Fehlende Seiten in der Geschichte des Mittelalters, 2. Teil
- Sunrise 1/1975
Seltsam, wie vom Schicksal bestimmt, war die Rolle der Sabäer bei der Übermittlung der griechischen Kultur in die westliche Welt. Bevor der Islam mächtig geworden war, gab es in der Stadt Harran, im nördlichen Mesopotamien, eine syrische Bruderschaft, die sich jahrhundertelang geweigert hatte, sich der christlichen Herrschaft zu unterwerfen. Trotz wiederkehrender Verfolgungen hielten die Mitglieder unbeirrbar an ihrer religiösen Philosophie fest, die hermetische, mithraische und neuplatonische Lehren vereinigte. Doch als der Kalif von Bagdad im Jahre 830 mit einem starken militärischen Kommando in Harran haltmachte, um gegen die byzantinischen Ketzer vorzugehen, war ihre Existenz wirklich bedroht.
Der Kalif al-Ma'mûm war gewohnt, daß man über sein Erscheinen nicht erfreut war und staunte deshalb, daß er so gastfreundlich aufgenommen wurde. Verwundert fragte er sich, wer diese furchtlosen und offensichtlich doch gelehrten Ungläubigen waren? "Seid Ihr Moslems?", fragte er sie, "Christen oder Anhänger Zoroasters? Habt Ihr ein heiliges Buch oder einen vom Koran anerkannten Propheten?"
Obwohl sie die ihnen drohende Gefahr erkannten, antworteten diese 'Ungläubigen' mit der ihnen eigenen Ehrlichkeit einfach: "Nein."
Über solchen Mut war al-Ma'mûm erstaunt. Überraschend schob er ihre Exekution auf und 'empfahl' ihnen, bis zu seiner Rückkehr Moslems - oder Christen - zu werden.1
Diese Bedrohung veranlaßte manche Harraner, wenigstens nach außen hin, zum Glaubenswechsel. Andere, die sich weigerten, ihres Glaubens wegen einen Kompromiß zu schließen, flohen nach Bagdad, denn sie hatten gehört, daß Nichtmoslems dort unter dem Schutz des Staates standen, wenn sie eine persönliche Sicherheitssteuer bezahlten. Waren nicht ihre persischen Nachbarn von Jundishapûr vor kurzem dorthin ausgewandert und hatte man sie nicht bereits damit beschäftigt, ihre alten medizinischen und astronomischen Kenntnisse ins Arabische zu übersetzen?
Als die heidnischen Harraner jedoch in Bagdad ankamen, erhob sich abermals die Frage nach ihrer Religion, und sie wurden nur gerettet, weil sie dem Rat eines klugen Rechtskundigen folgten: "Nennt Euch Sabäer - der Koran erwähnt diesen alten römischen Kult, wenn er auch jetzt nicht mehr existiert."
So kam es, daß die 'gelehrten Ungläubigen' aus Harran in einer mohammedanischen Stadt offiziell anerkannt wurden. Es dauerte nicht lange, bis ihre Kenntnis der griechischen Wissenschaft und Kultur die ortsansässige Intelligenz so beeindruckte, daß man sie nicht nur im Haus der Weisheit willkommen hieß und einlud, dort Vorträge zu halten und ihre Schriften zu veröffentlichen, sondern sie auch ermutigte, ihre eigene Schule für heidnischen Neuplatonismus zu gründen! Das Ergebnis war eine Akademie, die den griechischen Mysterienschulen gleichkam, die Justinian 350 Jahre zuvor geschlossen hatte, und die erheblich dazu beitrug, die arabische Gelehrsamkeit in den folgenden Jahrhunderten zu fördern.
Die Drusen - ein anderer Bruderorden - haben ebenfalls eine alte und tiefgründige mystische Tradition. Auch sie überlebten die Jahrhunderte, in denen sie von Außenstehenden als Ungläubige, Diebe und Götzendiener verleumdet wurden, weil es nicht gelang, ihre heilige Überlieferung zu deuten.
Ihre Mitglieder, ob sie nun in den syrischen oder libanesischen Dörfern am Jabalu'd-Duruz (Drusenberg), in kleinen Walddörfern in Abessinien, in Ägypten, Arabien, Israel, Indien oder in den Vereinigten Staaten lebten, wurden allgemein als Mitglieder der Ismailitischen Sekte der mohammedanischen Schiiten betrachtet, obgleich sie selbst es vorzogen, Jünger von Hamza genannt zu werden. Hamza war ein Messias des 11. Jahrhunderts. Doch was auch immer die Bezeichnung, die 'uqqal', jener in die tieferen Mysterien Eingeweihten, bedeutete, sie waren und sind sowohl durch ihr ruhiges, würdevolles Benehmen zu erkennen, als auch an der Ablehnung weltlicher Zerstreuungen, an ihren schwarzen Roben und weißen Turbanen und an den Schleiern und den roten Pantoffeln, die ihre Frauen tragen. Sie meiden jedes Aufsehen, passen sich den örtlichen religiösen Dogmen an, versuchen niemanden zu bekehren und enthüllen niemals ihre inneren Lehren, die nur ihren würdigen und eingeweihten Mitgliedern offenbart werden.
Jener Teil ihrer exoterischen Lehren, der bekannt geworden ist, enthält strenge moralische Vorschriften und auch bestimmte Grundsätze, die bei Zoroaster, im Judaismus, Gnostizismus, Christentum und im Islam zu finden sind. Sie glauben an einen unbegreifbaren und unsagbar erhabenen Gott, der den Menschen durch eine Reihe von Inkarnationen zu bestimmten Zeiten der Weltgeschichte bekannt wird - Jesus war eine dieser göttlichen Inkarnationen, Mohammed jedoch nicht. Sie glauben, daß diese Welt ein 'Spiegel' der Göttlichen Intelligenz ist und daß es die Bestimmung des Menschen (der begrenzten Gesamtsumme von Seelen) sei, durch den für jede Seele sich ständig wiederholenden Vorgang der Wiederverkörperung Vollkommenheit zu erlangen. Ein Aufstieg, der durch richtige Übung und Lenkung des menschlichen Willens beschleunigt werden kann - aber niemals durch zudringliches Flehen oder Bittgebete!
Aber auch eine andere interessante Gesellschaft, die Assassinen, wurde allgemein gebrandmarkt und in Geschichten abfällig beurteilt, die zurückgekehrte Kreuzfahrer und Marco Polo erzählten. Das gleiche tat auch Dante, der alle Mitglieder dieses ägyptischen Zweiges der Ismailiten als 'Assassinen' brandmarkte und sagte, daß sie Haschisch nehmen, um ekstatische Visionen vom Garten des Paradieses hervorzurufen oder um sich für die fanatischen Morde an Ungläubigen aufzuputschen.
Solche Beschuldigungen waren ohne Zweifel gegen die Sekten der fanatischen Assassinen gerichtet, wie die Gruppe Hasan Ben Sabbâh, die zu heimtückischen Überfällen auf die Seldschukentürken und Kreuzfahrer aufriefen. Dabei handelt es sich um den berüchtigten Hasan, dessen Name in Verbindung mit Omar Khayyâm (gestorben 1123?) genannt wird. Als Schulknaben waren sie enge Freunde, aber später trennten sich ihre Wege. Omar wurde der gelehrte und hervorragende Mathematiker, Astronom und Dichter, dessen schönes und faszinierendes Rubâiyât die Tiefe der assassinischen Metaphysik widerspiegelt, die nur für die 'Außenseiter' dunkel und geheimnisvoll bleibt, denen das esoterische Verständnis für ihre Allegorien fehlt.
Es gibt jedoch genug Beweismaterial, das andeutet, daß die Assassinen höheren Grades während der ganzen Zeit, von der Außenwelt abgeschieden, nach den festgelegten Prinzipien studierten und lebten, die im 9. Jahrhundert von ihrem ersten Großmeister, dem Mahdi 'Abdullah, zum Teil aus alexandrinischen oder neuägyptischen Riten aufgestellt worden waren. Als die Mongolen schließlich im Jahre 1256 ihre Felsenburg Alamût einnahmen, fanden sie weder eine bewaffnete Festung, noch irgendwelche Pläne für politische Intrigen. Die eindrucksvolle Burg, die umfassende Bibliothek, die Laboratorien und das Observatorium hatten ausschließlich zum Studium hellenischer Wissenschaft und Philosophie, babylonischer, ägyptischer und persischer Überlieferungen und der Offenbarungen des islamischen Propheten gedient; denn, im Gegensatz zu den dogmatischen Moslems, betrachteten diese Ismailiten die Propheten als die Quelle der lebendigen Wahrheiten und stellten sie über den geschriebenen Koran.
Diese Gemeinschaft auf dem Berggipfel, die wegen ihrer 'Adlerlehre' Alamût genannt wurde, war das Hauptquartier für ein Netz von Zentren, das über ganz Syrien und Zentralasien verbreitet war, und das Heim ihrer erhabenen Meister, die ein Schulungsprogramm überwachten, das demjenigen der Freimaurer ähnlich war. Die Schlüssel zu den okkulten Bedeutungen der Zahlen wurden nur fortgeschrittenen Schülern anvertraut, die neun Schulungsgrade durchlaufen hatten und deren Vertrauenswürdigkeit und Ergebenheit unzweifelhaft waren. Diese Schlüssel dienten zum Verständnis der Welt der Täuschung, einschließlich Himmel und Hölle sowie der esoterischen Auslegung des Koran und anderer religiös-philosophischer Schriften.
Nachdem die Mongolen Alamût besetzt und ein Blutbad angerichtet hatten, flohen einige Überlebende nach Syrien, wo sie in der Einsamkeit Zuflucht suchten und ihre wertvollen Lehren bewahrten. Im Verlauf der Jahre zerstreuten sich ihre Mitglieder bis nach Persien, Zentralasien, Indien und Pakistan; alle waren Untertanen Aga Khans, dem direkten Nachkommen Mohammeds über dessen Tochter und Cousine Fatima und den Kalifen Ali; denn er, wie jeder nachfolgende Alte Mann auf dem Berg, gibt die 'Flamme der lebendigen Wahrheit' an seine Nachfolger weiter.
Die Allegorie des Paradieses, wie es sich die Assassinen ausmalten, unterscheidet sich nur wenig vom biblischen Garten Eden oder von den persischen Gärten, in denen zauberhafte Blumenbeete, Bäume und Teiche mit Wasserlilien künstlich angelegt sind, um die sieben Stufen des Paradieses anzudeuten. Oder vom Garten der Wonne aus dem Talmud, in den vier Jünglinge eintraten: Ben Asai, der, als er ihn anschaute, sein Augenlicht verlor; Ben Zoma, der dabei seinen Verstand verlor; Acher, der verwirrt floh; und Akiba, der den Garten in Frieden betreten hatte und ihn in Frieden und ruhmreich wieder verließ.
Es ist sehr gut möglich, daß diese Gärten die Blüte oder Frucht der spirituellen Wahrheit symbolisieren. Wahrheiten, die so tief sind, daß sie die moralisch schwachen oder selbstsüchtigen Menschen verwirren, verführen und sogar vernichten. Doch wer sich einer strengen Disziplin unterwirft und um die Wohlfahrt der Menschen besorgt ist, dem eröffnen sich Bereiche des Wissens und der Inspiration.
Eine hochinteressante Gesellschaft sind die Ikhwân al-Safâ, - die Bruderschaft, Brüder oder Philosophen der Reinheit - die tatsächlich Vorübergehende einladen, ihren prachtvollen Garten zu besuchen. "Komm, tritt ein und erfreue Dich an seltenen und lieblichen Blumen, ruhe unter stattlichen Bäumen, genieße die süßeste Frucht und trinke erfrischendes Wasser aus der Quelle." Wenn dann jemand skeptisch oder erstaunt stehen blieb, bot der 'weise und großmütige Besitzer' Proben vom Reichtum des Gartens an, um das Verlangen zu wecken und diesen Menschen zu veranlassen, einzutreten und an der reichhaltigen und zufriedenstellenden Schenkung teilzuhaben, die jene erwartet, die ein spirituelles Leben führen.
Sie gaben Proben, aber was für 'Proben' waren das! Keine Früchte oder Blumen, sondern ausgewählte kurze literarische Abhandlungen aus dem Rasâ'il oder den Episteln der Bruderschaft - eine gelehrte und umfangreiche Zusammenfassung wissenschaftlicher, philosophischer und metaphysischer Unterweisungen, aus der Ernte vergangener und zeitgenössischer Kulturen gesammelt. Daß dieses Werk im letzten Viertel des 10. Jahrhunderts herausgegeben werden konnte, als andere theologische Sekten ihr unbestrittenes Monopol auf den Besitz der Wahrheit proklamierten, war an sich erstaunlich. Damit überbrückte die Bruderschaft der Reinheit die durch die Verschiedenartigkeit der Menschen verursachte Isolierung und zeigte auf, daß die Wahrheit nicht durch Zufälligkeiten der Rasse, der Zeitepoche oder Wohngebiete unterteilt werden kann, sondern daß die vielen Religionsformen nur verschiedene Methoden oder Grade der höhergeistigen Erleuchtung sind.
Die Mitglieder dieser Bruderschaft legten das Blendwerk der Riten und Dogmen ab und verpflichteten sich:
... nicht unwissenschaftlich zu sein, keine Bücher zu schmähen und nicht fanatisch an einem besonderen Glaubensbekenntnis zu hängen; denn (ihr) eigener Glaube umfaßt alle anderen und schließt generell alle Wissenschaften ein. Dieser Glaube umfaßt alle existierenden Dinge, sowohl sinnlich wahrnehmbare als auch dem Verstand zugängliche, von Anfang bis zum Ende, verborgen oder offenkundig, klar oder unverständlich..., da sie alle von einem einzigen Prinzip, einer einzigen Ursache, einer einzigen Welt und einer einzigen Seele stammen.
- Ikhwân al-Safâ, Rasâ'il, IV, 52
Zu diesem Zweck bemühten sie sich mit gewissenhafter Sorgfalt, komplizierte wissenschaftliche Lehren verständlich zu machen und dennoch die ursprüngliche Unverletzlichkeit okkulter und mystischer Erkenntnisse zu bewahren - zu beschützen, ohne zu enthüllen. Wissen, das die eingeweihten Mitglieder der eigenen wie auch anderer esoterischer Bruderschaften durch 'visuelles Wahrnehmen' erlangt hatten, als sie in das 'Himmelreich' aufstiegen und von den Engeln belehrt wurden.
Somit findet man in ihren 52 Episteln dieselben umfangreichen Themen verzeichnet oder Hinweise hierüber, wie sie von den Sufis, den Sabäern, Drusen, Assassinen und anderen Bruderorden jener Zeit studiert wurden. Es waren in der Tat die gleichen Dinge, über die in den Hainen und den Vorhöfen der Tempel von Athen und Alexandrien nachgedacht und diskutiert worden war.
Aber die Zeiten hatten sich seit jenen goldenen Tagen Griechenlands geändert. Die Bruderschaft konnte ihr großartiges Werk nur in geheimen Zusammenkünften vollenden. Sie hatte damit eine Aufgabe übernommen, die große Bedeutung erlangen sollte: Die lebendigen Samen der Zivilisation mußten gleichsam verpflanzt und gepflegt werden; und dann, wenn ihre eigenen charakteristischen Merkmale hinzugefügt waren, wurden sie in die entfernten Gebiete des islamischen Reiches hinausgesandt, wo sie von späteren Generationen in "Moderne Zeiten" übertragen wurden.
Die Bibliothek, die die Episteln in einer der verschiedenen übersetzten und gekürzten Ausgaben beherbergt, kann sich glücklich schätzen2, denn darin können wir jene kostbaren Dinge 'aussuchen', die für alle da sind, die nach Wahrheit suchen.
In den Episteln über Astronomie finden wir zum Beispiel Erklärungen von hermetischen und platonischen Lehren über sichtbare und unsichtbare Welten innerhalb von Welten; über unsere sieben Planeten - "runde, konkave und durchsichtige Körper", die wie die Schalen einer Zwiebel umeinanderherum angeordnet sind - und darüber, wie die Sonne der Mittelpunkt einer sich bewegenden Planetenfamilie ist - eine Idee, die der Grieche Aristarchus etwa dreizehn Jahrhunderte früher zum Ausdruck gebracht hatte.
... die Sonne ist für den Himmel das, was der König für sein Reich ist, und die Planeten sind für die Sonne das, was die Soldaten, die Verbündeten und die Untertanen im allgemeinen für den König sind; und die Himmelskörper sind wie Machtbereiche; und die Konstellationen wie Länder; und die Gradeinteilungen und Minuten wie Städte; und die göttliche Weisheit hatte angeordnet, daß ihr Platz im Zentrum des Universums sein sollte.
- Rasâ'il, II, 30
Ein anderer Abschnitt beschreibt die Erschaffung der Welten und die Entfaltung des Lebens in allen Einzelheiten, was Darwin stark beeindrucken würde. Es wird beschrieben, wie sich die Manifestation entfaltet, Lage um Lage oder in schichtenförmigen Stufen, bis hinab zum Mineralreich. In diesem niedersten Reich leben die am höchsten entwickelten Mineralwesen in der obersten Schicht und vermischen sich, nicht wahrnehmbar, mit dem nächsthöheren oder dem Pflanzenreich. Genauso kommt auch das Pflanzenreich auf seiner höchsten Stufe mit dem Tierreich in Berührung, dessen Höhepunkt wiederum der Mensch ist. Die am höchsten entwickelten Menschen haben mit höheren Sphären Kontakt, und da sie die Stufe zwischen engelhaften und tierischen Wesen einnehmen, dienen sie auf Erden als Vizeregenten Gottes.
In diesen Episteln kann man immer wieder stoische und hermetische Epigramme finden: Der Mensch ist der Mikrokosmos, das verkleinerte Ebenbild des unendlichen Universums; seine physischen Anlagen und Organe stimmen mit jenen der himmlischen Sphären überein; Analogien, die zeigen, daß es nur ein Gesetz gibt, das sowohl in der Struktur der Erde und ihren meteorologischen Erscheinungen als auch im physischen Körper der Menschen Gültigkeit hat.
Deshalb sahen sie auch im Wachstum eines Kindes, angefangen vom embryonalen Zustand bis zum reifen Alter die Widerspiegelung der spirituellen Entwicklung der Seele; wobei deren Geburt eine Offenbarung und den wirklichen Beginn einer höheren Berufung darstellt; die Kindheit bedeutet Erlangung von Selbstbeherrschung, und mit zunehmender Reife werden die Manifestationen der objektiven und subjektiven Welt begriffen, wonach schließlich die Erkenntnis des Göttlichen kommt. Solche Reife - so lehrten die Brüder - erlangt man jedoch nur durch Studium und Beherrschung der mathematischen Wissenschaften, einschließlich Astronomie, Musik, Geographie, Logik, der Künste und des Handwerks. Dadurch gewinnt man Kenntnis der Gesetze, die sowohl die äußere Welt als auch die moralisch-intellektuelle Umgebung der inneren Welten regieren.
Wird diese Auffassung auf die Probleme des Alltagslebens übertragen und im Alltag angewendet, so ist unser Fortschritt vom hinterweltlichen Denken zum Erkennen unseres wahren, universalen Selbstes gesichert, denn "wer sich selbst am besten erkennt, erkennt auch seinen Schöpfer besser" (Rasâ'il, I, 76).
Für die Bruderschaft gab es jedoch kein schnelles Wachstum; allmählich gehe es vor sich, betonten sie. Leben auf Leben, in der Begrenzung des Körpers, muß der Mensch sein Selbst von Gedanken und Wünschen reinigen, die sein Bewußtsein blenden. Am meisten geblendet wird er von den weltlichen und oft irrigen Interpretationen des Lebens und der heiligen Schriften. So heißt es zum Beispiel in der christlichen Lehre, Gott sei von den Juden getötet worden; oder die Juden sagen, ER sei ein eifersüchtiger und zorniger Gott; und bei den Moslems steht: Er wird am Tage des Jüngsten Gerichts seinen Engeln befehlen, die Sünder und die Ungläubigen in ein 'Höllenfeuer' zu werfen, in dem sie ewig brennen sollen.
Dem Schüler wurde der Rat erteilt, hinter den äußeren Erscheinungen die umfassenderen Aspekte zu suchen, die zur Einheit führen und sein Bewußtsein erheben, damit er 'leuchtende Wesen aus höheren Sphären' - und Wahrheit - schaue. Außerdem verlangten sie, daß er sich in seinen täglichen Pflichten "dem Göttlichen hingebe, soweit es die menschliche Fähigkeit zulasse." (Rasâ'il, II, 30).
Diese Hingabe, dieser erhabene Idealismus stärkten und inspirierten die eingeweihten Mitglieder der geheimnisvollen mittelalterlichen Bruderschaften und auch jene gelehrten Persönlichkeiten, deren Schriften Europas kulturelle Renaissance entfachten. Al-Kindi, al Farabi, Avicenna, al-Ghazali, Maimonides, Averroes, al-Andalusi, Meister Eckhart, Raymond, der Erzbischof von Toledo, der Dominikanermönch Albertus Magnus von Padua, Thomas Aquina von Neapel, John von Salisbury und viele andere hielten, jeder auf seine Weise, genau diese Ideen lebendig, die arabische Intellektuelle von den Griechen übernommen hatten. Sie bewahrten und erweiterten sie, so daß jetzt auch wir über die Asche und den Schutt der Vergangenheit in jenen 'Garten' eintreten können, dessen Herrlichkeit ewig währt.
Fußnoten
1. Ob diese Begegnung wirklich stattfand, ist nicht erwiesen, aber die Erzählung spiegelt die Atmosphäre jener Zeit wider. [back]
2. Rasâ'il ikhwani s-Safa, in Kalkutta als Gesamtausgabe gedruckt; Makrokosmos and Mikrokosmos, ein zweibändiger Auszug aus den Episteln, erschienen 1876, 1879; Rasâ'il of the Ikhwân al-Safâ, übersetzt und gekürzt von Khayr al-Dîn, 1928; und Rasâ'il, Beirut, 1957. A History of Islamic Philosophy von Majid Fakhry verdanken wir vieles von unserem Quellenmaterial, einschließlich der aus den Episteln zitierten Auszüge. [back]