Durchbruch
- Sunrise 3/1973
Wenn die Seele den Staub abschütteln und frei in himmlische Höhen fliegen kann, wäre es da nicht schade - wäre es da nicht schade um sie, noch länger in diesem irdischen Leichnam gefesselt zu bleiben?
- Rubaiyat, Omar Khayyam
Vor einigen Wochen drückte mir ein Freund ein Buch in die Hand1, von dem er ganz begeistert war. Er hatte davon auch einige Exemplare an Geschäftskollegen gegeben, die genauso beeindruckt waren. Und dennoch stellte er fest, daß jeder anders darauf reagierte. Das ist jedoch ganz natürlich, denn es ist mit allen Dingen so, und erst recht mit einem Buch. Jeder entnimmt daraus genau das für ihn Richtige. Mich bat er ebenfalls, es zu lesen und ihm dann zu sagen, was ich davon halte. Das tat ich noch am gleichen Abend, und dabei konnte ich mir vorstellen, daß Jonathan Livingston Seagull zu Recht die Herzen und Phantasie der Menschen in aller Welt fesselt.
Zweifellos wird das auch in Zukunft so sein, denn das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt, sogar in die Chamorrosprache der Marianeninsulaner im Pazifik. Auch die Filmrechte wurden bereits vergeben, wobei der Autor die Zusage erhielt, daß der Charakter seines Konzeptes gewissenhaft beibehalten wird.2
Die Möwe Jonathan ist eine Erzählung, die immer Gültigkeit hat, denn Richard Bach - ein direkter Nachkomme von Johann Sebastian Bach - hat mit diesem Buch ein klassisches Werk geschrieben. Bestürzt durch den weltweiten Ruhm wünscht er sich nun fast seine Anonymität zurück. In Hunderten von Briefen wird ihm die Frage gestellt: Woher haben Sie die Idee? Was will das Buch sagen? Gibt es eine metaphysische Erklärung dafür? "Es ist, als betrete man heiligen Boden", berichtete Bach einem Life-Reporter (3. März 1972). "Wenn ich das Buch aus mir selbst heraus geschrieben hätte, dann könnte ich sagen, was damit gemeint ist; ich habe es aber nicht verfaßt und kann es daher nicht erklären."
Bach ist von Beruf Pilot und hat bisher lediglich einige Bücher über das Fliegen geschrieben. Was dieses Buch anbetrifft, so weiß er nur, daß er vor einigen Jahren einmal in Kalifornien am Strand entlang schlenderte und plötzlich in einen Zustand versetzt war, als würde vor ihm ein Film abrollen. So etwas war ihm bisher nicht passiert, doch er wußte sofort, daß er dieses Erlebnis in einer Erzählung wiedergeben würde. Doch so plötzlich wie das Ereignis eingetreten war, so brach es auch wieder ab, so daß er die Erzählung nicht abschließen konnte, wie sehr er sich später auch darum bemühte. Vor kurzer Zeit stellte sich jedoch der gleiche Zustand wieder ein und der 'Film' setzte genau dort wieder ein, wo er damals aufgehört hatte, und lief nun bis zum Ende ab.
Auch wenn ein Mensch offensichtlich keine mystischen Neigungen hat, besteht wohl für den, der sich voll und ganz seiner Lebensarbeit verschrieben hat, die Möglichkeit, einen kurzen Blick hinter den Schleier zu tun - lang genug für das innere Auge, um in der Seele einige Fünkchen Wahrheit aufzuzeichnen. Bei Richard Bach könnte das möglicherweise der Fall gewesen sein.
Jonathan Livingston Seagull3 ist eine moderne Fabel - zeitgemäß und doch zeitlos, denn hinter den Abenteuern einer Möwe verbirgt sich die Tragikomödie des Menschen: halb göttlich, halb irdisch, ist er sich im Grunde wohl bewußt, daß er den Durchbruch wagen muß, selbst wenn er auch noch durch eigene selbstgeschaffene Fesseln gefangen und gebunden ist. Hervorragende Prosa, umrahmt von aussagekräftigen Fotos, genaue ärodynamische Kenntnisse und treffende, aber nie destruktive Satire sind die Kennzeichen dieses Buches. Es ist eine exakte Analyse menschlicher Charakterzüge und Schwächen - Tupfer nur, doch von Bach geschickt eingefügt, um das Thema des hilfreichen Mitleids in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen.
Jonathan war einer jener seltenen Vögel, der es trotz des elterlichen Drängens, sich den anderen anzupassen, nicht fertigbrachte, den Sinn des Daseins nur in der Futtersuche und sinnlosem Gekreische und Gekrächze zu sehen. Um wirklich fliegen zu lernen, um alle Techniken: drehen, wenden, rollen und tauchen meisterlich zu beherrschen ... muß er, ungeachtet der Grenzen, die ihm durch seine einmeterbreite Flügelspannweite und seinen Möwenkörper gesetzt sind, herausfinden, was er vermag und was nicht. So beginnt er Tag für Tag bis weit in die Nacht hinein zu üben, bis er jedes Flugmanöver perfekt beherrscht. Wenn er nur seine eigenen Geschwindigkeits- und Höhenrekorde brechen könnte! ... Eines Tages schafft er es: aus großer Höhe herabstürzend und mit einer Geschwindigkeit, die jede andere Möwe in tausend Stücke zerfetzt hätte, erlebte er seinen Triumph. Er mußte mit den anderen reden, ihnen von seiner Entdeckung berichten und ihnen zu den gleichen Fähigkeiten verhelfen, damit auch sie dieses Wunder und den Zauber des freien Fluges erleben könnten.
Aber was macht die Ratsversammlung des Möwenschwarmes? ... Stimmt sie zu? Hat sie Verständnis, daß es für das Wachstum unbedingt notwendig ist, emporzusteigen und über das Gewöhnliche hinauszugehen? Nein, "skrupelloser Leichtsinn" wird es genannt, Möwen dürfen nicht das "Unbekannte und Unerkennbare" erforschen, sie sollen sich lieber darum kümmern, ihre Flugkenntnisse so zu beherrschen, wie es der Futtersuche und einem möglichst langen Leben dienlich ist. Jonathan hatte das heilige Gesetz des Schwarms gebrochen. Er mußte verstoßen werden.
So lebte Jonathan Seagull als Verstoßener allein auf den fernen Klippen. Er entwickelte und vervollständigte neuere und bessere, nie zuvor versuchte Techniken. Schließlich erreichte er unter dem schweigenden Geleit zweier schneeweißer Möwen einen höheren Zustand. War das der Himmel? Jonathan war sich nicht im klaren; denn obgleich alles bisher Bekannte an Schönheit übertroffen wurde, gab es noch mehr zu lernen, noch mehr zu üben und noch mehr Begrenzungen zu überwinden.
Nach zahlreichen Abenteuern erlangte er jedenfalls die Erkenntnis, wer er wirklich war, und daß Vergangenheit und Zukunft, das Hier und das Dort, Zeit und Raum, eine Einheit sind. Dann kam die letzte Lektion: Er mußte lernen, "was Güte und Liebe wirklich sind." Seltsame Worte für eine Möwe; aber irgendwie brachten sie eine alte Saite der Erinnerung zum Klingen, und Jonathan wird an seine Jugend erinnert. Er fragt sich, ob es vielleicht irgendwo dort unten eine jüngere Möwe gibt, die ebenso nach Höherem strebt, um damit die Schranken der Sippe zu durchbrechen. Je mehr er seine "Lektionen über die Güte" lernte, desto mehr zog es ihn zur Erde zurück. Er wußte nun, daß er zurückkehren mußte, sei es auch nur, um einem oder zweien im Möwenschwarm zu helfen, die Wahrheit zu entdecken.
Im Nu war er wieder draußen auf den fernen Klippen bei einer einsamen jungen Möwe, die über die Starrköpfigkeit ihrer Eltern bekümmert und erbost war. Schneller als es sich erzählen läßt, fliegt Fletscher Lynd Seagull auch schon im Rhythmus mit einer großartigen Möwe. Zuvor war er jedoch noch eine Verpflichtung eingegangen: "Willst du fliegen lernen, nur um so fliegen zu können, oder bist du bereit, zu vergeben und zu deinem Schwarm zurückzukehren, um ihnen allen zu helfen, damit auch sie so zu fliegen verstehen?"
Jonathans Credo, zu dem er sich bekennen mußte, war einfach und direkt: "Brich die Ketten deines Denkens entzwei und du brichst damit auch die Ketten deines Körpers"; nichts darf dem Recht der Möwe, mehr zu lernen, im Wege stehen, kein Aberglaube, keine Sitten und Bräuche und keine andere Beschränkung, auch wenn sie auf einem Gesetz des Schwarmes beruhen sollte. Es gibt ein höheres Gesetz, das über allem steht, das Gesetz der Erkenntnis und damit der Freiheit.
Einige zollten ihm Bewunderung, andere verspotteten ihn, wieder andere beteten ihn an. "Auserwählt, begnadet, göttlich" flüsterten sie, aber Jonathan lehnte das ab. Er wollte nichts anderes sein als Fletcher oder Kirk oder jede andere Möwe; der einzige Unterschied besteht darin, daß einige durch eigene Anstrengung begonnen haben, ihr wirkliches Wesen zu begreifen.
Und dann geschah das Wunder - Fletcher war, um einen Zusammenstoß mit einer Jungmöwe, die sich auf ihrem ersten Flug befand, zu vermeiden, mit über 200 km/h Geschwindigkeit scharf nach links ausgewichen und kopfüber in eine Felswand hineingeflogen. Er stürzte ab. Wie traurig war er, denn er hatte sich so sehr gewünscht, mit den Jungmöwen, mit denen er schon geübt hatte, weiterzuarbeiten. Plötzlich hörte er Jonathan: er konnte wählen, ob er bleiben oder zurückkehren wolle? Wie soll ich denn, dachte er, ich bin doch tot, mein Körper ist ein Wrack. Keine Möwe kann das überleben, was mir passiert ist. Aber Fletcher traf seine Entscheidung und auf einmal hörte er die Menge schreien: "Er lebt! Er, der schon tot war, lebt!" ... Oh, er ist der Sohn der Großen Möwe, habt ihr nicht gesehen, wie sie ihn mit ihren Schwingenspitzen berührte? ... Nein, er ist der Teufel, ausgesandt, um den Schwarm zu vernichten. ...
Der Schrei "Teufel!" erscholl tausendfach, und viele Möwen forderten seinen Tod. Doch Jonathan und Fletcher hatten sich "mit Hilfe der Gedanken" eine Meile hinwegversetzt, und die Menge - nun ja, sie hat sich bis zum nächsten Morgen wieder beruhigt, wenngleich sie immer noch verwundert war.
Fletcher war bereit; deshalb konnte Jonathan mit seinem in der Sonne glänzenden Körper und seinen durchsichtigen Flügeln davon gehen. Zuvor ermahnte er jedoch seinen Freund, weiterhin die wahre Möwe in sich zu suchen - "sie wird dein Lehrer sein." "Und sorge vor allem dafür, daß kein dummes Gerede über mich verbreitet und kein Gott aus mir gemacht wird."
Nun war Fletcher an der Reihe, seine jungen Schüler zu inspirieren, sie anzuregen und ihnen klarzumachen, daß ihre Aufgabe eigentlich nur darin besteht, herauszufinden, was sie schon in sich haben, und daß sie dann ihre Begrenzungen durchbrechen können.
Solange der Mensch diese Erde bewohnt, wird es immer Vorläufer geben, Vorausdenker, Vorausfliegende - die den Staub der Erde abschütteln und sich auf den Schwingen der Gedanken unbeschwert tragen lassen. Prometheus, Gautama, Jesus, die Namen spielen dabei keine große Rolle. Sie erinnern nur voller Glanz an ihren Wagemut, ihren Willen zu innerem Fortschritt und daran, daß sie zurückgekehrt sind, weil sie besorgt waren, und sich fragten, ob unter der großen Menschenmenge nicht einige wenige sein könnten, die mehr Mut haben und die intensiver nach Erkenntnis und mit stärkerer innerer Zielstrebigkeit nach ihrem wahren inneren Wesen suchen, denen geholfen werden könnte - so wie ihnen selbst in vergangenen Zeitaltern ebenfalls geholfen worden war.
Fußnoten
1. Jonathan Livingston Seagull von Richard Bach, Fotos von Russell Munson; The Macmillan Company, New York, 1970, 93 Seiten, $ 4.95. (Dieses Buch erschien im Juli 1972 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Die Möwe Jonathan, im Ullstein Verlag, 93 Seiten, Ln., DM 16,-.) [back]
2. Bei Drucklegung erfuhren wir, daß Hall Bartlett für die Produktion von Jonathan Livingston Seagull Richard Bach ein in der Filmbranche einmaliges Zugeständnis gemacht hat. Der Autor erhielt nicht nur das Mitspracherecht für das Filmmanuskript, sondern sogar die Genehmigung, über die endgültige Filmfassung zu entscheiden. [back]
3. Seagull - Seemöwe, d. Ü. [back]