Mithras, der Unbesiegbare – 3. Kapitel
- Sunrise 2/1971
Bildtext: Mithras-Jagd; Wandzeichnung in Dura-Europos1.
In den Mithras-Schulen wurden Menschen aus den verschiedensten Schichten des Lebens aufgenommen. Unter ihnen gab es Soldaten und ihre Offiziere, freigelassene Sklaven und ihre Herren, Künstler und Gesetzgeber. Ihr Bund mit dem Lichtgott verband indes alle zu einer wahren Bruderschaft, in der alle die gleiche Stufe einnahmen und einander in der Not halfen. Ganz sicher scheint jedoch zu sein, daß zu den Mysterien nur Männer zugelassen wurden. Soviel man weiß, gab es sieben Einweihungsgrade. Der höchste war der Pater oder Vater - ein vollständig Eingeweihter, der für den Tempel und was darin vor sich ging, verantwortlich war. Jeder Grad war ein Aspekt der Reise der Seele, eine Phase im Wachstum, und die dazugehörenden Einweihungsprüfungen spiegelten die besonderen charakteristischen Merkmale eines jeden Schrittes wider.
Am Ende einer bestimmten Unterweisungszeit wurde der Novize nach Ablegung eines Schweigegelübdes in die Gemeinschaft aufgenommen und erhielt den Grad des Corax oder Raben. Damit gehörte er dem niedersten Rang an und hatte die Aufgabe, den anderen zu dienen. Gleichzeitig konnte er sich aber als Symbol des Sonnenraben betrachten, der der Bote zwischen der Sonne und Mithras war. Verschiedene Tempelbilder zeigen Sol und Mithras, wie sie beim heiligen Mahle von Gestalten bedient werden, die Rabenmasken tragen. Wie alle Kandidaten der höheren Grade, so stand auch der Kandidat dieses Grades unter dem besonderen Schutz einer der fundamentalen Kräfte des Kosmos, dargestellt durch einen Planeten und verbunden mit einem speziellen Element. In seiner Eigenschaft als Bote der Götter hatte der Rabe das Emblem des Caduceus, den magischen Stab des Merkur, und war mit dem Element Luft verbunden.
Der nächste Grad war der des Nymphus, die verschleierte Braut, die in einer mystischen Hochzeit mit Mithras vermählt wurde. Das bedeutete nicht, daß der Kandidat keine Ehe eingehen durfte; das wurde in der Tat von keinem Eingeweihten gefordert, ganz gleich, welchen Grad er einnahm. Nur dem Pater war nicht erlaubt, mehr als einmal zu heiraten. Die Symbole der Braut waren Fackel, Lampe und Krone, die alle das "neue Licht" andeuten sollten, das nach der Probezeit, durch das neue Verhältnis des Prüflings zum Lichtgott, auf ihn herabgekommen war. Er war mit dem Planeten Venus und dem Element Wasser verbunden. Manche Quellen erwähnen hier den Titel Cryphius (der "Verborgene"), eine Bezeichnung, die anscheinend nur in Rom gebraucht wurde. Es besteht keine Gewißheit darüber, ob das ein besonderer Name für junge Leute war, die sich auf den Eintritt in den Mithraskult vorbereiteten, wie Professor C. W. Vollgraff nachzuweisen versuchte, oder ob die Cryphii mit den Nymphi identisch waren. Das bleibt für den Forscher des Mithraskultes weiterhin eine der vielen ungelösten Fragen, denen er gegenübersteht.
Der dritte Grad, Miles (Soldat), ließ den Anhänger zu einem braungekleideten Krieger werden, der für den Sieg des Guten kämpfte. Durch seinen Eid gehörte er zur heiligen Miliz des Mithras und nahm damit die Bürde seines Tornisters, der Lanze und des Helmes auf seine Schultern. Der Kirchenvater Tertullian (2. Jahrhundert), der natürlich keine großen Sympathien für die Mithrasanhänger hatte, schreibt, daß der Miles bei seiner Einweihung den dargebotenen Siegeskranz mit den Worten zurückweisen mußte: "Nur Mithras ist meine Krone." Es ist wohl kaum verwunderlich, daß der Soldat besonders von Mars geschützt wurde, und man nimmt an, daß er mit dem Element Erde verbunden war.
Der Miles wird oft als Schleppenträger des Leo (Löwe) dargestellt, was der nächste Grad ist. Der Löwe war mit einem langen roten Umhang bekleidet. Er stand unzweifelhaft mit dem Feuer in Beziehung, das schon von Anfang an in der Mithrasreligion heilig war. Unter seinen Emblemen befanden sich die Feuerschaufel und der Blitzstrahl. Mit diesem Grad war die Kraft verbunden, die Jupiter symbolisierte. Bei den Einweihungszeremonien wurde zur Reinigung Honig verwendet (Wasser ist ein Feind des Feuers), und wahrscheinlich mußte der Löwe eine Feuerprobe bestehen. Aus einem Diener oder Arbeiter wurde nun, nachdem der Löwe die Prüfungen bestanden hatte, ein Teilnehmer an den verschiedenen Riten; ihm wurden nun die okkulteren und mystischeren Lehren mitgeteilt. Da alle Gelübde nicht nur für die Dauer dieses Lebens abgelegt wurden, sondern für die Ewigkeit bindend waren, wurde angenommen, daß der Löwe "am Ende der Zeiten" das Weltenfeuer überleben wird.
Über den Löwen standen die Perses (Perser). Sie waren in eine graue Tunika gehüllt und mit dem Mond verbunden. Auch hier spielte bei den Riten der Honig eine Rolle, wobei die besondere Akzentuierung auf die erhaltende Eigenschaft gelegt wurde. Nach ihren Überlieferungen kam der Honig vom Mond, wie der uranfängliche Same, der dort geläutert wurde und danach auf die Erde zurückkam. Der Perser mit seiner Sichel und seiner Sense war demgemäß der Schnitter, der Bewahrer und Erneuerer, und spiegelte so die entsprechenden Eigenschaften von Mithras wider.
Unmittelbar über dem Perser stand der Heliodromus (der Bote oder Kurier der Sonne). Die Dinge, die zu ihm gehören, waren die Weltkugel, der Heiligenschein und manchmal die Peitsche. Er repräsentierte Helios-Sol, der einst den Raben als Boten mit dem Befehl zu Mithras sandte, den Stier zu töten; er schloß einen heiligen Pakt mit dem Lichtgott und nahm später gemeinsam mit ihm das Heilige Mahl ein. Schließlich lenkte er dessen Sonnenwagen (daher die Peitsche) wieder in den Himmel zurück, wobei er den Sonnengott Mithras mitnahm. Der Heliodromus war in dem Tempel, der nahe der Santa Prisca-Kirche in Rom ausgegraben wurde, in den gleichen roten und gelben Umhang gehüllt, in dem Sol dargestellt wird.
Der dem Range nach höchste Eingeweihte, der Pater oder Vater, fungierte als Repräsentant des Mithras. Er war in den roten Mantel gekleidet und trug die spitz zulaufende Mütze des Lichtgottes. Er hatte vollkommene Autorität über die Gemeinde und alle Brüder. Bei jeder Einweihung besiegelte der Vater das Gelübde des neuen Eingeweihten mit einem feierlichen Handschlag. Als Weiser, Lehrer, Beschützer und Hohepriester stand er unter dem Schutz des Saturn. Seine Symbole waren die Sichel des Saturn, die phrygische Mütze des Mithras, und der Stab und der Ring als Zeichen seiner Erhabenheit und Weisheit.
Bildtext: Symbole des Vaters.
Die Verbreitung der Mithras-Mysterien vom Zentrum in Rom über ganz Westeuropa ist nur ein Beispiel für die verworrenen Wege, wodurch der Kern des alten Wissens viele Jahrhunderte hindurch bewahrt wurde und an verschiedenen Orten wieder zum Vorschein kam. In Griechenland z. B. bewahrten die Orphischen Mysterien eine Zeitlang das Wissen über den wahren Charakter und die wahre Bedeutung der Götter, das die populäre Deutung einer sich verlustierenden Gruppe von Übermenschen, die gelegentlich die Zinnen des Olymp verließen, um mit den Menschen zu verkehren, weit überstieg. Es wurde schon erwähnt, wie leicht und wie oft sich die Elemente miteinander vermischten, weil die allen zugrundeliegenden Ähnlichkeiten nicht zu verkennen sind. Da ist zum Beispiel der ägyptische Gott Serapis, der in den Mithras-Mysterien genauso zu finden ist, wie unter den großen griechisch-römischen Gottheiten. So wurde zum Beispiel der aus dem Weltenei geborene griechische Phanes, ein Aspekt des jugendlichen, beschwingten Lichtgottes Eros,2 hie und da mit dem Mithras als dem Gott der Zeit identifiziert. Dr. Vermaseren führt einen interessanten Beweis dafür an: In Modena (Norditalien) wurde eine Relief-Skulptur des Phanes gefunden, die ursprünglich von einem Mitglied der orphischen Sekte für ihr Heiligtum geschenkt wurde. An der Unterseite waren sein Name und der Name seiner Frau eingraviert. Als der Spender später ein Pater der Mithras-Mysterien wurde, erinnerte er sich an diese Skulptur und schenkte dieselbe Plastik, von der jetzt angenommen wurde, daß sie Mithras darstellt, dem Mithras-Tempel - nachdem er vorher den Namen seiner Frau entfernt hatte! Eine solche Vermischung von mithraischen und orphischen Begriffen vollzog sich nicht nur in Italien. In der Nähe von Housesteads in England wurde ebenfalls ein Steinrelief entdeckt, das Mithras darstellt, wie er gerade aus einem Ei geboren wird. Er ist von den Tierkreiszeichen umgeben und trägt einige Symbole (Löwenköpfe und Schlangen), die Kronos (der Zeit) geweiht waren - genau wie sie einst Phanes trug. Mit anderen Worten, Mithras wurde der Nachfolger von Saturn, der oft mit Kronos identifiziert wird.
In dieser Atmosphäre gegenseitiger religiöser Toleranz, in der es weder eine Ausnahme war noch Mißfallen erregte, wenn fremde Gottheiten angenommen wurden, entwickelte sich das junge Christentum, umgeben von vielen anderen Glaubensrichtungen. Dabei war der Mithraskult der mächtigste und gewaltigste. Beide besaßen verblüffend ähnliche Symbole und Begriffe, da beide in ihrer älteren und jüngeren Vergangenheit die gleichen "fremden" Gedanken einbezogen hatten, mit denen sie direkt oder indirekt in Berührung gekommen waren.
Wir wollen einen Augenblick auf die Wiege des Christentums blicken: es war die jüdische Welt des Nahen Ostens. Dort kann man Spuren finden, die zeigen, wie die Lehren des Zoroaster den frühen Judaismus beeinflußten: wie Ahriman als Satan angesehen wurde (beide bedeuten "Widersacher"); wie die Ideen von Himmel und Hölle, vom Jüngsten Tag und vom Paradies den Juden vor der Zeit ihrer Gefangenschaft in Babylon und ehe sie dem zoroastrischen Gedankengut ausgesetzt waren, unbekannt waren.
Bildtext: Symbole des Sonnenboten.
Charles F. Potter weist in seinem Buch The Great Religious Leaders (Die großen religiösen Führer) auf das 2. Buch Samuel, 24: 1 (vor der babylonischen Gefangenschaft der Juden):
Und der Zorn Jehovas entbrannte abermals wider Israel; und er reizte David wider sie, indem er sprach: Gehe hin, zähle Israel und Juda!
Und zum Vergleich nun dasselbe Ereignis, wie es im 1. Buch der Chronika 21:1 (nach der Gefangenschaft) erzählt wird:
Und Satan stand auf wider Israel und reizte David an, Israel zu zählen.
So machten die Schreiber des Alten Testaments nach der Gefangenschaft Satan und nicht den Herrn dafür verantwortlich, daß König David die Männer von Israel zählen ließ.
Bekannt ist auch die Gestalt Esther. Im Alten Testament rettet sie die Juden, indem sie an den König appelliert, wobei großes Gewicht darauf gelegt wird, daß sie Jüdin war. Viele Anzeichen existieren jedoch, die darauf schließen lassen, daß sie in Wirklichkeit die babylonisch-assyrische Göttin Ishtar oder Astarte gewesen ist (was "Braut" bedeutet) und daß die Erzählung, nach der sie an die Stelle von Königin Vashti trat, ursprünglich eine Mythe unter den Nichtjuden war. In den späteren Zeiten drang, wie wir durch die Funde von Qumran wissen, durch die Essener zoroastrisches Gedankengut in den Judaismus ein, wodurch die Essener wiederum einen beträchtlichen Einfluß auf die Lehren Jesu hatten.
Am besten bekannt als Bindeglied zwischen dem Christentum und dem Zoroastrismus - oder einem seiner Zweige - ist die Geschichte von den drei Weisen, die "aus dem Morgenlande" kamen, um dem neugeborenen Jesus ihre Huldigungen zu erweisen. Wenn wir uns Zoroasters Prophezeiung vergegenwärtigen, wonach ihm zur gegebenen Zeit ein Saoshyant nachfolgen wird, so ist es verständlich, daß die frühen Christen in den arabischen Teilen der Welt Zoroaster als Propheten betrachteten, der gekommen war, um den kommenden Messias anzukündigen. Eine arabische Version der Evangeliengeschichte sagt, wie Dr. Vermaseren3 berichtet: "Sehet der Meister kam aus dem Osten nach Jerusalem, wie Zarathustra gesagt hat." Die Anhänger Zoroasters akzeptierten andererseits niemals Christus als den wirklichen Saoshyant.
Bildtext: Symbole des Raben.
Wenn wir die Frage beiseite lassen, ob wir den Bericht der Evangelien über die drei Weisen, die dem leuchtenden Stern nach Bethlehem folgten, ganz so wörtlich nehmen dürfen, wie er uns überliefert wurde, so ist es doch unbestritten, daß das Christentum, zu der Zeit, als es nach Rom kam, in seinen Lehren viele fremde Aspekte barg, von denen es nicht gerade die unbedeutendsten aus den zoroastrischen Lehren übernommen hatte. Das gleiche gilt noch mehr vom Mithraskult. Dieser osmotische Prozeß dauerte mehrere Jahrhunderte: vom Christentum wurde übernommen und das Christentum entnahm seinerseits ebenfalls von anderen. So stimmen beispielsweise alle Experten darin überein, daß das Datum für die Geburt Christi der Mithrasreligion entnommen wurde, die Feiern in Rom - die Saturnalien - endeten nämlich immer am 24. Dezember, und die Geburt des Mithras aus einem Felsen wurde stets am 25. dieses Monats gefeiert.
Man könnte aber auch ebensogut über die Frage nachdenken, ob diese Geburt nicht eine "Wiedergeburt" bedeuten kann, eine allegorische Ausdrucksweise für eine fortgeschrittene spirituelle Einweihung, die in allen Mysterien angewendet wurde. Natürlich vollzog sich diese Einweihung bei Erwachsenen. In diesem Zusammenhang kann erwähnt werden, daß Christus lange Zeit als die Wahre Sonne oder als Unsere Neue Sonne bezeichnet wurde. Im fünften Jahrhundert schrieb Papst Leo I. (man kann nicht umhin, sich zu fragen, ob die Popularität des Namens Leo unter diesen Hohen Prälaten nicht in irgendeiner Weise mit dem Mithras-Grad des Löwen verbunden ist), daß das Weihnachtsfest nicht vornehmlich wegen der physischen Geburt des Christuskindes würdig sei, gefeiert zu werden, sondern wegen der "Wiedergeburt" der Sonne.
Es war zu erwarten, daß die Christen, durch den Glauben an die Überlegenheit und die Einzigartigkeit ihrer Religion entflammt, nicht viel Gutes über ihren Rivalen, die Mithrasreligion, zu sagen hatten. Unter all den Religionsgemeinschaften, die sich ablehnend gegenüberstanden, war die Mithrasreligion nicht nur die stärkste, sondern die auch bei weitem moralischste und spirituellste. Ein heftiger Kampf entflammte, wobei gegenseitige Beschuldigungen erhoben wurden. Die Christen sahen in diesen "heidnischen" Mysterienlehren zu viele Ähnlichkeiten mit ihrem eigenen Glauben, um Toleranz zu üben. Beide verehrten eine göttliche Gestalt, die durch ihr Opfer den Weg zum Heil freigemacht hatte; beide kannten ein sakramentales Mahl, hatten die Begriffe von Himmel und Hölle und den Tag des Jüngsten Gerichts; beide nahmen ihre Anhänger in eine "Miliz" auf, um für das Recht zu kämpfen, und beide legten Nachdruck auf einen Moralkodex, der bedeutend mehr forderte als die anderen Kulte jener Zeit. Wir können es verstehen, aber wir können es nicht billigen, daß die christlichen Autoren jener Zeit die Rituale des Mithrasdienstes als Werk des Teufels erklärten...
Beide Religionssysteme fanden ihren größten Anklang zuerst bei den einfachen Menschen. Später, als sich hohe Regierungsbeamte bis hinauf zu den Imperatoren dafür zu interessieren begannen, war der Wettstreit an der Spitze angelangt. Um das Jahr 300 erreichte der Mithraskult seinen Höhepunkt der Macht, doch im Jahre 312 gewann Konstantin der Große den Kampf am Tiber gegen Maxentius, nachdem er ein feuriges Kreuz am Himmel gesehen hatte. Er schrieb seinen Sieg göttlicher Unterstützung zu und faßte den Entschluß, das Christentum zur Staatsreligion zu machen. Das war der erste bedrohliche Schatten, der auf die heidnische Welt fiel. Der Mithraskult erlebte noch einen letzten, vorübergehenden Aufschwung, als Kaiser Julian (Apostata - der Abtrünnige, Neffe Konstantins d. Gr.) - 331 bis 363 - einige Jahrzehnte später ungeachtet seiner christlichen Erziehung in die Mysterien von Eleusis und die des Mithras eingeweiht wurde. Sein tiefes philosophisches Interesse für den Neuplatonismus und seine Toleranz in religiösen Dingen versprachen eine weise und gerechte Regierung.4 Nach zwei Jahren jedoch ging seine Regierungszeit plötzlich zu Ende, als er während seines Vormarsches gegen die Perser (am 26.6.353 bei Bagdad) umgebracht wurde. Bald darauf zerstörten die Christen in Rom die Mithras-Heiligtümer und vernichteten alle Statuen und Altäre. Eine Zeitlang gab es noch eine einflußreiche Gruppe intellektueller und angesehener Leute, die ihre Stimme gegen diese Unterdrückung erhoben, eine Unterdrückung, die sich nicht nur gegen den Mithraskult, sondern auch gegen Juden und Gnostiker richtete. Indes, die Bischöfe der Kirche (unter ihnen war Ambrosius, der Bischof von Mailand, der bekannteste) konnten das furchtbare Schwert der Exkommunikation über den Häuptern der Kaiser schwingen. Um 390 waren alle heidnischen Kulte verboten, und wenn es auch nicht kampflos hingenommen wurde, so war es doch der Anfang des Endes. Der Mithraskult hielt sich noch für einige Zeit in entfernteren, auswärts gelegenen Verwaltungsbezirken, wie in den entlegenen Tälern der Alpen; aber auch in den Herzen und Gemütern römischer Adliger war Mithras noch lebendig. Doch der unbesiegbare Gott war tödlich verwundet worden, und schließlich war seine Zeit endgültig gekommen.
Zwei Fragen bleiben noch offen. Erstens: Was machte das Christentum zum stärkeren der beiden Kontrahenten? Und zweitens: Welche Botschaft, wenn es überhaupt eine gab, hinterließ uns der Gott Mithras?
Es besteht kein Zweifel darüber, daß im Grunde genommen der Endkampf um die Oberhoheit nur zwischen Christentum und Mithraskult ausgefochten wurde. Der Mithraskult hatte, nachdem er im Westen aufgetaucht war, Jahrhunderte hindurch seine Lehren nicht nur erfolgreich verhältnismäßig rein erhalten, sondern auch ansehnliche Anhänger für sich gewonnen, die mehr als einen oberflächlichen Kult suchten, und die zum wesentlichen Kern der Lehre vordrangen. Diese Männer, die Unterscheidungskraft und Gelehrsamkeit auszeichneten, führten in den Mithrasschulen die Selbstdisziplin der Stoiker ein, die erhabene Philosophie des Neuplatonismus und die edlen Lehren der höchsten Grade der geheimen Bruderschaft der Orphiker.
Nachteilig für den Mithraskult war seine Begrenzung, seine Strenge und sein Mangel an Gefühlswärme. Die Abwesenheit der Frauen war ebenfalls ein Faktor, der zum Niedergang beitrug. Doch die Achillesferse war hauptsächlich seine übergroße Toleranz anderen Bekenntnissen gegenüber. Dadurch hatte der Eifer der Christen, der für die leichtlebige Einstellung der römischen Gesellschaft neu war, am meisten Erfolg. Als nach vielen schweren Jahren der Unterdrückung die "organisierte" Kirche gegründet wurde, kämpfte sie um religiöse und politische Macht. Daß die Christen jene heidnischen Bräuche aufnahmen, die zu fest verwurzelt waren, um ausgelöscht werden zu können, ist kein Gegenbeweis; nur daß sie diese Tatsache direkt ableugneten, spricht gegen sie. Hinter ihren Kirchen finden wir die heidnischen Tempel wieder. Ihre Festtage und Daten verbergen ältere Riten, und unter dem Deckmantel der Heiligen und Engel kommen die alten Götter zum Vorschein. Gewiß, die weisen und erhabenen Lehren Christi sind ihrem inneren Werte nach gegen die anderen Lehren keinesfalls zweitrangig; aber als die Kirche die majestätische kosmische Philosophie aus ihrer Theologie entfernte, verlor das Christentum etwas, das es niemals wieder zurückgewinnen konnte. Seine Stärke lag in der Überzeugungskraft, im missionarischen Eifer, der nach den bisherigen menschlichen Erfahrungen nicht seinesgleichen hatte. Ausgelöst wurde er von einer geschichtlichen Gestalt, die durch das Beispiel ihres Lebens und Sterbens den Anhängern den Weg zeigte. Diese Gestalt war ein festumrissener, mächtiger Mittelpunkt, der stärker war als irgendeine Gottheit. Sie sprach mit der absoluten Überzeugung dessen, der weiß, weil er gesehen hat. Mithras, der als Gott dem Menschen immer entrückt war, konnte diese Zuversicht nicht vermitteln; er war zwar Lichtgott und Mittler, aber nie völlig in einer menschlichen Gestalt herabgestiegen.
Die meisten Experten stimmen überein, daß Ernest Renan in seinem Buche über Marc Aurel ein wenig zu weit ging, als er sagte: "Wenn das Christentum in seinem Wachstum durch irgendein schwerwiegendes Ereignis gehemmt worden wäre, dann würde der Mithras-Kult in der Welt vorherrschen." Dennoch bleibt das faszinierende "Wenn", um doch in Gedanken etwas damit zu spielen. Es besteht kein Zweifel, daß es ein Kampf auf Biegen und Brechen gewesen ist, aber es besteht auch kein Zweifel darüber, daß Mithras der christlichen Religion sehr viel mitgegeben hat, zumindest durch die Vorbereitung des westlichen Bodens für den monotheistischen Gedanken und die moralische Selbstdisziplin, die der Mensch braucht, um sein spirituelles Ziel erreichen zu können. Aber die kostbarsten philosophischen Werte, die der unbesiegbare Gott Mithras der neuen Kirche gegeben hatte, gingen bald verloren: Die ungeheure panoramische Sicht über Mensch und Kosmos und die Einheit der beiden, und, was ebenso wichtig ist, über die Möglichkeit des Menschen als eigener Erlöser. Die Philosophie, deren Mittelpunkt die spirituelle Sonne war, wich vor einer gänzlich auf die Erde eingestellte Kirche zurück, und die freie, strahlende Seele des Menschen wurde in den Kerker der Sünde geworfen. Doch dafür sollte nicht das Christentum an sich getadelt werden, denn wenn uns das Studium der Religionen etwas lehrt, so ist es das, daß der Mensch in jedem Zeitalter dem Glaubenssystem, dem er angehört, seinen Stempel aufprägt, es erniedrigt oder erhebt, und damit von ihm so viel oder so wenig erhält, wie er selbst bestimmt.
Der logisch denkende Verstand des Menschen hat uns in diesem zwanzigsten Jahrhundert wieder, bis auf wenige Schritte, der Idee von einem universalen, ökologischen System nahegebracht, von dem der Mensch selbst ein wesentlicher Bestandteil ist. Sein sich immer sehnendes Herz hat den Punkt erreicht, von dem aus es unerschrocken innerhalb und außerhalb der christlichen Lehren nach der wahren Bedeutung des Lebens und des Todes sucht, nach seinem spirituellen Verhältnis und nach seiner moralischen Verantwortung sowohl im Bereich des kosmischen Gefüges wie auch auf Erden. Mithras, der Unbesiegbare, zeigt immer noch den Weg.
Bildtext: Ahura Mazda auf dem Felsen von Behistun, Persien.
Fußnoten
1. D'ure Europ'os antike Stadt am mittleren Euphrat, heute Es-Salahije, Syrien, wurde von J.-H. Breasted (1920), F. Cumont (1922/23) und einer Mission der Yale University und der Academie des Inscriptions et des Belles Lettres (1928-37) untersucht. Dura Europos wurde unter Seleukos I. (312-280 v. Chr.) gegründet und hatte bis zu seiner Zerstörung 256 n. Chr. große Bedeutung als Handelsstadt und militärischer Stützpunkt. Der ursprünglich griechische Charakter von Dura Europos wurde unter dem Einfluß der parthisch-iranischen Reaktion gegen den Hellenismus in zunehmendem Maße orientalisiert, lebte jedoch in der Architektur, der gut erhaltenen Wandmalerei und in den Papyri bis in die Spätzeit fort. Echt parthische Kunst tritt im Tempel der palmyrenischen Gottheiten (55 n. Chr.) zutage, eine Synagoge zeigt entgegen dem altjüdischen Bilderverbot Fresken nach dem Alten Testament (um 245 n. Chr.), eine christliche Kirche enthält die älteste datierte Darstellung Christi (232 n Chr.). – aus dtv-Lexikon Band 4. [back]
2. Siehe Sunrise (englische Ausgabe), Februar 1964, "Eros, the Light-bringer." [back]
3. Mithras, the Secret God, englische Übersetzung, veröffentlicht von Barnes u. Noble, Inc., New York, 1963. [back]
4. Siehe Sunrise, englische Ausgabe, Aug. und Sept. 1966, "The Emperor Julian and Neo-Platonism"; deutsche Ausgabe Heft 3 und 4/1969, "Kaiser Julian und Neu-Platonismus." [back]