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Von der angeborenen Würde des Menschen

Wir leben in einer außergewöhnlichen Zeit, darüber herrscht wohl überall völlige Übereinstimmung. Nie zuvor ist der technologische Fortschritt so forciert worden wie in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren. Was noch vor kurzer Zeit lediglich Phantasieträume waren, mit denen uns die Autoren von Zukunftsromanen unterhielten, wurde ganz plötzlich Wirklichkeit. Der Übergang von einer Jahrhunderte dauernden, langsam fortschreitenden, hauptsächlich Ackerbau treibenden Gesellschaft zu unserer modernen dynamischen, hochmechanisierten Welt erfolgte so schnell, daß wir die drastische Veränderung im Denken, die unsere neuen Verhältnisse erfordern, noch gar nicht vollziehen konnten. Jedoch einige unangenehmere Tatbestände zeigen uns, wie notwendig diese Umstellung ist: Wenn wir unsere in letzter Zeit gewonnenen Fähigkeiten nicht weise und selbstlos anwenden, dann kann es passieren, daß wir uns selbst vernichten und unseren ganzen Erdball verwüsten.

Wenn es uns schon schwer fällt, mit den gegenwärtigen Umständen fertig zu werden, wie viel schwieriger wird es dann erst für uns sein, die Komplikationen einer sich technologisch immer weiter entwickelnden Gesellschaft, wie sie uns die Wissenschaft voraussagt, zu meistern. Nicht nur unsere ganze Lebensweise wird beeinflußt werden, sondern auch unser Körper und unser Gemüt - die bis jetzt für unantastbar galten - sollen Veränderungen unterworfen werden. Selbst die Wissenschaftler bezweifeln, daß wir imstande sind, uns in der nötigen Weise anzupassen. Werden größere Leistungen des Gehirns benötigt oder sollten organische Veränderungen notwendig sein? Es wird schon an Projekten in dieser Richtung gearbeitet. Dabei sind unter anderem genetische Eingriffe gar keine so ferne Möglichkeit mehr, und die Folge wird sein, daß wir das Leben auf Jahre hinaus verlängern oder neue Körperteile schaffen können, wenn alte ersetzt werden müssen. Die Forschung ist dabei, Körperzellen so zu konservieren, daß nach dem Tode ein genaues Ebenbild eines Menschen geschaffen werden kann. Durch Einimpfung gewisser chemischer Stoffe in das Gehirn oder in Pillenform absorbiert, könnte außerdem Wissen übertragen werden, wobei die gesamte mentale Struktur des Menschen verändert wird. Die in letzter Zeit gemachten Entdeckungen mit Nukleinsäuren haben zu der "Überzeugung geführt, daß der Mensch Gene so behandeln kann, daß die gewünschten Charaktereigenschaften zum Vorschein kommen." Damit könnten wir dann im Lauf der Zeit vielleicht eine ganze Rasse superintelligenter Menschen erzeugen, die imstande wäre, die komplizierten Probleme der kommenden Ära zu meistern.

Haben wir bisher unsere sonderbare Zukunft so unbeteiligt aus der Geborgenheit des Plüschsessels betrachtet, wie früher die Phantasiegebilde des Jules Verne, so können wir nun die Schatten der "Prächtigen Neuen Welt" doch auf uns zu und unbehaglich näher kommen sehen, sind doch die meisten Phantasien inzwischen Wirklichkeit geworden. Viele Fragen drängen sich auf: Wird der einzelne selbst entscheiden können oder wird er diese unnatürlichen Veränderungen auch gegen seinen Willen an sich erdulden müssen, vielleicht nur als Routinemaßnahme? Und wenn, wer trifft die Entscheidung, in welche Richtung die Mutationen im Körper oder Geist erfolgen sollen? Spielen Ethik und Moral dabei noch eine Rolle oder sind sie ebenso wie viele alte Überlieferungen beiseite gefegt worden? Wenn irgendeine äußere Vermittlung die Kontrolle über die elementarsten Lebensgrundlagen bestimmen, Empfängnis, Geburt, die Stunde des Todes, den Körper, mit dem wir geboren wurden, unsere mentalen und emotionalen Bewußtseinszustände, was geschieht dann mit unseren menschlichen Werten?

Diese offensichtliche Respekt- und Skrupellosigkeit der Wissenschaft der Menschenwürde gegenüber sollte uns nicht allzusehr überraschen, denn seit Freud und Darwin ist der Mensch nicht mehr die Krönung des siebentägigen Werkes Gottes, geschaffen nach seinem Bilde. Von ihnen wurde er statt dessen als ein weiteres Säugetier angesehen, das, lediglich einen Schritt von seinem Vorfahren, dem Affen, entfernt, die gleichen Neigungen und Triebe besitzt, nur erfüllen sie ihn mit Furcht und Angst, weil er größere Verstandeskraft besitzt und dem Einfluß moralischer Begriffe ausgesetzt ist. Im Stillen hat man tatsächlich den Verdacht, daß er ohne die Last des Intellekts und ohne moralische Beschränkungen besser dran war, als er - wenn überhaupt - glücklich in den Baumkronen herumturnte!

Im großen ganzen hat sich an diesem Affenbild des Homo sapiens seit damals nicht viel geändert, obgleich die moderne Forschung hier und dort etwas differenziertere Details hinzufügte. Die Verhaltensforschung des Menschen erfolgt immer noch ausschließlich vom biologischen und materiellen Standpunkt aus, was aus einer vor kurzem erschienenen Veröffentlichung hervorgeht:

Ganz allgemein wird angenommen, daß die Familieneinheit die "Zelle" der sozialen Gesellschaft ist, ganz gleich, ob es sich bei dieser Gesellschaft um einen Stamm, eine Gemeinschaft, eine Nation oder eine Welt handelt. Über die Familienzelle wissen wir nicht sehr viel, - bei weitem nicht so viel wie über die biologische Zelle - aber wir können uns wahrscheinlich darauf einigen, daß sie aus einer Mutter, einem Vater und Kindern besteht. Wir können die Familieneinheit als eine kleine Fabrik charakterisieren, in der die Eltern die genetische Struktur (die "Rohmaterialien") und die Bearbeitung (eine Art Prägung) vorbereiten. Das Kind ist das "Produkt", dessen neurale Reaktionen ebenso fixiert sind, wie die Wiedergabe einer gedruckten elektronischen Schaltung. Das Ergebnis ist im wesentlichen eine Welt mit Kindern, die geprägt worden waren und nun neue Kinder prägen; eine Welt mit Kindern, gegründet auf kindlichen Erfahrungen. ...

Ganz natürlich erhebt sich dabei die Frage, ob es wohl Möglichkeiten gibt, die "Prägungen" zu verändern. Anscheinend gibt es solche Möglichkeiten. Fast jeder berühmte Mensch, der uns bekannt ist, der unsere Lebensweise stark beeinflußte, hat irgendwie seine kindlichen "Prägungen" überwunden. Wir kennen aus der Geschichte eine Reihe von Fällen; die meisten sind mit einem traumatischen Erlebnis verbunden, mit einer großen, neuen Erfahrung, die die alten Eindrücke zerlegt und in neue Kombinationen umwandelt. Fast alle großen Kunst- und Musikwerke entstanden auf diese Weise, ebenso die meisten unserer wissenschaftlichen Errungenschaften.1

In der Tat, wenn wir davon ausgehen, daß das menschliche Bewußtsein nur das Ergebnis der Einprägungen ist, und daß es nur entwickelt werden kann, indem man ihm durch Anreize aus der Umwelt neue Prägungen aufzwingt, dann werden wir keine Gewissensbisse haben, den Bewußtseinszustand durch äußere Manipulationen zu ändern, sollte die Anpassung an das Leben in der großen technologischen Gesellschaft es erfordern. In diesem Lichte betrachtet, erscheint es gerechtfertigt; aber jeder, der den Menschen nicht als materielles Produkt sieht, kann bei dem Gedanken an solch grobe Einmischung in das Gefüge der Natur nur entsetzt sein.

Viele Tatsachen strafen die materialistische Anschauung jedoch Lügen. Wenn jeder von uns nur aus einer Reihe "infantiler Einprägungen" besteht, wie steht es dann mit jenen Menschen, die die Geschichte als weise Menschen, als Philosophen oder große Weise kennt, von denen viele einfacher Abstammung waren und die deshalb die erforderlichen "Prägungen" nicht empfangen haben konnten? Können ihre traumatischen Erfahrungen allein für ihre Erhabenheit verantwortlich sein? Wenn bloße Gehirnkraft die Vorbedingung ist, mit den Anforderungen des menschlichen Daseins fertig zu werden, warum machen dann so viele Menschen, die mit einem glänzenden Verstand ausgestattet sind, trotz ihrer Talente aus ihrem Leben ein Trauerspiel? Wenn es für jeden heute in der Welt lebenden Menschen möglich wäre, durch irgendein Wunder über Nacht superintelligent und hochgebildet zu sein, würden dann dadurch alle unsere vorhandenen Probleme gelöst werden, wenn diese Menschen nicht auch gleichzeitig tolerant und mitfühlend geworden wären und einen starken Willen bekommen hätten, um alles richtig in Ordnung zu bringen?

Es ist eher anzunehmen, daß wir, solange wir versuchen, das Bewußtsein des Menschen mit mechanischen Mitteln zu erweitern, - obgleich es gelingen mag, ein besseres Instrument in einer von Computern gelenkten Gesellschaft aus ihm zu machen - vom menschlichen Gesichtspunkt aus gesehen eine Rasse von Ungeheuern erzeugen, mit gewaltigem Gehirn und anderen Vorzügen, aber ohne die notwendige Weisheit, sie schöpferisch anzuwenden. Beide, Körper und Verstand, sind nur die Werkzeuge, die dem wirklichen Menschen dazu dienen, sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Viele Mißverständnisse entstehen, weil wir die Werkzeuge mit der Hand verwechseln, die sie führt, ja selbst das Vorhandensein dieser Hand leugnen.

Während im Westen Darwins Theorien über die organische Entwicklung begierig angenommen wurden, ist im Osten stets die Lehre von der Reinkarnation lebendig geblieben. Dieser Begriff war vielen alten Völkern bekannt und gewinnt heute auch im Westen Anhänger. Obgleich oft fälschlicherweise mit Transmigration verwechselt, sieht diese Lehre in ihrer reinen Form den Menschen als potentielle Göttlichkeit; bis jetzt noch am Anfang seiner Reise stehend, ist er sich dieser Tatsache noch nicht bewußt. Während vieler Verkörperungen im Menschenreich gewinnt er Erfahrung und entfaltet sein Bewußtsein von innen heraus, bis er vollkommenes Wissen erlangt hat. In ferner Zukunft wird er über die Möglichkeiten des menschlichen Wesens hinausgewachsen sein und ein Gott werden.

Während seines langen Verweilens wird er zahllose Handlungen ausführen, die gegen die universalen Gesetze der Natur verstoßen; dadurch entstehen Unausgewogenheiten, die er im Verlauf seiner Lebenszeiten wieder ausgleichen muß. Der Mensch tritt daher nicht als leeres Blatt in dieses Dasein, dessen Entwicklung passiv von den Eindrücken abhängt, die er empfängt, sondern er bringt sein Maß an spiritueller Entwicklung und die Eigenschaften mit, die auf Grund seiner früheren Erfahrungen zu ihm gehören. Der Wert jedes neuen Lebens liegt in dem, was er daraus lernt, einer Offenbarung seines Bewußtseins, worüber er sich bisher noch nicht im klaren war. Selbstverständlich kann dieser Wachstumsprozeß nur von innen auf natürlichem Wege erfolgen. Jeder Versuch, das menschliche Bewußtsein mit materiellen Mitteln von außen her zu erweitern, wird wertlos sein.

Da die Naturgesetze nie für einen Teil, sondern immer für das Ganze Gültigkeit haben, gilt der Zyklus der Geburt, des Wachstums, der Reife, des Verfalls und des Todes mit der anschließenden Periode spiritueller Assimilation bis zur nächsten Wiedergeburt sowohl für Nationen, Zivilisationen und ganze Rassen, als auch für die Einzelwesen, aus denen die ersteren sich kollektiv zusammensetzen. Deshalb ist jede Zivilisation aus Wogen menschlicher Wesen zusammengesetzt, die in ihrer früheren Verkörperung ebenfalls eine Gemeinschaft gebildet hatten. Das stürmische Zeitalter, in dem wir leben - wie auch das kommende Neue Zeitalter - bildet keine Ausnahme dieser Regel und wir, seine Atome, wurden nicht durch irgendeinen besonderen Schicksalsschlag gerade in dieser Periode geboren, sondern weil wir zu ihr gehören. Wenn zuweilen alles ziemlich düster erscheint, dann ist es gut nicht zu vergessen, daß wir nur den Folgen der Ursachen gegenüberstehen, die wir in früheren Zyklen schufen.

Im Westen wird allgemein angenommen, daß der materielle Fortschritt geradlinig vor sich geht und der gegenwärtig erreichte Höhepunkt in der gesamten Geschichte der Menschheit keine Parallele hat, eine Meinung, die sich auf das wenige Beweismaterial stützt, das vom Verfall und den Zerstörungen durch Krieg und Naturkatastrophen früherer Zivilisationen für uns übrig blieb. Wenn wir sie nur ohne das Vorurteil der Überlegenheit unseres zwanzigsten Jahrhunderts betrachten würden, so könnten wir selbst unter diesen kümmerlichen Überresten Hinweise finden, daß viele unserer modernen Erfindungen einfach Ideen sind, die bereits in altersgrauer Vorzeit bekannt waren und nun in unserer Zeit lediglich wiederkehren. Wenn wir, statt nur etwa 6 000 Jahre zu überschauen, das vollständige Bild haben könnten, das zurück bis zum Anfang des menschlichen Erscheinens auf diesem Globus reicht, von dem sich einiges ohne Zweifel auf Kontinenten abspielte, die seitdem durch die unaufhörliche Bewegung der Erdoberfläche verschwanden, dann könnten wir sehen, daß es buchstäblich nichts Neues unter der Sonne gibt, sondern daß alles in der Aufmachung der Zeit und des Orts, wo es erscheint, wiederkehrt.

Die Geschichte wiederholt sich immer wieder, wenn auch nicht in einer Kreisbewegung, so doch in einer Spiralbewegung, wobei sie trotz der zeitweiligen Tiefen immer neue Höhen erreicht. Deshalb ist es nicht unmöglich, daß an irgendeinem, weit jenseits der menschlichen Erinnerung liegenden Punkt eine Zivilisation existierte, die in ihrem technischen Potential der unsrigen sehr ähnlich war, mit der gleichen Wahlmöglichkeit, die zur Verfügung stehenden Kräfte in verantwortlicher Weise zum Segen aller zu benutzen oder beschränkte und sogar böse Eigeninteressen zu befriedigen. Die damals lebenden Menschen - eventuell wir selbst - haben vielleicht das Letztere gewählt und dabei ihre Chancen buchstäblich vernichtet. Und so stehen wir nach vielen Äonen vor der gleichen Entscheidung, wir haben wieder die gleiche Gelegenheit.

Die Wissenschaftler mögen mit Recht daran zweifeln, ob der Mensch genügend gerüstet ist, die Neue Zeit geistig zu bewältigen. Sie möchten das Problem lösen, indem sie mechanisch diejenigen Veränderungen an Körper oder Geist verursachen, die sie als notwendig erachten. Aber die für die Zukunft wirklich notwendigen Wesenszüge sind gerade jene, die uns die Wissenschaft nicht mehr zugesteht: spirituelle Reife und ethisches Urteilsvermögen, um zwischen dem inneren Gut und Böse zu unterscheiden. Nicht die Größe und das Ausmaß dessen, was wir technisch vollbringen können ist wichtig, sondern der Mut, zu jenen Möglichkeiten "nein" zu sagen, die uns zeitweilig materiellen Nutzen bringen, uns aber letzten Endes ruinieren, weil sie nicht mit den Gesetzen des Universums übereinstimmen. Die vor uns liegenden Zeiten sind nichts anderes als eine Prüfung für unsere Charakterstärke.

Wenn die Kräfte des modernen Fortschritts einem Drachen gleichen, der uns zu verschlingen droht, laßt uns umkehren und ihm entgegentreten, denn wir können seine Kraft nutzbar machen und für uns arbeiten lassen. Der erste Schritt sollte aber darin bestehen, daß wir die Bedeutung des Lebens und die wahre Vergangenheit des Menschen neu bestimmen. Nach dem Zeitalter der Vernunft und der Verherrlichung des Materialismus rissen wir die Götter, die wir jahrhundertelang angebetet hatten, von ihren Postamenten und zerschlugen sie; wir befreiten den Menschen von seiner unsterblichen Seele und degradierten ihn zu einem de Luxe-Modellaffen. Jetzt suchen uns die Dämonen unserer eigenen Zerstörungswut heim. Diese Vorgänge mögen eine gewisse Gleichgültigkeit beseitigt haben, die unsere mentale Stimmung beherrschte, aber sie verursachten auch ein bestimmtes Vakuum, das von der menschlichen Natur abgelehnt wird. Der Schrei der heutigen Jugend lautet: Gebt uns etwas, woran wir glauben können - ein Ruf, der in dem ganzen Aufruhr am schmerzvollsten ins Ohr dringt, denn wir können das große Elend nur ahnen, aus dem er entstand. Wir können sie jedoch nicht bei der Hand nehmen und führen: die Tage unserer spirituellen Kindheit sind seit vielen Äonen vorüber und jeder ist reif genug, um selbst nach der Wahrheit zu suchen. Niemand kann zwischen uns und dem inneren Gott vermitteln. Aber jede ehrliche und aufrichtige Suche wird zeigen, daß wir nur das Abbild des Menschen und seiner Götter zerstörten, denn keine unserer Handlungen kann je die Prinzipien ändern, auf denen der Kosmos gegründet ist, noch kann sie ein Jota von der eingeborenen Würde des Menschen wegnehmen. Mit der Weisheit, die wir Zeitalter hindurch gesammelt haben, werden wir fähig sein, mit den wechselnden Winden zu segeln und den richtigen Kurs in die Zukunft einzuschlagen.

Fußnoten

1. The Dynamics of Change von Don Fabun; Prentice-Hall, Inc., Englewood Cliffs, New Jersey, 1967, $ 8,95. [back]