Theosophische Perspektiven
- Sunrise 3/1974
In den vergangenen Jahren haben wir von Lesern aus den verschiedensten Teilen der Welt Fragen über Theosophie und deren grundlegende Begriffe erhalten, die bisher individuell behandelt wurden. Da jedoch die meisten der erörterten Themen allgemein interessieren dürften, wollen wir einige der Fragen künftig im Sunrise bringen. Fragen und auch Kommentare über alle Aspekte der Theosophie und ihren Einfluß auf die Erfahrungen des menschlichen Lebens sind immer willkommen.
Aus Ostnigeria erhielten wir kürzlich einen Brief, der die Themen Tod, Wiedergeburt und Karma berührt. Der Briefschreiber hatte ein Buch gelesen, das ihm von einem Freund aus England zugesandt worden war, James Long's Expanding Horizons1, und hatte nun einige Fragen:
Es leuchtet mir ein, daß jeder Mensch ein inneres oder höheres Selbst hat, aber wo geht die Seele nach dem Tode hin? Und warum leben einige Menschen nicht sehr lange?
Wenn ein Mensch stirbt, dann endet seine Erfahrung; bedeutet Reinkarnation, daß er neu anfängt, wenn er wiedergeboren wird?
Wieviel Jahre braucht der Mensch, um Böses zu lassen und sich zu ändern, und wie erkennen wir, daß wir vom Schlechten ablassen und uns auf der Seite des Guten der Sonne zuwenden?
Ich habe angenommen, daß jeder Mensch ein höheres Selbst hat und daß Karma ein Zeichen unserer guten und schlechten Taten auf der Erde ist. Wenn aber ein Mensch während seines Lebens wahnsinnig wird und stirbt, wird er dann als schwachsinniges Kind oder als Geisteskranker wiedergeboren, weil er im vergangenen Leben Böses getan hat?
Bevor wir den Versuch unternehmen, diese Fragen zumindest in groben Zügen zu beantworten, sollte zunächst einmal klargestellt werden, daß der Tod so natürlich ist wie die Geburt. Alles im Universum wird tatsächlich durch diesen Prozeß wiederbelebt: durch den Tod der Form, des Körpers, damit die Essenz, der Geist, sein Wachstum fortsetzen kann. Sie in Nigeria haben das Glück, daß ein Teil der Weisheit Ihrer Vorfahren noch in vielen Redewendungen zu finden ist: Wenn ein Mensch stirbt, so sagt man dort, daß er "sich vom Sterblichen des Menschen gelöst hat." Das ist äußerst ausdrucksvoll und beruht auf Wahrheit.
Der Tod ist jedoch für jeden von uns eine rein persönliche Erfahrung. Nichts kann uns die Kostbarkeit der Liebe, des Bewundernswerten und von allem, was dem menschlichen Dasein Größe verleiht, mehr näherbringen, als gerade der Tod. Diese Dinge sind es, die unsterblich sind; und hätten wir beim Hinscheiden eines geliebten Menschen mehr Vertrauen, daß "alles gut ist", würde dadurch der Trennungsschmerz gemildert und der Anpassungsprozeß der Hinterbliebenen, die weiterhin ihre Lebensaufgabe erfüllen müssen, sehr viel leichter. Nun aber zu dem betreffenden Brief:
Der Mensch als denkendes, bewußtes Wesen ist Millionen Jahre alt. Während dieser gewaltigen Pilgerreise wurde er viele, viele Male auf der Erde geboren, um zu lernen und zu wachsen, und eine immer größere und engere Verbindung mit seinem inneren oder höheren Selbst zu entwickeln. Warum sterben aber einige jung und werden andere sehr alt? Dafür gibt es so viele Gründe, wie es Menschen gibt, denn jeder Mensch gestaltet sein eigenes Karma, und zusätzlich ist sein Karma mit dem größeren Karma seines Landes und dem der ganzen Menschheit verbunden. Wir können sogar sagen, daß wir letztlich mit dem Schicksal unseres Sonnensystems verkettet sind.
"Wie ein Mensch sät, so wird er ernten" - in jedem Leben ernten wir nicht nur den eigenen Ertrag aus der Vergangenheit, sondern haben gleicherweise auch die Gelegenheit, eine neue Saat in die Gegenwart einzusäen, die in diesem oder in einem zukünftigen Leben ihre Art hervorbringen wird. Manche führen ein sehr erfülltes und reiches Innenleben, und ganz gleich, ob ihr Aufenthalt hier kurz oder lang ist, erfüllen sie zweifellos alles oder sogar noch mehr, als ihr höheres Selbst von ihnen erwartet. Andere wiederum können hundert Jahre alt werden und möglicherweise doch nur wenig für ihren Schatz an Seelenweisheit einbringen. Das Geheimnis des Reifungsprozesses eines menschlichen Wesens überschreitet unser formales Erkenntnisvermögen, aber es ist wohl klar, daß die effektive Anzahl physischer Jahre nicht halb so wichtig ist wie die Qualität der gewonnenen Lebenserfahrung.
Wir können erkennen, daß wir durch die wiederholten Geburten auf der Erde und dadurch, daß die Folgen unserer konstruktiven und destruktiven Gedanken und Handlungen immer wieder auf uns zukommen, unseren Charakter gestalten, was bedeutet, wir lernen, mehr mit den Eingebungen unseres höheren Selbst zu arbeiten als dagegen. Wenn wir sterben, so gibt es für unsere Seele oder unseren Geist in Wirklichkeit keinen Tod, nur für unseren Körper, damit eine natürliche Erholung unserer Konstitution stattfinden kann. Unsere niederen Bestandteile fallen ab, gehen die ihnen bestimmten Wege und geben die Seele für den Eintritt in eine schöne Traumwelt frei, wo wir visionär all jene Ideale und Hoffnungen glorreich verwirklichen, die zu realisieren wir auf der Erde keine Gelegenheit hatten. Das ist jedoch nicht alles. Da der Mensch in seinem Innersten ein Gott ist, kann der Tod nur eine Befreiung für die geistigen und göttlichen Essenzen sein, die sein wirkliches Selbst sind. Dieses wirkliche Selbst macht nun in der Pause zwischen den irdischen Leben seine eigenen überirdischen Erfahrungen in den himmlischen Sphären. Wenn dann die Zeit der Wiederverkörperung für uns herannaht, vereinigen sich die höheren und niederen Elemente und wir nehmen die Fäden wieder auf, die wir einst geknüpft hatten.
Im allgemeinen fangen wir unser nächstes Leben wahrscheinlich wieder dort an, wo wir aufgehört haben; aber zu jeder Regel gibt es auch viele Ausnahmen. Wir dürfen zwei wichtige Überlegungen dabei nicht übersehen: erstens, daß wir sehr vielseitig sind und es in unserer Natur bestimmte Eigenschaften geben kann, die im nächsten Leben stärker entwickelt werden müssen als im vorhergehenden; und zweitens, daß wir in jeder neuen Inkarnation, trotz Schwierigkeiten und sogenannter Fehlschläge, - in Wirklichkeit gibt es kein Versagen, wenn wir niemals aufgeben - mit einem echten Vorteil beginnen, weil die Seele durch den Eindruck der herrlichen Visionen, die sie in ihrer Traumwelt hatte, gekräftigt ist und deshalb das Leben mit neuem Lebensmut beginnt.
Wie kann man erkennen, "daß wir vom Schlechten ablassen und uns auf der Seite des Guten der Sonne zuwenden", und wieviel Jahre kann das dauern? Ich würde mich nicht mit dem Versuch abquälen, herauszufinden, wieviel Jahre oder besser wieviel Leben es dauert, bis der einzelne die entscheidende Wende zum Licht macht. Das kann in jedem Augenblick an jedem Tag geschehen. Keiner von uns braucht auf ein großes Ereignis zu warten, um den Entschluß zu fassen, der Sonne in seiner Natur entgegenzuschreiten. Bei jeder Pflicht, die wir haben, in jeder Situation oder bei jeder Begegnung können wir versuchen, anderen gegenüber selbstlos und rücksichtsvoll zu sein. Wenn wir dieses Ziel im Auge behalten, dann brauchen uns unsere Schwächen - glaube ich - nicht allzusehr zu beunruhigen. Natürlich haben wir Schwächen, jeder einzelne von uns; wenn wir aber mit unserer Stärke arbeiten und aufmerksam darauf achten, so gut zu sein und zu handeln, wie wir nur können, dann werden wir finden, daß diese Schwächen, ohne daß wir uns dessen bewußt sind, allmählich zur Hilfe für andere werden.
Wir kommen nun zu Ihrer letzten Frage, ob jemand, der auf Grund von üblen Taten verrückt oder geisteskrank geworden ist, geisteskrank wiedergeboren wird. Ich selbst betrachte Karma nicht als schreckliche Nemesis oder ein Fatum, das einen Menschen verfolgt und Rache sucht. Daß jeder Gedanke und jede Tat, gleich welcher Art, ob gut oder schlecht, ihre entsprechende Wirkung auf unseren Charakter und deshalb auf unser Schicksal ausüben, darüber besteht kein Zweifel; es ist aber stets auch der unbestimmbare X-Faktor Zeit vorhanden. In der Schatzkammer der Seele kann sich sehr viel Gutes angesammelt haben, was nur zeitweilig von einer einflußreichen Schwäche überschattet worden ist. Wie können wir wissen, ob die notwendige Lektion während der schrecklichen Feuerprobe des Wahnsinns nicht schon genügend in die Seele des Menschen eingebrannt wurde! Vielleicht hat er auch zu dem Zeitpunkt, wenn die Wirkungen seiner früheren Fehlhandlungen zurückkehren, die Struktur seines Charakters so gestärkt, daß er das sich ergebende Karma ohne Gefahr einer erneuten Gleichgewichtsstörung verarbeiten kann.
Karma ist als eine der schwierigsten Lehren bezeichnet worden, und vielleicht ist dem so, denn die Verästelungen sind so vielfältig wie die Wurzeln des Banyan. Und dennoch wurde sie in Verbindung mit dem Begriff der Wiedergeburt für viele eine Lehre unermeßlicher Hoffnung. Jeder von uns hat eine Vergangenheit, die sich unendlich weit, bis zum Beginn der Geschichte unserer menschlichen Rasse erstreckt und sogar in noch frühere Zyklen planetarischer Erfahrung; und es ist unsere Bestimmung, was Zeit und Gelegenheit anbetrifft, eine gleichermaßen weitgesteckte Zukunft vor uns zu haben. So, wie die Natur beständig daran arbeitet, das gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen, so wirken in den kosmischen Prozessen Mitleid und Gerechtigkeit ununterbrochen daran, die Menschen und alle Lebewesen zum Erwachen zu bringen.
Und hier aus einem anderen Brief:
Können Sie mir etwas zum Lesen empfehlen, was mir helfen könnte, ein Problem zu klären, das ich mit mir herumschleppe, seitdem ich aus der Wüste zurück bin, wo ich fast einen Monat verbrachte. Dabei hat dieser Landstrich eigentlich immer ganz anders auf mich gewirkt. Dort konnte ich sonst meine Gedanken ordnen und meine Zweifel stillen.
Ich empfinde ganz klar, daß eine Intelligenz für uns und für alles um uns herum den Kurs festsetzt; aber auch, daß ihr Maßstab auf allen Ebenen zu groß ist als daß wir den riesigen Plan verstehen können. Genauso wie die lebende Zelle an der Spitze unseres Daumens, wenn sie durch den Kontakt mit einem heißen Gegenstand verbrannt wird, die Notwendigkeit für ihre Zerstörung, die ihr zu einem aus unserem Vorstellungsvermögen heraus gesehenen größeren Zweck diktiert wird, nicht einsehen kann, so mögen wir eine ähnliche Rolle in einem größeren Rahmen spielen. Ein Vorgang, den ich ohne größere Schwierigkeit im Sinne des "Dein Wille geschehe" akzeptieren kann. Doch bis jetzt war das "Dein", wenn auch oft unbegreiflich, in seinem Wirken dem unendlichen Maßstab entsprechend sowohl gerecht wie wohltätig.
Doch dann in einer Nacht, als ich das weite Sternenzelt des Wüstenhimmels betrachtete, überfiel es mich: Wenn es nun so wäre, daß zwar die große Intelligenz und der große Plan bestehen, daß SIE aber in bezug auf uns genauso wenig weiß und genauso desinteressiert ist wie wir an der lebenden Wesenheit, die ein mikroskopisch kleiner Teil unseres Körpers ist? Seit vielen Monaten versuche ich, dieses erschreckende Problem zu lösen, es ist mir jedoch nicht gelungen, obwohl ich fühle, daß es eine positive Antwort darauf geben muß.
Bei der Beantwortung kommt mir als erstes die bekannte Stelle aus der Bibel in den Sinn: Nicht einmal ein Sperling kann ohne den Willen Gottes oder der Elohim herabfallen - die alte hebräische Art, die Einheit der kosmischen Lebensintelligenz darzustellen.
Und nun zur Lektüre: Es gibt eine Stelle in The Secret Doctrine (I, 274-5)2, die etwas Licht auf Ihr "ganz erschreckendes Problem" werfen kann - nicht direkt, aber möglicherweise durch die Erklärung der Tatsache, daß unser Schicksal innerlich genauso mit dem großen kosmischen Muster verwoben ist, wie das Schicksal eines jeden Teilchens des Raumes. H. P. Blavatsky weist darauf hin, daß das Universum, und daher auch der Mensch als dessen Miniaturspiegelung, - und natürlich auch jedes Atom unseres Körpers, als noch kleinere Widerspiegelung des Makrokosmos - "durch eine fast endlose Reihe von Hierarchien empfindender Wesen von innen nach außen geleitet wird. ..." Jedes hat seine individuelle Arbeit zu leisten, und alle unterliegen dem karmischen Gesetz. Dann fügt sie noch einen faszinierenden Gedanken hinzu: "Jedes dieser Wesen war entweder ein Mensch oder bereitet sich vor, einer zu werden, vielleicht nicht gerade im gegenwärtigen Zyklus, aber in einem vergangenen oder zukünftigen."
Vielleicht haben Sie den Eindruck, daß diese Stellen nicht sonderlich zutreffen. Ich jedoch bin ganz und gar davon überzeugt, daß, wenn wir uns von den engen Schranken der Besorgnis befreien, - ob sich die große Intelligenz unserer als Herrn Müller oder Frau Meier "bewußt oder nicht bewußt" ist - wir beginnen werden, die einströmende Kraft des inneren Geistes zu spüren - eines Geistes, der, wie immer wir ihn auch nennen mögen, im Einklang mit der Göttlichkeit ist, die unserem Universum den Geburtsimpuls eingab.
Gewiß ist diese Kraft sich unserer persönlichen Schwierigkeiten nicht bewußt, jedenfalls nicht so, wie wir sie sehen, denn sonst könnte sie unmöglich das erhabene Werk fortsetzen, die antreibenden Ströme kosmischen Wachstums tätig werden zu lassen. Wir dürfen aber nicht die Wahrheit der Worte vergessen, die William Blake unsterblich gemacht haben: "Die Sterne werden gedroschen, und die Seelen (der Menschen) werden aus ihren Hülsen herausgedroschen." (The stars are threshed, and the souls (of men) are threshed from their husks.) Jeder von uns ist in der Tat buchstäblich der Abkömmling seines eigenen "Elternsterns" und darum genauso unauflöslich mit dessen Schicksal verbunden, wie die Atome unseres Körpers für immer mit uns verbunden sein werden.
Kurz, wenn Sie diesen hohen Gedanken erfassen können, dann werden Sie auf dem vor Ihnen liegenden Wege bei Ihren Anstrengungen in aller Stille Erleuchtung finden. Wenn nicht, dann behalten Sie die Schönheit des Wüstenhimmels in Erinnerung als ein großartiges Erlebnis, daß Sie und die Sterne eine gemeinsame Bestimmung haben und daß nichts - außer Sie selbst - jemals diese Bande zerstören kann.