Die drei edlen Lehren des alten China
- Sunrise 4/1973
Folgende Ansprache, die völlig unvorbereitet war, wurde während einer langen Fahrt auf einem chinesischen Überseefrachter gehalten. Jeden Sonntagmorgen fand eine kurze religiöse Andacht statt, die der eine oder andere Passagier hielt.
Da auf unserem Weg zurück in die Vereinigten Staaten alle Offiziere und die gesamte Mannschaft Chinesen waren, schien es angebracht, eine Andacht den orientalischen Religionen zu widmen, zumal alle, die damals an Bord waren, einige Zeit in Taiwan, in Japan, Korea und Hongkong verbracht hatten, wo sie alte Tempel, Schreine und Monumente besucht hatten.
Die Ansprache durfte nur fünfzehn Minuten dauern und mußte in wenigen Tagen vorbereitet werden, deshalb waren die Ideen nicht gründlich ausgearbeitet. Die Ansprache wurde jedoch so gut aufgenommen, daß der Kapitän vorschlug, sie zu vervielfältigen, an die Passagiere zu verteilen und für die Mannschaft, die aus Taiwan war, zu übersetzen. Viele von ihnen waren jung und niemals auf dem Festland China gewesen.
- I. P. R.
Heute möchte ich vom China der Vergangenheit sprechen, nicht weil ich der Meinung bin, daß seine Größe unwiederbringlich vergangen ist, sondern weil meine Erinnerungen an das geliebte Land und sein Volk aus einer Zeit stammen, die mehr als vierzig Jahre zurückliegt.
Das einzigartige an der chinesischen Zivilisation war, daß sie Tausende von Jahren währte. Andere Nationen wie Rom, Ägypten, Assyrien, Babylonien und Griechenland erlangten große Bedeutung, waren eine Zeitlang mächtig und sanken dann politisch in Vergessenheit. China, obgleich häufig durch Zwietracht im Innern und durch Invasionen von außen gestört, blieb ein Monument für die Dauerhaftigkeit seiner nationalen und kulturellen Überlieferung. Eine Nation ist immer nur so stark wie ihre Lebensphilosophie. Daher ist es gewiß von Interesse, sich die drei Hauptquellen der religiösen Inspiration zu vergegenwärtigen, die China in jenen Jahrhunderten der Größe beeinflußten, und darüber zu sprechen.
Bildtext: Buddha, Konfuzius und Laotse.
Vor kurzem sah ich ein chinesisches Bild, von dem man nicht weiß, woher es stammt, auf dem drei ältere Weise zu sehen waren. Jeder hatte einen langstieligen Löffel, mit dem sie Essig prüften, der in einem großen Kessel über dem Feuer kochte. Der erste, Konfuzius, sagte: "Der Essig ist sauer." Der neben ihm mit dem heiteren Gesicht ist Laotse, der verkündete, er finde den Essig süß. Der dritte, der auf dem Bilde zu sehen ist, stellt Buddha dar, der erklärte, das Gebräu sei weder süß noch sauer: "Es ist Essig."
Konfuzius und Laotse lebten im sechsten Jahrhundert v. Chr. in China. Der Buddhismus kam in den ersten Jahrhunderten der christlichen Ära aus Indien. Es ist fast unmöglich, einen dieser drei Lebenswege zu betrachten, ohne die beiden anderen mit einzuschließen, denn alle sind Teile einer Tradition. Die östliche Philosophie konzentrierte sich im allgemeinen auf die Regenerierung des einzelnen Menschen durch seine eigenen Bemühungen. Es war also nicht notwendig, erst alt und enttäuscht zu werden, ehe man seinen eigenen spirituellen Weg suchte. Ein junger Mensch besaß diesen Wunsch und hielt daran fest als angeborene Segnung und durch die Schulung in seiner Jugend. Die Langlebigkeit der chinesischen Nation kann wohl zum Teil der Entfaltung von Gelassenheit und der Pflege der Entspannung zuzuschreiben sein.
Ich kannte einen Kaufmann, der sich an seinen wohlverdienten Ruhetagen in seinen Lieblingstempel zurückzog, um dort in Meditation versunken dem monotonen Gesang der Sutras zu lauschen, und nur die von der Religion vorgeschriebene kärgliche Pflanzennahrung zu sich nahm. Für ihn war das die richtige Erholung von der Arbeit. Der Lieblingstempel stand wahrscheinlich hoch oben auf einem einsamen Hügel, so daß man dort die Kleinheit des Menschen und die Unermeßlichkeit der ganzen Natur spüren konnte. Viele chinesische Künstler haben den Sinn der menschlichen Beziehung zum Universum eingefangen. Ihre Bilder zeigen die Gipfel großer Berge, die in vorüberziehende Wolken eingehüllt sind, Bäume, vielleicht auch einen Tempel, und erst weit unten einen Menschen, der kaum größer ist als ein winziger Fleck auf der Straße. Daraus ersehen wir, daß sich der östliche Mensch als ein Teil der Natur betrachtet und nicht von ihr getrennt als Intelligenz, die dominieren will, und die Naturerscheinungen zu beherrschen sucht.
Konfuzius und Laotse wurden mit den zwei Seiten einer Münze verglichen; sie waren ganz verschieden, und doch trug jeder zu einem vollendeten Ganzen bei. Konfuzius war beunruhigt, weil die Chinesen damals anfingen, von den alten Überlieferungen und Tugenden abzulassen, die doch so lange dazu gedient hatten, die Nation zusammenzuhalten. Es war eine Ära der Veränderung und des Aufruhrs - es kann sogar so etwas wie eine Hippiebewegung vorhanden gewesen sein. Seine Philosophie war daher keine neue Philosophie; er wollte nur sein Volk zur alten Lebensweise, zur alten Sittenlehre zurückführen. Jahrelang war der Konfuzianismus eine Reformbewegung, bis er schließlich, während der Han-Dynastie (202 v. Chr. - 221 n. Chr.), zur Staatsreligion wurde. Die Analekten von Konfuzius waren eindrucksvoll und streng: er predigte gutes Benehmen in der Familie und dem Staat gegenüber, Achtung vor den Alten und den Regierenden; mit anderen Worten, er wollte Gesetz und Ordnung. Er hatte viele Anhänger, als er lebte, und hat sie noch heute.
Auch Laotse war allgemein beliebt, obgleich er nicht so klar und mehr ein geheimnisvoller Lehrer war. Gerade auf dieser Reise durch den Orient hatten wir in vielen Antiquitätenläden und auch im Museum von Taipeh Holzschnitzereien gesehen, die den seltsamen kleinen bärtigen Mann darstellten, wie er unsicher auf einem Tier saß, das eine Art Kreuzung zwischen Pferd (oder einem Esel) und einem Wasserbüffel war. Viele bronzene Räucherkerzenständer haben diese Form; es ist eine Darstellung Laotses.
Laotses Religion wird Tao genannt. Das ist ein schwer zu übersetzendes Wort, wofür die westliche Welt keinen Ausdruck von gleicher Bedeutung hat. Tao ist die Quelle des Lebens, das, was alle Dinge belebt. Tao ist aber auch der Pfad, wenn man sich unter dem Pfad eine Göttliche Quelle vorstellt, in der alles lebt, sich bewegt und sich weiterentwickelt. Laotse brachte etwa 600 v. Chr. schon die Lehre, daß es keine tote Materie gibt; alles, vom winzigsten Atom bis zum größten Intellekt ist ein Teil eines sich entwickelnden Lebensstromes - und dieser ständig fließende Strom ist Tao.
Laotse war ein Mann von wenig Worten: Er hinterließ uns nur eine ganz kurze Schrift, Tao Teh King genannt. Diese wenigen Worte schrieb er auf das dringende Ersuchen seiner Jünger nieder. Als er mit dem Lehren aufhörte, ritt er auf seinem seltsamen Tier fort über die Gebirgspässe Chinas in die Wüste Gobi, um das ewige Tao zu finden. Das Tao Teh King war eines der mystischsten und gedankenanregendsten Werke der Weltliteratur und ist es heute noch.
Aus dem Tao Teh King erfahren wir, daß am Anfang das All - Tao - war. Das Eine teilte sich und wurde zum Dual - zwei. Diese Zusammensetzung erzeugte ein drittes: das heißt, Geist stieg hinab in die Materie und erzeugte durch diese Verbindung Intelligenz. Aber in Wirklichkeit sind diese drei eines. Dieses Mysterium ist ein Begriff, der seit frühesten Zeiten allen Völkern vertraut ist; er wurde viele Zeitalter hindurch in Griechenland und in vielen anderen Ländern aufrechterhalten. In Ägypten wurde er personifiziert als Osiris, Isis und Horus; und im Christentum ist er natürlich Vater, Sohn und Heiliger Geist; oder wie es die östliche orthodoxe Kirche ausdrückt: Vater, Heiliger Geist und Sohn.
Wenn jemand in Japan gewesen ist und eine Vorführung über das Anordnen von Blumen besucht hat, - ich meine die herkömmliche Form, nicht die bezaubernde dekorative Art - wird er diese Idee der drei-in-einem gefunden haben. Das jetzige Ikebana begann als Dekoration für den Altar der alten Tempel: der große Stamm bedeutet immer den Himmel oder den Geist; der niedere Zweig ist die Erde oder die Materie, und beide sind durch den Menschen oder den Intellekt verbunden, erfüllt, abgerundet. Der Herr sagte: "Es werde Licht", und der Geist stieg herab in die Materie, und durch diese Vereinigung wurde der Mensch oder die mit Intelligenz ausgestattete, sich entwickelnde Wesenheit geboren. Obgleich jedes kleinste Materieteilchen bis zu einem gewissen Grade von Geist erfüllt, d. h. belebt ist, kennen wir außer dem Menschen kein anderes Wesen, das einen Pfad, einen Lebensweg wählen kann. Wir leben viele, viele Leben und lernen die meiste Zeit durch praktisches Herumprobieren, aber immer durch die Stärke unseres Wunsches, zu wissen.
Jeder der großen, religiösen Weltlehrer, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten in Erscheinung traten, versuchte, seine eigene besondere Auffassung und Zielsetzung in einer Weise zu erklären, wie sie für seine Zuhörer von größtem Nutzen war. Die Christen werden verstehen, daß es im Jahre 600 v. Chr. in China unmöglich war, zu sagen: "Gebet dem Cäsar was des Cäsar ist"; es gab keinen Cäsar. In Israel jedoch, wo die Menschen unterdrückt waren, konnte man lernen, "die andere Wange hinzuhalten", wenn man erkannt hatte, daß das Himmelreich in jedem ist, und daß noch so viele Schikanen den inneren Frieden, den man erlangt hatte, nicht stören können.
Die Betonung der Moral in der konfuzianischen Lehre hatte im alten China - dem China, wo die Ahnen und die Überlieferungen in Ehren gehalten wurden - eine nachhaltige Wirkung. Andererseits läßt die Unklarheit des Taoismus erkennen, daß auch er - wie die meisten Religionen - viele Veränderungen erfahren hat. Wir finden darin Geschichten von Heiligen, die mit den Wolken von Bergspitze zu Bergspitze schweben; er enthält Wahrsagerei, Märchen und Zauberei. Der Taoismus machte eine ähnliche Entwicklungsstufe durch wie das westliche Christentum in der Zeit der Alchimie, der Hexerei und der religiösen Ekstase, wo übersinnliche Kräfte erlangt worden waren. Das sind lästige Dinge, die sich an jedes philosophische Schiff heften; es kann die Fahrt etwas verlangsamen, doch das Schiff bleibt seetüchtig. Wenn wir eine Religion wirklich kennenlernen wollen, dann suchen wir nach den Worten des Lehrers - nicht danach, was irgend jemand sagt, daß jenes inspirierte Wesen es gemeint haben muß.
Der dritte Essigprüfer war Buddha.
Ich glaube, wir alle kennen die schöne Geschichte vom strahlenden, jungen Prinzen Gautama: Als er das erste Mal in seinem beschützten Leben Elend, Krankheit und Tod sah, verzichtete er auf sein Königreich, seinen Reichtum und seine Familie, um nach den Erklärungen für diese Dinge zu suchen. Dabei mußte er feststellen, daß die weisen Männer Indiens keine vernünftige Lösung für diese Probleme der Wohlfahrt anbieten konnten. Deshalb ging er zu den Sadhus und wurde lange Zeit in den Yogaregeln belehrt. Als er durch seine strenge Enthaltsamkeit fast verhungert wäre, erkannte er, daß man durch Kasteiung des Körpers keine spirituelle Erkenntnis erlangen kann. So hielt er Einkehr bei sich selbst und brachte durch Meditation sein Gemüt und seine Sinne zur Ruhe, wodurch er schließlich unter dem berühmten heiligen Feigenbaum Erleuchtung fand. Daraufhin verbrachte er den Rest seines Lebens damit, alle zu unterweisen, die lernen wollten. Die Wahrheit, die er gefunden hatte, war so groß, daß die Welt heute noch darauf hört.
In ganz China sind Tausende von Statuen mit dem gelassenen, fast ausdruckslosen Gesicht des meditierenden Buddhas zu sehen. Manche strahlen Kraft und Ruhe aus; manche sind zerbrochen oder schwer beschädigt und wurden in den Zeiten der Gleichgültigkeit mit Unkraut überwachsen. Andere wiederum sind sehr klein und mit Juwelen geschmückt, oder auch primitiv und aus Holz geschnitzt, werden aber in der gleichen Familie von einer Generation zur anderen heilig gehalten. Sie alle stellen ein Antlitz, eine Idee, eine Inspiration eines Wesens dar, das über alles, was physisch zu existieren scheint, erhaben ist, - über die große Täuschung - ein von physischer, emotioneller oder mentaler Reaktion auf weltliche Umstände unbeeinträchtigter Zustand.
Dag Hammarskjöld, der verstorbene Generalsekretär der Vereinten Nationen, schrieb einmal: "Ein Märchen berichtet von einer Krone, die war so schwer, daß nur der sie zu tragen vermochte, den ihre Pracht vollkommen gleichgültig ließ."1 Das ist ein buddhistischer Gedanke.
Zuweilen war auch der Buddhismus in seiner Macht geschwächt, unterdrückt oder gespalten, aber auf lange Sicht betrachtet hat er seine Kraft behalten, in einer beinahe majestätischen Eindringlichkeit die Menschen zu beeindrucken. Ein Schriftsteller verglich ihn einmal mit einem Quecksilbertropfen: Er kann in viele kleine Tröpfchen zerlegt werden, doch sobald die trennenden Hindernisse entfernt sind, laufen alle Teile zurück und ergeben wieder ein vollkommenes Ganzes.
In alten Zeiten, als nur Gelehrte lesen und schreiben konnten, war es notwendig, mündlich und mit Symbolen zu lehren. Wir fanden diese Symbole in den vielen alten buddhistischen Tempeln, die wir in China und in Japan besucht hatten.
Auf dem Altar befinden sich zu beiden Seiten des Buddhas oft Gestalten, die die alles einschließende Erfahrung des Buddhas andeuten: auf der linken Seite steht z. B. die Verkörperung der Göttlichen Weisheit, und auf der rechten Kuan Yin, das allumfassende Mitleid. Es sind Darstellungen einer Idee. Die schöne Kuan Yin-Statue hat manchmal viele Arme, denn das Große Mitleid muß nach jeder Richtung ausstrahlen, um alles, was lebt, zu umfassen. Wenn die Statue viele Köpfe hat, so bedeutet das, daß die Göttliche Liebe nach jeder Richtung sieht und hört. Wenn diese Darstellungen einer Gottheit nicht nach unserem westlichen Geschmack sind, so beeinträchtigt das in keiner Weise die Richtigkeit und den Wert der Lehre für die Zeit, in der sie geschaffen wurde.
Alles im Leben hängt davon ab, daß man gewisse Dinge akzeptiert. Die Wahrheit muß innerhalb des Erfahrungsbereiches des Individuums liegen, sonst ist sie nicht seine Wahrheit und kann nicht begriffen werden, jedenfalls nicht zu dieser Zeit. Wir befinden uns heute in einer Welt der Naturwissenschaft; aber auch diese Wissenschaft hängt davon ab, daß wir sie akzeptieren. Es ist der Glaube an ein unveränderliches Universum, dessen Prinzipien sich nie verändern, dessen Grundbestandteile immer gleich bleiben und dessen Gesetze so genau sind, daß der Mensch, wenn er sie in ihrer Gesamtheit verstehen lernt, Wunder wirken kann. Das sind die Voraussetzungen, mit denen unsere heutige Wissenschaft übereinstimmen muß. Gerade weil das Universum ein großes Geheimnis umgibt, muß die Wissenschaft dieses Geheimnis akzeptieren und damit anerkennen, daß es existiert. Den Ursprung dieses Geheimnisses möchten die Religionen des Westens ergründen.
Im Orient bestand dagegen tiefgründiges Verstehen, große Erkenntnis und eine anerzogene Fähigkeit, ausgeglichen und unbewegten Gemüts zu sein, um durch eigene Anstrengung das zu entdecken, was man in vielen Fällen bereits akzeptiert hatte. Meines Erachtens fehlt uns heute diese innere Ruhe ganz allgemein. Die Menschen können sich kaum vorstellen, daß man sie jederzeit und überall in sich selbst erzeugen kann - man muß natürlich entsprechend üben, wenn man in der Selbstschulung, und Disziplin und dem Wunsch, vorwärts zu schreiten, erfolgreich sein will. Im alten China wurden jedenfalls die von den drei edlen Lehrern und ihren Jüngern empfohlenen verschiedenen Methoden angewandt, um diese ausgeglichene, innere Stärke zu erwerben. Für jeden hatte der Essig einen anderen Geschmack, aber wenn man durch den beißenden Dampf der Täuschung, die einen fast blendete, in die kochende Flüssigkeit blickte, wußte man, daß alles aus der einen, großen, geheimnisvollen Quelle kam.