flügel periodisch verliert, und daß sie schließlich, durch eigenes Wollen befreit, in ihren eigenen wirklichen Wesenskern zurückkehrt und sich mit ihm verbindet (s. besonders Phaidros). Auch dieses ist eine enge Parallele zu der theosophischen Anschauung über die evolutionäre Pilgerreise des Menschen, der in erster Linie als eine Monade oder als ein Gottesfunke gesehen wird, der auf dem materiellen Bogen durch eine Reihe von Abstufungen hinuntersteigt, bis der niedrigste Punkt erreicht ist, worauf er, nach Durchlaufen des Bogens, den Wiederaufstieg beginnt, jetzt aber mit dem Licht des erweckten Selbstbewußtseins und des freien Willens, die ihn auf dem geistigen Bogen empordrängen, damit er die Flügel seiner Unsterblichkeit wieder erlangen und ein wissender Gott unter Göttern werden kann.
Es gibt zahlreiche Hinweise in den Dialogen, einschließlich dem Siebenten Brief, die uns daran erinnern, daß Platon in die Mysterien eingeweiht war und einen größeren Einblick in die kosmischen Wirklichkeiten empfangen hat, als es sonst möglich gewesen wäre. Notwendigerweise war er aufgrund der strikten Regeln verpflichtet, viel von seinem Wissen zu verschleiern und in Form von Mythen und Legenden wiederzugeben. Manchmal mag es schwer fallen, genau zu erkennen, was dichterische Phantasie und was ein echter Mythos oder ein Mysteriensymbol ist, das eine tiefe Wahrheit einschließt. Allein in Der Staat finden wir die Parabel von der Höhle (Buch VII) und die Vision des Er (Buch X), die eingehend an die unsterbliche Kraft innerhalb der Seele erinnern, den Prüfungen standzuhalten und die innewohnende größere Schönheit des universalen Gedankens zu erfassen.
So dunkel seine Bilder auch manchmal sein mögen, und anscheinend von den Wirren der Zeit weit entfernt, so kann uns Platon doch vieles lehren. Wenn man liest, welche Vorstellung er von der idealen Regierung, dem idealen Menschen hat, und wie der ideale Wächter oder Herrscher über andere Menschen aussehen sollte, dann erkennt man, daß die einfachen, alten Tugenden der Mäßigkeit, Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Selbstdisziplin - und Aufrichtigkeit - wohlangemessen sind. Zweifellos, weil sie sich - wie Gold - im Feuer der täglichen Prüfungen bewähren.
In der deutschen Übersetzung wurde den Zitaten aus Platon, Platons Sämtliche Werke, erschienen im Verlag Lambert Schneider, zugrunde gelegt. Ausgabe in drei Bänden. Die den Zitaten folgenden Stellenbezeichnungen entsprechen der deutschen Ausgabe.
Fußnoten
1. S. Bd. II, Seite 199, Paideia: the Ideals of Greek Culture, in drei Bänden, aus dem Deutschen ins Englische übersetzt von Gilbert Highet, 1943. Titel der Originalausgabe: Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 3. Auflage, 1959 bei W. de Gruyter, Berlin, 3 Bände. [back]