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Die Kunst des Schreibens in Indien, 2. Teil

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Wie wir in dem vorhergehenden Artikel gesehen haben, lag zwischen dem Verschwinden der Schrift im Indus-Tal und dem Erscheinen einer neuen und hochentwickelten Schreibart ein langer Zeitraum, der völlig unbekannt ist und über den wir nichts wissen. Anscheinend war das eine Übergangszeit, in welcher sich das Bilderschriftsystem zu einer verfeinerten Silbenschrift entwickelte. Einige Jahrhunderte vor dem Erscheinen Buddhas wurde dieses Silbenalphabet von indischen Weisen erfunden und erreichte seine größte Reife in den Erlassen des Kaisers Asoka (274-237 v. Chr.), die er auf große Säulen und Felsen überall in seinem ausgedehnten Reich schreiben ließ.

Selbst zur Zeit Buddhas, die in vieler Hinsicht eine glorreiche Epoche darstellte, wurde das Schreiben nicht sonderlich praktiziert. Es ist daher umso erstaunlicher festzustellen, daß er diese Mitteilungsmethode verwendete, als er der Bitte einer jungen Prinzessin in Ceylon entsprach, sie in seiner erhabenen Lehre zu unterweisen. Diese Legende von Muktalata ("Perlenranke") wurde von dem berühmten Dichter Kshemendra (11. Jahrhundert n. Chr.) in stilistisch hervorragendes Sanskrit übertragen und hatte den Titel "Avadana Kalpalata". Sie ist von großem historischen Interesse, da sie eindeutig das hohe Niveau der geistigen Bildung aufzeigt, die in Indien und Ceylon während dieser Periode vorhanden war. Folgende Auswahl (das ganze Gedicht besteht aus 24 Strophen) soll darüber einen Eindruck vermitteln:

 

Dies hat sich also zugetragen:

Händler aus der Stadt Srâvasti,

die große gefährliche See durchquerend,

kamen zu Lankâs Insel,

denn sie wollten Handel treiben.

 

Und sie sangen heilige Gâthâs,

bevor den nächtlichen Schlaf sie suchten,

sangen das Lied, das die Lehren verkündet,

die der Meister uns lehrte.

 

Aus den innern Kammern des Palastes

hörte Muktâ den schönen Sang;

sie bat die Händler zu sich her,

fragte dann, was sie wohl sängen.

 

Und zur entzückten Maid sie sprachen:

"Prinzessin, das ist Buddhas Wort,

er ist gütig zu allen Geschöpfen,

von allen Geschöpfen ist er der Herr."

 

 

So begierig wie der Pfau hört des Donners

Grollen, den Regen ankündend,

so begierig hörte sie den Namen.

"Wer ist dieser Herr", fragte sie abermals.

 

 

Durch der Händler Rede an ihre einstige

niedere Geburt erinnert, gab sie ihnen

ein Brieflein für den Herrn der Erde, den großen Buddha.

 

Und die Händler fuhren über das Meer,

erreichten ihr Land, das Heimatland,

und sprachen zu Buddha von der Prinzessin,

ihren Brief in seine Hand gebend.

 

 

Unser Meister, der hehre Buddha,

las den lieben Brief ganz kurz,

und ein sanftes Lächeln gab Kunde,

was er dachte, als er von dannen ging.

 

Und mit Geschick und erstaunlichem Können,

wie es keinem Maler möglich wäre,

auf ein Blatt sein Bild er malte,

für die Prinzessin von Simhala.

 

Auf sein Geheiß hin fuhren dann alle Händler

in ihren Schiffen erneut von dannen,

und als sie Simhala erreichten,

der Prinzessin sie gaben das Blatt,

das der Herr gemalt.

 

 

Hinter diesem schönen Antlitz wahrlich

sahen alle Leute

die drei heiligen Zufluchtsstätten,

die fünf heiligen Belehrungen!

 

Und sie sahen den edlen achtfachen Pfad,

herrlich gezeichnet, voller Weisheit,

mit der Lehre von den Verursachungen

vom Leben bis zum Tod, vom Tod bis zum Leben.

 

 

Und des Herrschers edle Tochter

betrachtete das Bild, so schön und heilig,

und war befreit von allen Wünschen,

erzeugt aus Unwissenheit und Torheit.

 

 

Und sich niederbeugend, bis die

Blütenknospen aus dem Haar herniedersanken

und damit den irdischen Freuden entsagend,

erlangte sie die höchste Wahrheit.

 

Diese Legende von der "Perlenranke" ist vielen buddhistischen Gelehrten unbekannt, doch man sollte den Dichter Kshemendra stets in Erinnerung behalten, damit dieses einzigartige Gedicht erhalten bleibt, denn es gibt uns ein Bild über den Stand des kulturellen Einflusses in Indien und Ceylon während des 6. Jahrhunderts v. Chr. Es beweist auch die literarische Begabung des Buddha, der zweifellos unter den Weltlehrern der größte Gelehrte war. Zahllose andere Quellen berichten von seinen Studien über die vielen Silben- und Bilderschriften seiner Zeit. Aus den lebendigen Beschreibungen in den alten Sanskrit- und den tibetischen buddhistischen Werken und sogar aus der rivalisierenden Literatur der Jainisten und Vedantisten können wir mit Sicherheit ableiten, daß der Buddha alle Wissenschaften, Künste und Sprachen, die in Indien zu jener Zeit bekannt waren, beherrschte. Es läßt sich keine bessere biographische Darstellung der Gelehrsamkeit des Sâkyamuni finden, als wie sie in dem bezaubernden Gedicht von Sir Edwin Arnold in Die Leuchte Asiens enthalten ist, in dem er die alte erhabene Schönheit des ursprünglichen Sanskrit so geschickt überlieferte. Als Lehrer für den jungen Prinzen hat der König Viswamitra, "den Weisesten", ausgewählt. Und als der Prinz mit einer Tafel aus rotbraunem Sandelholz und einem Schreibstift vor dem Weisen stand, sagt Viswamitra:

"Kind, schreib diesen Spruch", und langsam sprach er ihm

Den Vers vor, den man Gâytrî1 nennt,

Und den ein Hochgeborner nur vernimmt: ...

 

"Acharya2, ich schreib'", erwiderte

Der Prinz voll Sanftmut, und mit raschem Zug

Grub er der Tafel seine Zeichen ein,

Doch nicht in einer Schrift, in mancherlei

Schriftzeichen,3 in Nagri und Dakshin, Nî,...

Der Zeichensprache und der Bilderschrift,

Der Höhlenmenschen Runen und des Volks,

Das an der Küste wohnt. ...

Dann wechselte sein Lehrer das Thema:

"Laß uns nun rechnen. Sprich die Zahlen nach,

Bis in der Zählung wir zu Lakh4 gelangt,

Eins, zwei, drei, vier bis zehn, die Zehner dann,

Bis hundert, tausend." Und das Kind benannt'

Ihm folgend Fünfer, Zehner, Hundert, ruhte nicht,

Wie er zu Lakh kam, sondern murmelt fort:

"Darauf kommt Kôti,5 nahut, ninnahut, ...

... bis zu padumas,

Mit diesem zählt man Hastagiris6 Korn,

Wenn es gemahlen ist zu feinstem Staub;

Doch drüber noch hinaus ist eine Zahl,

Das Kâtha, das die Sterne zählt der Nacht.

Das Kôti-Kâtha, das im Ozean

Die Tropfen, Ingga, das des Kreises Rund

Beziffert, ..."

Der Rest des Gedichts gibt ein klares Bild über den Umfang des Lehrplanes, den dieser Kronprinz eines Staates in Nordindien bewältigen mußte. Wir finden hier eine interessante Parallele zwischen dem König Suddodhana von Kapilavastu, der den Weisen Viswamitra als Lehrer für den Prinzen Siddhârtha beauftragte, und dem König Philip von Mazedonien, der den großen Philosophen Aristoteles als Unterweiser für den Prinzen Alexander auswählte. Bei diesen beiden arischen Prinzen war in ihrer Rassenseele der jahrhundertealte Traum eingeprägt, ein unbesiegbares universales Reich zu schaffen. Während jedoch der eine die meiste Zeit seines kurzen Lebens in militärischen Feldzügen verbrachte, in dem Bestreben, die Grenzen seines Königreiches zu erweitern, entsagte Prinz Siddhârtha seinem weltlichen Reich, um ein unvergängliches, ewiges Reich des Geistes zu errichten. Der König Suddodhana glaubte jedoch stark an die Voraussage, daß sein Sohn ein Weltherrscher sein würde, und ließ ihn daher in allen Veden, mystischen Lehren, Künsten, Wissenschaften und Sprachen unterrichten. Es ist bemerkenswert, daß man dem jungen Prinzen sogar lehrte, die Bilderschrift und die Zeichensprache der Höhlenbewohner und der Seefahrer zu entziffern.

All das Gesagte soll dazu dienen, zu zeigen, daß sich in jener Zeit, als der Buddha in Erscheinung trat, die Schreibkunst in Südasien keinesfalls in einem primitiven Zustand befand und daß eine Kenntnis verschiedener Schriftarten wohl vorhanden war. Die Türen wurden weit geöffnet, um die beherrschende Macht der brahminischen Priester zu zerbrechen, die so lange Zeit die Kenntnis des Schreibens ausschließlich in ihrem Besitz hatten. Es ist schwierig sich vorzustellen, was der Buddhismus in bezug auf eingefleischte Vorurteile und Gleichgültigkeit zu überwinden hatte, aber der Umschwung kam schnell. Sogar in den frühesten Abhandlungen über buddhistische Wissenszweige (Vinaya Pitaka) lobten die leitenden Ältesten oder Theras den Beruf des Schreibkundigen als eine sehr angesehene Beschäftigung.

Genauso wie manche eifrige christliche Missionare in nicht allzuweit zurückliegender Vergangenheit in einigen Teilen der Welt Alphabete erfanden, um die Weisheit der Bibel ungebildeten Völkern zugänglich zu machen, so gingen die buddhistischen Missionare in alle Himmelsrichtungen und wurden zu den frühesten Vorkämpfern geistiger Bildung weit über die Grenzen Indiens hinaus. Sie waren es, die die Kunst des Schreibens förderten, wenn sie nicht sogar die wirklichen Vorläufer einiger der Alphabete waren, die noch heute in ganz Südostasien im Gebrauch sind.

Fußnoten

1. Ein hochheiliger Vers, aus dem Rigveda, den jeder Brahmane beim Morgen- und Abendgebet aus dem Kopf hersagen mußte. Es ist ein Gebet zur Göttin Savitri, der Sonne. [back]

2. Ehrende Anrede an einen Lehrer. [back]

3. Bezeichnung verschiedener Schriftarten, die in den verschiedenen Teilen Indiens vorkommen. [back]

4. Eine noch jetzt in Indien übliche Bezeichnung für 100 000. [back]

5. Die hier genannten Worte bezeichnen zum Teil mystische Zahlenbegriffe, die einer genauen Erklärung spotten. [back]

6. Ein mythischer Berg. [back]