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Ewige Erneuerung

Generationen von Lebewesen ziehen in rascher Folge vorüber und reichen, wie Läufer, die Fackel des Lebens weiter. - Lukrez (um 96-55 v. Chr.)

 

 

 

Vor einigen Wochen hatte ich Gelegenheit, mit Freunden eine Fahrt durch den Josuabaum-Nationalpark zu machen. Er ist eines der Naturwunder in Südkalifornien und liegt im Bereich der Mojave- und Coloradowüsten. Nicht so sehr der Josuawald ist so anziehend - die Josuas sehen zwar wie Bäume aus, sind aber übergroße Liliengewächse - es sind vielmehr die riesigen Felsaufwürfe, wahre Berge von Steingebilden, die die Wüstenlandschaft meilenweit durchziehen. Sie ragen bei den Wüstentälern und den Trockenbetten der nur zeitweise Wasser führenden Flüsse himmelwärts, wobei oft der Eindruck entsteht, als sei hier ein Kindergarten für spielende Riesen gewesen. Es gibt Felsen, die, scheinbar als Produkt einer Laune, einer über dem andern aufgestapelt sind; und andere, die noch während des Schmelzzustandes aufgeworfen wurden, vermitteln den Eindruck, als hätte irgendeine gewaltige innere Kraft die oberen Erdschichten zerbrochen und gespalten, als sich die jüngeren Felsen abgekühlt und gefestigt hatten, wobei mehr härterer Buntgneis übrig blieb als weicherer, weniger widerstandsfähiger Quarzmonzonit1. Alles aber ist von dem formenden Einfluß jahrhundertealter Erosion durch fließendes Wasser und Wind gekennzeichnet.

Könnten die Felsen jedoch sprechen, welche Geschichten würden sie wohl erzählen? Nicht nur von der Erde und den durch Zeitalter hindurch entstandenen ständigen Veränderungen, sondern auch Geschichten über unzählige Familien von Lebewesen (der Mensch eingeschlossen?), die gerade in dieser Gegend Zyklus um Zyklus gelebt haben, gestorben sind und wieder geboren wurden.

Diese Betrachtungen gewannen an Bedeutung, als wir später in einer Informationsschrift über den Park lasen, daß gerade dieser Landstrich der kalifornischen Wüste "seit mehr als achthundert Millionen Jahren fortwährenden Veränderungen unterworfen ist", und daß die Geologen annehmen, daß er "schon zehnmal zu den verschiedensten Zeiten" unter den Meeresspiegel gesunken und von Meerwasser bedeckt war! Was wir sahen, waren also ungeheuer alte Felsen, die natürlich mit jüngeren vermischt worden waren. Sie waren so widerstandsfähig, daß sie die periodischen Erhebungen und das Absinken des Bodens immer wieder überstanden hatten, und nun noch einmal siegreich emporgestiegen waren.

Hier kam mir plötzlich der alte Ausspruch in den Sinn, daß "selbst Berge zu Buddhas werden können." Diese mächtigen Felsformationen sind nicht nur Anhäufungen lebloser mineralischer Materie, sondern ein ebenso echter Ausdruck des Lebens, eine Art Bewußtsein, wie jeder Mensch, wie jeder der Himmelskörper, die das Dunkel der Nacht erhellen. Wer weiß, ob nicht zur gegebenen Zeit und im Verlauf von Jahrhunderten die monadischen Teilchen, die heute Gneis und Quarz beleben und zusammenhalten, in künftigen Äonen Sonnen und Sterne beleben, göttlich intelligent, kraft ihrer Geburt?

Das ist gar nicht so abwegig und auch gedanklich nicht weit entfernt von den wohlformulierten Überzeugungen, die der bedeutende Mikrobiologe, Dr. René Dubos, in seinem kleinen Buch The Torch of Life (Die Fackel des Lebens) wie folgt zum Ausdruck bringt: Das Leben enthält "viel subtilere Dinge als die neueste chemische Formel für Nukleinsäuren"; "es besteht aus irgendeiner leitenden Kraft, ... einem unbekannten Prinzip, das wie ein ununterbrochener Faden durch alle Lebensformen läuft", wobei es "periodische Zyklen und ewige Wiederkehr, aber auch Vorwärtsbewegung gibt." Mit Lukrez, dem er sich nicht nur wegen des Titels seines Buches verpflichtet fühlt, sondern dem er auch tiefe Einsichten verdankt, bestätigt er, "daß die Weitergabe der Lebensfackel in der Tat ein fortwährender Akt der Schöpfung ist."

Ist das nicht der eigentliche Kern des evolutionären Planes? - Das Leben ist wie ein machtvoll dahinstürmender Fluß. Es ist eine wunderbare und immer wieder neue Folge von Geburt und Tod, von Tod und Geburt, wenn die dahinrollenden Jahrhunderte alle Wesen vorwärtstragen, indem sie sie durch jede Form führen. Ob man es Bewußtsein, Seele, Intelligenz oder Energie nennt - solange das Leben bestrebt ist, aus den unfertigen Substanzen seiner Umwelt Ordnung und Harmonie zu schaffen, bleiben die Träger, die es verwendet, intakt; in dem Augenblicke aber, wo sich die leitende Kraft zurückzieht, lösen sich die Vehikel auf. Dadurch bleibt die Natur, trotz des Sterbens ringsumher, stets jugendfrisch und vital, denn gerade in dem Austausch der Formen - alte werden abgeworfen, neue angenommen - besteht das Leben weiter.

Leben also, und nicht Tod, ist die endgültige Bestimmung des Menschen - Leben ohne Stillstand, das Körper um Körper benutzt und eine Form nach der andern aufbaut und zerstört, und das immer neue, bisher unbekannte und verfeinerte Ausdruckswege für seine immerwährende schöpferische Essenz sucht, denn im Herzen des Menschen - wie in allen Lebensformen überall - ist ein evolvierender Funke, ein innewohnender Geist, der aus dem Unsichtbaren ins Sichtbare kommt, aus dem Dunkel des Unerschaffenen ins Licht der Manifestation; aus dem Chaos der sogenannten Unordnung in den Kosmos von Harmonie und Gesetz. Das Eine wird zur Vielfalt und die Vielfalt vereint sich wieder zum Einen: Es ist ein periodisches Aus- und Einatmen der Göttlichkeit, genauso wie Galaxien, Sterne, Minerale, Menschen und Atome in Zyklen aktiven Wachstums und der Ausdehnung des Bewußtseins vorwärtsgedrängt werden und wiederum in Zyklen der Ruhe, der Assimilation und der Erneuerung den rückläufigen Impuls erhalten, um während einer langen Zeit auf den bedeutungsvollen Augenblick zu warten, an dem sie aufs neue zur Geburt kommen.

Diese Anschauung kann dem Alltagsleben Sinn und Gehalt geben. Obwohl immer mehr Menschen an dem theologischen Buchstabenglauben der Vergangenheit nicht mehr festhalten, stehen wir immer noch unter dem Einfluß der Angst und Unsicherheit, die dieser Glaube erzeugte. Aus diesem Grunde täuschen wir uns in unserem geistigen Potential, denn automatisch zwängen wir unsere Hoffnungen und Träume in die kurze Zeitspanne eines einzigen Erdenlebens. Es muß einen Weg geben, wie wir sicherer wissen und besser denken und handeln können, um mit unserem intuitiven Gefühl mehr in Übereinstimmung zu leben. Einen Weg, der uns zeigt, daß in uns eine unsterbliche Essenz ist, die viele Tode unseres Körpers überdauert.

Victor Hugo hat diesen Gedanken seinem Freund Arsène Houssaye gegenüber sehr gut zum Ausdruck gebracht:

Obwohl ich nur ein Atom bin, kann ich dennoch fühlen, daß ich göttlich bin, erfüllt mit göttlicher Kraft, weil ich das Chaos, das in mir ist, ordnen kann ... laßt mich meine begonnene Arbeit fortsetzen, laßt mich die Gefahren, die Leidenschaften, die Todesschmerzen überwinden, die noch jahrhundertelang auf mich zukommen mögen. Wer aber vermag zu sagen, ob ich mich nicht erhebe, um einen Platz in der Ratskammer des Herrschers, der alles regiert, einzunehmen, und dem als Gott wir gehören?

In der Seele liegt eine Größe, die durch richtig verstandenes Wissen erreicht werden kann. Sie macht das Leben und Sterben zu einem großartigen Erlebnis. Dabei sei an das historische Ereignis erinnert, das sich im Jahre 399 v. Chr. in einer Gefängniszelle in Athen zutrug, als Kriton seinen geliebten Meister bat, mit ihm zu fliehen und so sein Leben zu retten. Sokrates lehnte ab und sprach statt dessen über die Unsterblichkeit der Seele und über die Pflicht, besonders angesichts eines drohenden Unglücks, dem Prinzip zu folgen und nicht der Ausflucht, "denn kein Mann, wenn er nicht ein vollkommener Narr oder ein Feigling ist, fürchtet sich vor dem Tod, aber er fürchtet sich davor, falsch zu handeln."

Wir mögen vielleicht nicht imstande sein, so edel zu leben während wir sterben oder so edel zu sterben während wir leben. Wir alle aber können versuchen, dieser großen und doch einfachen Philosophie dieses "weisesten und gerechtesten und besten" der Menschen nachzueifern. Er leerte den Schierlingsbecher, aber mit dem Tod seines Körpers demonstrierte dieser Störenfried unter den Athenern, dieser Geburtshelfer menschlicher Seelen, dieser Philosoph vom Marktplatz, die völlige Unbesiegbarkeit der Wahrheit und Lauterkeit, und der unsterblichen Kraft in der Seele, von der er so überzeugend zu Kriton, Phaidros und den anderen jungen Freunden gesprochen hatte, die in seiner letzten Stunde bei ihm waren. Er hieß den Tod willkommen und lebt dennoch und reicht die Fackel der ewigen Erneuerung an die zahllosen Generationen, die noch geboren werden, weiter.

Fußnoten

1. Monzonit - eine Art Eruptivgestein [back]