Eine ununterbrochene Kette mündlicher Überlieferung
- Sunrise 1/1974
Belehrende Balladen und Folklore sind meistenteils wertvolle Überreste einer ruhmvollen Kultur, die viele Jahrhunderte vor den ersten Anfängen unserer gegenwärtigen Zivilisation von der Oberfläche des Globus verschwand. Die religiösen und spirituellen Überlegungen unserer ältesten Vorfahren sind in diesen uralten, legendären Dichtungen verankert. Obgleich diese fruchtbare Kultur in der prähistorischen Vergangenheit sich verlor, können wir ihren unauslöschlichen Eindruck auf die gegenwärtige Weltliteratur, die für immer das gemeinsame Erbe der Menschheit ist, dennoch wahrnehmen. Das Dhammapada, die Bhagavad-Gîtâ und die asketischen Dichtungen der Jainas zum Beispiel erhalten die Ethik und die Regeln weiterhin aufrecht, die von den Weisen eines vergessenen Zeitalters verkündet wurden, das immer noch in Dunkelheit gehüllt ist. Valmîki und Vyâsa, Homer und Pindar, die druidischen Barden und die Priester der Azteken, die chinesischen Gesetzgeber und die ägyptischen Mystiker - alle ließen diese moralischen Werte in ihren zeitlosen Epen und Philosophien widerhallen.
Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, wurde im Altertum nicht als ein sine qua non (eine unumstößliche Bedingung) für Weisheit betrachtet. Man sagt, daß sogar der große Grammatiker Pânini weder lesen noch schreiben konnte. Da jede Gedankenrichtung das Erbe des vorhergehenden Systems angetreten hat, waren die großen Weisen, die die Grenzen von Zeit und Raum überschritten hatten, nicht sonderlich besorgt, wie ihre Künste und ihr Wissen der Nachwelt überlassen sein würden. Obgleich die Kunst des Schreibens verwendet wurde, um Instruktionen zu erteilen, war sie nicht allgemein verbreitet, denn bei der Erziehung wurde mehr Wert auf die Entwicklung der Merkfähigkeit und des Erinnerungsvermögens gelegt. Hatte jemand auf einem bestimmten Wissensgebiet etwas Neues entwickelt, und wollte er sein System nicht in Vergessenheit geraten lassen, so kleidete er es in Verse; nur in seltenen Fällen legte er es schriftlich nieder. Paläographisches Beweismaterial zeigt ganz deutlich, daß die Kunst des Schreibens von den Geschichtsschreibern Mesopotamiens, Persiens, Ägyptens und Indiens in einer so weit zurückliegenden Zeit, wie dem dritten Jahrtausend vor Christi, ausgeübt wurde, um die Geschichte der Dynastien und die Zahl oder die Folge der Könige aufzuzeichnen. Es war jedoch nicht üblich, Unterweisungen in Mystik und Philosophie, Exorzismus und Religion niederzuschreiben, denn sowohl die druidischen Barden als auch die brahmanischen Weisen betrachteten das als eine Profanierung der esoterischen Weisheit. In jener goldenen Epoche der Ausbildung von Intuition und Erinnerungsfähigkeit versuchte niemals ein Lehrer das heilige Wissen durch Schriftzeichen mitzuteilen.
Plato, der größte Philosoph aller Zeiten, brachte diese Auffassung in seinen einzigartigen Dialogen durch Fabeln und Erzählungen immer wieder zum Ausdruck. Im Phaidros können wir dafür eine treffende Stelle finden, die seine Meinung über den Wert schriftlicher Belehrung deutlich ausdrückt:
Ich habe also vernommen, zu Naukratis in Ägypten sei einer der dortigen alten Götter gewesen, dem auch der heilige Vogel, den sie ja Ibis nennen, eignete; der Dämon selbst aber habe den Namen Theuth. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, und Mathematik und Sternkunde, ferner Brettspiel und Würfelspiel, ja sogar auch die Buchstaben. Weiter aber, da damals über ganz Ägypten Thamus König war in der großen Stadt des oberen Bezirks, welche die Hellenen das ägyptische Theben nennen, wie sie den dortigen Gott Ammon nennen, - so kam der Theuth zu diesem und zeigte ihm seine Künste und sagte, man müsse sie nun den anderen Ägyptern mitteilen. Der aber fragte, was für einen Nutzen eine jede habe? Indem er's nun auseinandersetzte, so wußte er, wie ihm jener etwas gut oder nicht gut zu sagen dünkte, es bald zu tadeln, bald zu loben. Vieles nun soll da Thamus dem Theuth über jede Kunst in beiderlei Richtung frei heraus gesagt haben, was durchzugehen viele Worte fordern würde. Als er aber an den Buchstaben war, sagte der Theuth: "Diese Kenntnis, o König, wird die Ägypter weiser und erinnerungsfähiger machen; denn als ein Hilfsmittel für das Erinnern sowohl als für die Weisheit ist sie erfunden." Er aber erwiderte: "O du sehr kunstreicher Theuth! Ein anderer ist der, der das, was zur Kunst gehört, hervorzubringen, ein anderer aber der, der zu beurteilen vermag, welchen Teil Schaden sowohl als Nutzen sie denen bringe, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Vaterliebe das Gegenteil von dem gesagt, was ihre Wirkung ist. Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die es kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern für das Gedächtnis hast du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar. Denn Vielhörer sind sie dir nun ohne Belehrung, und so werden sie Vielwisser zu sein meinen, da sie doch insgemein Nichtswisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie Scheinweise geworden sind, nicht Weise."1
In dem langen Gespräch erklärt Plato, wie Geschriebenes zu einer Verminderung der Kraft des Erinnerungsvermögens führt. Er vergleicht es mit einem Gemälde, dessen stumme Figuren auf die Frage eines ernsten Betrachters nicht mit Worten antworten können. Wahrheit, so meinte er, sollte durch mündliche Übertragung und nicht durch schriftliche Niederlegung Wohnung in der Seele eines Lernenden finden. Das geschriebene Wort kann nur eine Vorstellung von der Tatsache vermitteln, aber das Wort ist nicht die Tatsache selbst. Wir werden nicht überrascht sein, wenn wir feststellen, daß diese, von dem großen Philosophen Athens benützte Dialogform auch von Buddha und den Weisen der Upanishaden bevorzugt wurde, wenn sie an ihre Schüler und Anhänger Weisheit weitergegeben haben.
Übrigens war bis jetzt noch kein Paläontologe oder irgendein anderer Wissenschaftler in der Lage, einen einzigen Beweis zu liefern, daß sich die menschliche Sprache aus dem primitiven Gekreisch der Anthropoiden entwickelte. Selbst in der sehr weit zurückliegenden Vergangenheit benützte der damalige Mensch ein hochentwickeltes System aus Symbolen und Hieroglyphen, um seine Ideen anderen mitzuteilen. Die ersten Anfänge des Schreibens waren meist bei den Stammeshäuptlingen zu finden. Sie benützten die Schriftzeichen, die natürlich der damaligen Zeit entsprachen, um Befehle und Informationen an ihre Stammesangehörigen weiterzugeben. Solche Bilderschriftzeichen werden an den Wänden unterirdischer Höhlen, auf Steinblöcken und Ruinen aus Stein in der ganzen Welt gefunden. Unzweifelhaft benützten schon die Menschen der frühesten Zeit der Prähistorie ein System internationaler Zeichen und Symbole, um Ideen und Eindrücke zu übermitteln - denn ein Symbol kann ohne Zweifel einen philosophischen Gedanken erschöpfender vermitteln als das geschriebene Wort.
Da die Lehrer des Altertums Aufzeichnungen nicht gestatteten, wurden die Künste und Wissenschaften meist in knappen Aphorismen dargestellt, die die Schüler leicht im Gedächtnis behalten konnten. Die unsterblichen Epen von Homer, Vyâsa und Valmîki wurden von Berufsbarden und Minnesängern auswendig gelernt. Diese trugen sie dann an den Höfen der Könige und in den Lustgärten der großen Städte vor, wo große kosmopolitische Zusammenkünfte stattfanden. Mönche und Hymnendichter zogen von Land zu Land und trugen dort die religiösen Balladen vor, um aus den wißbegierigen Zuhörern begeisterte Anhänger zu machen. Man glaubt, daß Sokrates bei einer solchen Versammlung auf dem Marktplatz in Athen einem indischen Weisen begegnete. Daraus ginge hervor, daß die alten Barden und Mönche fern und nah herumreisten und, ohne durch irgendwelche sprachliche Schwierigkeiten oder geographische Grenzen behindert zu sein, lehren und predigen konnten. In jenen Tagen wurde Gelehrsamkeit nicht nach der Bücherweisheit eines Gelehrten beurteilt, sondern nach der Fähigkeit, wie er seine Hörer für die Suche nach Weisheit begeistern konnte. An jedem Hof in der ganzen Welt gab es einen ausgebildeten königlichen Minnesänger, der die Geschichte der Dynastie von ihrem Beginn bis zur Zeit des noch lebenden Königs vorsingen mußte. Selbst im vorkolumbischen Amerika waren in den Palästen der Inkas und Azteken Rezitatoren angestellt, die sich die Geschlechterfolge der Sonnenkönige bis in weit zurückliegende Zeitalter eingeprägt hatten.
Wenn auch die alten Philosophen im Osten wie im Westen in einem gewissen Stadium der menschlichen Kultur die Gelehrsamkeit, die durch Auswendiglernen und mündliche Überlieferung erworben wurde, hoch schätzten, so dürfen wir dennoch die großen Nachteile nicht außer Acht lassen, die dieser Art, das Wissen zu bewahren, anhafteten. Wenn eine Naturkatastrophe, eine Seuche oder ein Krieg die gesamte Priesterkaste auslöschen würde, dann ginge das ganze, in Jahrhunderten angesammelte Wissen einer Rasse unvermeidlich verloren. Und genau das ist die traurige Ursache, warum die meisten gesprochenen Sprachen und das Schrifttum der archaischen Vergangenheit abhanden gekommen sind, bevor das Sanskrit, die sumerischen, hamitischen und semitischen Sprachen aufkamen, die, laut unseren modernen Sprachwissenschaftlern, mit Recht beanspruchen können, sehr alt zu sein. Wieviele solcher alten Sprachen zusammen mit ihren umfangreichen literarischen Schätzen von der Oberfläche unseres Planeten verschwanden, das ist eine Frage, die noch ungelöst ist. Aus teilweise entzifferten Inschriften wissen wir, daß einige Sprachzweige wie Illyrisch und Ligurisch schon nicht mehr bekannt waren, als die germanische, die keltische und die italienische Sprache, also die (westlichen) Kentumsprachen, - die Untergruppen der indogermanischen Sprachfamilie sind - allmählich entstanden. Doch alle diese Sprachzweige, die wir nur dem Namen nach kennen, haben an dem grammatischen Aufbau und dem Wortschatz unserer modernen Sprachen mitgewirkt.
All das zeigt zur Genüge, wie ernst das Risiko war, wenn das Denkvermögen einer Rasse eingesetzt wurde, um die reiche Überlieferung einer Nation dem Gedächtnis einer Reihe von Einzelindividuen anzuvertrauen, die ihre Erinnerungskraft so geschärft hatten, daß sie umfangreiche Werke der menschlichen Weisheit auswendig lernen konnten. Die altersgrauen Veden und die nichtvedischen Schriften Indiens sind viele tausend Jahre hindurch mündlich von Generation zu Generation zuverlässig überliefert worden. Ein skeptischer europäischer Leser könnte wohl die Reinheit dieser Texte infrage stellen, aber sein Zweifel wäre unbegründet. Selbst heute noch könnte man, wenn man Indien, Ceylon oder Burma bereist, Tausenden von Menschen begegnen, die tagelang die großen Schriftwerke der Grammatik, Astrologie, Medizin und anderer Wissensgebiete auswendig hersagen können. Manche davon werden immer noch mündlich weitergegeben und wurden niemals niedergeschrieben. In diesem Zusammenhang erscheint es angebracht, aus einem glaubwürdigen Bericht des berühmten europäischen Historikers, Professor Stuart Piggott, einen Abschnitt zu zitieren. In seinem bewundernswerten Buch Prehistoric India schreibt er:
Kürzlich erschien in Benares ein des Schreibens und Lesens unkundiger Hindupriester, der ein langes religiöses Werk, das bis dahin unbekannt und nicht niedergeschrieben worden war, in Versen auswendig hersagte. Dem Wesen des Stiles und der Sprache nach gehört es zumindest ins Mittelalter und wurde seitdem in einer bestimmten Priesterkaste weitergegeben.
Auf Ceylon und in Burma ist es üblich, daß jeder buddhistische Novize die Pali-Grammatik, Lexika und das Dhammapada auswendig lernt. Die meisten dieser Werke sind allerdings rhythmische Dichtungen, wodurch sie leicht auswendig zu lernen sind. Auf Ceylon wird man kaum einen Mönch finden, der das Dhammapada nicht rezitieren kann, ohne den geringsten Fehler zu machen. Auch die Veden und andere Literatur wurden in Indien in dieser Weise von einer Generation auf die nächste unter höchster Bewahrung der Reinheit überliefert, bis sie in späteren Zeiten aufgeschrieben und in Buchform gedruckt wurden. Selbst geographische Schranken und sprachliche Unterschiede verursachten kaum eine Entstellung. Der Text des Rig-Veda ist im nördlichen Indien genau der gleiche wie bei den Dravida im Süden des Landes. Das Gleiche gilt für die Schriften der Buddhisten und Jainas, die in ganz Indien, auf Ceylon und in Burma auch heute noch erhalten geblieben sind.
Ich bin auf dieses Thema näher eingegangen, weil die meisten europäischen Kritiker der Meinung sind, daß, wenn Überlieferungen jahrhundertelang mündlich weitergegeben worden sind, viele nicht dazugehörige Einschiebungen stattgefunden haben müßten. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, daß Priester, Mönche und Kompilatoren auch heute noch eine große Lästerung darin sehen, wenn an den Originaltexten etwas geändert wird, es sei denn, die Änderung wurde von einem Generalkonzil beschlossen. Auf einem solchen internationalen, buddhistischen Konzil, das vor einigen Jahren in Burma stattfand und dazu dienen sollte, die ursprüngliche Reinheit der Pali-Texte des Theravâda zu erhalten, begannen einige der älteren Mönche aus dem Gedächtnis umfangreiche Kapitel aus den Schriften mit ihren vollständigen Kommentaren herzusagen. Einige dieser Werke sind größer als die Bibel. Jeder europäische Besucher hätte sich über dieses außergewöhnliche Meisterstück gewundert, aber in diesem Teil der Welt ist das ein alltägliches Ereignis. Die angeborene Überzeugung, daß jede Hinzufügung oder Weglassung eines einzigen Wortes oder einer Redewendung ernste und schlimme Folgen haben würde, hat wenigstens indirekt dazu beigetragen, die heiligen Texte vollständig rein zu erhalten.
Fußnoten
1. Übersetzt von L. Georgii; aus Platon, Sämtliche Werke, 2. Bd., Verlag Jakob Hegner, Köln. [back]