Mithras, der Unbesiegbare – 2. Kapitel
- Sunrise 2/1971
Ungefähr zu Beginn unserer Zeitrechnung war Rom eine geschäftige Stadt, in der die verschiedensten Gedankenrichtungen zusammentrafen. Sie kamen natürlich aus Griechenland, Ägypten, und auch aus noch entfernteren Ländern, und bildeten zusammen mit der römischen Staatsreligion ein ungleiches Gemisch. Einige der "importierten" Götter wurden einfach absorbiert oder mit den bereits existierenden identifiziert. Anderen wurde eine bis dahin unbekannte Verehrung gezollt und besondere Tempel errichtet. Am einflußreichsten waren aber die sogenannten Mysterien-Kulte: die Göttin Isis war über Griechenland - im Laufe der Zeit etwas hellenisiert - aus Ägypten gekommen; Kybele und Attis waren phrygischen Ursprungs; und aus Persien kam Mithras, der Unbesiegbare.
Auf welchem Wege dieser nach Rom gelangte, ist noch unklar. Wenn Plutarch, der im 1. Jahrhundert n. Chr. lebte, recht hat, so lernten ihn die Römer durch Piraten von Kilikien (im Südosten von Kleinasien) kennen. Einige von ihnen waren nach Rom gebracht worden, nachdem Pompeius ihnen im Jahre 67 v. Chr. das Handwerk gelegt hatte. Die Kilikier ihrerseits sind mit dem persischen Gott - wie ein anderer römischer Schriftsteller aus der damaligen Zeit berichtet - durch die Soldaten des Königs Mithridates VI. (selbst sein Name zeigt eine Verbindung mit dem Gott), König von Pontus,1 der ihr Bergland überfallen hatte, bekannt geworden. Später, als seine Armee, die aus Soldaten vieler Nationalitäten zusammengesetzt war, eine ernste Niederlage erlitt, wurden seine Truppen zerstreut, und einige der Soldaten siedelten sich anscheinend in Kilikien an. Tatsächlich wurde dort mehr als ein Mithras-Monument gefunden, und es ist bekannt, daß der Gott in der Hauptstadt Tarsus2 verehrt wurde. Doch immer noch verbleibt eine geheimnisvolle Lücke, denn bis jetzt wurden aus der Zeit zwischen dem Jahre 67 v. Chr., von dem angenommen wird, daß die Gefangenen aus Kilikien nach Rom kamen, und dem Jahre 79 n. Chr., dem Jahre, in dem bei einem Ausbruch des Vesuvs Pompeji zerstört wurde, keine Statuen freigelegt, welche Mithras darstellen. Aus dieser Zeit ist keine Spur des Lichtgottes nachzuweisen. Aber zu Beginn des zweiten Jahrhunderts wurden ohne Zweifel in Rom und dessen Hafen Ostia die Mithras-Mysterienschulen errichtet, und damit begann ihr Einfluß in den Hof und die Regierung einzudringen.
Mithras erlangte in Rom in vielen Gesellschaftsschichten Beliebtheit, sowohl Sklaven wie Intellektuelle, Handwerker und Kaufleute fühlten sich zu ihm hingezogen. Vor allem war er der Gott der Soldaten, und dadurch folgt seine Spur unmittelbar den Armeen, die ausgesandt wurden, um die entfernten Grenzen des Reiches zu sichern. Sie läuft entlang der Handelsrouten, die über den ganzen europäischen Kontinent führten. Die Hauptleute der Zenturien3 und andere Offiziere der Truppen bauten Mithräen (unterirdische Kulträume) und eröffneten sie feierlich, wo immer sie stationiert waren. Solche heilige Stätten wurden in Großbritannien entdeckt, besonders in der Nähe des Hadrianswalls unweit der schottischen Grenze, aber auch im Süden des Landes und sogar im Zentrum von London; in Spanien bei Merida; in Deutsch-Altenburg, östlich von Wien, nicht weit von der ungarischen Grenze; entlang dem Rhein und der Donau; und ein großes Sanktuarium in Sarmizegetusa, der früheren Hauptstadt des alten Dakien, dem heutigen Rumänien. Die meisten wurden natürlich in Rom ausgegraben, tatsächlich mehr als hundert. Und in der Hafenstadt Ostia, wo die Ausgrabungen bis heute noch nicht beendet sind, wurden bisher 16 Tempel freigelegt. Das ist eine ganz stattliche Anzahl, wenn man bedenkt, daß Ostia zu jener Zeit ungefähr 50 000 Einwohner hatte.
Durch das beharrliche Forschen der Archäologen - besonders des bekannten Belgiers Franz Cumont, der 1947 starb, und durch die neueren Untersuchungen des Mithräums unter der Santa Prisca-Kirche in Rom von Dr. M. J. Vermaseren (Niederlande) - erfuhren wir etwas mehr über den wiedergefundenen persischen Gott, der im alten Römischen Reich etwa 400 Jahre lang verehrt worden war. Der größte Teil dieses Wissens wurde durch die Ausgrabungen von Mithras-Tempeln sorgfältig zusammengetragen, da wenige, wenn überhaupt, schriftliche Aufzeichnungen existieren. Das steht im Gegensatz zu der Grundlage unserer Kenntnisse über den östlichen Mithraskult, die hauptsächlich aus Inschriften und Dokumenten stammen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß die tieferen Lehren dieser Schulen geheim gehalten worden sind und deshalb niemals niedergeschrieben wurden, obwohl das Wissen über die Existenz dieser Zentren oder über die Mitgliedschaft der einzelnen anscheinend der Öffentlichkeit nie vorenthalten worden ist.
Ehe wir uns mit dem wenigen befassen, was über die Lehren bekannt ist, wäre es sicher gut, das Aussehen ihrer Tempel, so wie sie die Archäologen mehr oder weniger unversehrt vorfanden, kurz zu beschreiben. Ein großer Teil der folgenden Beschreibung basiert auf Dr. Vermaserens Buch Mithras, de geheimzinnige god ("Mithras, der geheimnisvolle Gott"). Ursprünglich befanden sich die Mithräen in Höhlen oder Grotten in der Nähe einer Quelle. Selbstverständlich war es nicht immer möglich, eine solche naturbedingte Örtlichkeit zu finden. In solchen Fällen wurde der Tempel entweder unterirdisch gebaut oder so konstruiert, daß er annähernd einer Höhle gleich kam. Gewöhnlich waren sie dunkel und hatten keine Fenster.
Beim Betreten kam man zuerst in eine Art Vorhalle, die zum Aufbewahren heiliger Gegenstände und als Ankleideraum benützt wurde. Dieser Raum führte zum eigentlichen Heiligtum, das eine gewölbte Decke hatte, die manchmal mit Sternen geschmückt war. In einem breiten Mittelgang, in dem die Hauptzeremonien stattfanden, waren auf beiden Seiten Bänke aufgestellt. Darauf lagen oder saßen nach römischer Sitte die Teilnehmer, um nach Abschluß der rituellen Handlungen das geweihte Mahl einzunehmen. Am anderen Ende des Tempels stand in einer großen Nische das Bild des Gottes, ihn als Töter des Stieres darstellend. Entweder war es aus Marmor gemeißelt, gemalt oder in Gips ausgeführt. Vor der Nische stand häufig ein Feueraltar, und in der Nähe des Eingangs befand sich ein Wasserbecken.
Die Mithräen waren überall klein gehalten. Wenn die Zahl der Gläubigen auf mehr als fünfzig angewachsen war, wurde ein neuer Tempel errichtet, um die Überzähligen aufnehmen zu können. Nur der Tempel, der nahe der Santa Prisca-Kirche auf dem Aventin - einem der sieben Hügel Roms - ausgegraben wurde, bildet eine Ausnahme, denn er hatte neben der Hauptkapelle drei Nebenkapellen.
An den Wänden waren die verschiedenen Einweihungsgrade dargestellt, oder reliefartige Skulpturen schilderten eines der Abenteuer von Mithras. Mitglieder der Gemeinden stifteten Kunstwerke: Säulen, Altäre, Statuen, Büsten. Sie trugen meist Inschriften, worin der Stifter dem Unbesiegbaren Gott dankte oder ihm die Gabe widmete. Diese Reliquien bilden die einzelnen Teile des riesigen Zusammensetzspiels, das die Archäologen zusammengetragen haben. Mit diesem jetzt zur Verfügung stehenden Material kann man sich ein, wenn auch nur nebelhaftes, Bild der wirklichen Mithras-Mysterien machen.
Die Symbolik der Höhle wurde bereits erwähnt: Die Wölbung des Himmels oder der die Erde umgebende Kosmos. Dieses Symbol war nicht nur dem Mithras-Kult eigen. Auch die Mysterienschulen anderer Kulte befanden sich unter der Erde, und die Grotte spielt in den Erzählungen vieler Religionen eine Rolle - sie erinnert uns auch an den dunklen, ärmlichen Stall, in dem, wie uns die Bibel erzählt, das Christuskind geboren wurde. Die oftmals sternenübersäte Kuppel der Mithrastempel läßt keinen Zweifel über ihre wirkliche Bedeutung zu.
Die Szene, die die Tötung des Stieres zeigt, war im wesentlichen in jedem Mithräum Westeuropas die gleiche: Mithras, der den Stier niedergerungen hat, hat eines seiner Knie auf dem Stierrücken und reißt mit der linken Hand den Kopf des Tieres hoch, während er in seiner Rechten den Dolch emporhebt, um ihn dem Tier in die Kehle zu stoßen. Er trägt ein griechisch aussehendes Gewand, das im Winde zu flattern scheint, und auf dem Kopfe sitzt immer die spitz zulaufende phrygische Mütze. Je nach Auffassung des Künstlers hat er einen strengen oder traurigen Gesichtsausdruck, so, als ob er widerstrebend handle - er spiegelt die Atmosphäre der vedischen Mythe wider, die erzählt, daß Mitra nur auf den starken Druck der anderen Götter hin einwilligte, bei der Vernichtung von Soma mitzuwirken.
Der Gott Mithras steht nicht allein. Er ist an beiden Seiten von anderen Figuren flankiert, meist sind es die zwei Fackelträger Cautes und Cautopates, die ebenfalls in persischer Tracht gekleidet sind. Cautes, der die aufgehende Sonne symbolisiert, steht manchmal vor einem orangefarbenen Hintergrund (wenn Farbe benützt wird), er hält seine Fackel in die Höhe; während Cautopates vor einem dunkelblauen Hintergrund die untergehende Sonne symbolisiert und mit seiner Fackel nach unten zeigt. Sie bilden mit Mithras zusammen eine Dreiheit und erinnern damit an die allgemein bekannte Haltung des "von neuem geborenen" Buddha, der eine Hand vom Handgelenk ab nach aufwärts richtet und die andere nach abwärts. So veranschaulicht er die Funktion als Mittler zwischen den einfließenden Kräften der höheren Welten und den Erfordernissen des irdischen Menschen.
Bildtext: Marmorrelief, Rumänien.
Von oben schauen die Sonne, mit einer Strahlenkrone geschmückt, und der Mond mit einer Sichel rings um die Schultern auf die Mithrasszene herab. Cautes steht mit seiner aufwärts gerichteten Fackel für gewöhnlich unter Luna, und Cautopates unter Sol. In manchen Darstellungen berührt einer der sieben Strahlen von Sols Heiligenschein Mithras, der, die Gebote des Sonnengottes befolgend, im Begriff ist, sein großes Werk zu vollbringen. Hier und da ist die Skulptur so ausgeführt, daß eine hinter das Haupt der Sonne gestellte Lampe durch sieben Löcher scheint. Es mag sein, daß die Tat des Mithras, die sehr gut mit der Opferung seines eigenen Lebens gleichgesetzt werden kann, ihn auf die Höhe der Sonnengottheit erhob, denn viele andere Szenen zeigen Mithras im gleichen oder sogar höheren Rang, als den Gott der Sonne. Durch diese Tat wurde die Erde und alles Leben darauf erneuert, "erlöst", und eine materielle und spirituelle Wiedergeburt ermöglicht, denn nur durch die Vermittlung von Mithras konnte die im Herzen der göttlichen Sonne konzentrierte, gewaltige Macht in die tieferen Regionen der Erde dringen.
Manchmal sind zwischen Sol und Luna die Planetengötter zu sehen, insgesamt sieben Himmelskörper, während unten um den Stier herum gute und bösartige Tiere, sowie frisch sprießende Pflanzen angeordnet sind. Oberhalb von Mithras steht nahe bei der Sonne ein Rabe, der zwischen den beiden als Bote fungiert. Ein Versuch, alle diese Dinge einzeln symbolisch auszulegen, würde zu weit führen; außerdem wäre vieles von einer solchen "Erklärung" bestenfalls Vermutung. Augenscheinlich ist jedenfalls, daß alle Darstellungen, ob sie sich in den Hauptnischen, auf den Altären oder an den Wänden befinden, kosmischer Natur waren, und den Menschen und die Erde über das Sonnensystem mit dem spirituellen Herzen des allumfassenden Seins verbinden sollten. In manchen Mithräen wurden die Tierkreiszeichen mit oder ohne die vier Windrichtungen und die vier Jahreszeiten benützt. Diese beziehen sich in der Regel auf die manifestierten Aspekte der Schöpfung und passen daher gut zu Mithras.
Außer dieser Hauptszene mit dem Stier zeigten andere Bilder an den Tempelwänden und an den Seiten der Altäre die Geburt Mithras aus einem Felsen (begleitet von den beiden Fackelträgern, die gelegentlich wie Schäfer gekleidet sind). Seine Wundertat, wobei er Wasser aus dem Felsen fließen ließ, nachdem er ihn mit seinem Pfeil durchbohrt hatte, war zu sehen, und auch sein Pakt oder sein feierliches Bündnis mit dem Sonnengott und die gemeinsame Teilnahme an einem Festessen oder einem heiligen Mahl, nachdem der Stier getötet worden war; und schließlich zeigten sie den glorreichen Aufstieg des Mithras zum Himmel im Sonnenwagen.
Zu der Zeit, als diese Mysterienzentren errichtet wurden, war die Mithrasreligion als Volksreligion schon erloschen. Als Erbe hatte sie jedoch die im abendländischen Kult verankerten ursprünglichen spirituellen Werte und Lehren hinterlassen, und zwar nicht nur in Allegorien und Symbolen, nein, sie bildeten tatsächlich den Kern. Dieser Kern war stabil, wenn auch nicht statisch, aber durch diese Beweglichkeit waren diese Mysterienschulen stets imstande, ihren Akzent dorthin zu verlagern, wo immer sich kulturelle und geschichtliche Entwicklungen anzeigten. Nachdem der Gott Haoma beispielsweise verschwunden war, blieb er dennoch weiterhin als Stier bestehen; an die Stelle von Ahura Mazda trat Sol. Und Mithras selbst, obwohl er als Gott, der den Stier getötet hat, höchst bedeutsam war, nahm die charakteristischen Merkmale des Sonnengottes an. Gottheiten aus dem griechischen und römischen Pantheon wie Zeus (Jupiter), Ozeanos, Hermes (Merkur), Venus, Apollo (Helios, Sol), der Gott der Zeit Kronos (Saturn), der Vater von Zeus und sein Sohn Uranos (Himmel) wurden einbezogen; aus Ägypten war Serapis, der manchmal mit Saturn identifiziert wurde, mit dabei. Auf diese Weise drangen viele fremde Elemente in die iranische Religion ein. Dabei muß unbedingt bedacht werden, daß diese Götter nicht in ihrer äußeren allgemein bekannten Gestalt angenommen wurden, sondern in ihrer ursprünglichen Bedeutung, - als Repräsentanten irgendeines Aspektes vom Kosmos oder Sonnensystem, wobei die sieben Planeten des Altertums am bekanntesten waren - sie waren mächtige Energien im Universum, die so kraftvoll im Leben zirkulieren und daran teilhaben wie der Mensch oder die Pflanze.
Uns sind nur wenige der Mithras-Lehren bekannt, die den Menschen und die Gesetze der Natur betreffen, doch sie genügen, um zu erklären, warum sie in jener Zeit die Gedankenwelt und das moralische und ethische Verhalten ihrer Anhänger so beachtlich beeinflußten. Der Mittelpunkt dieser Philosophie war die göttliche Innere Sonne, die man sich als das lebendige Herz des Universums vorstellte. Die physische Sonne wurde nur als das äußere Vehikel angesehen und als solches nicht verehrt. Auf den Feueraltären wurde eine beständig lodernde Flamme unterhalten, die das göttliche Licht, die universale Essenz, versinnbildlichte, wie einst in zoroastrischen Zeiten. Aus diesem Herzen des Universums strömte die alle Formen durchdringende Lebenskraft, die allmählich in ihrer konzentrierten Form immer mehr nachläßt. Dabei spielte der Mittler Mithras die Rolle eines spirituellen Boten, die Inkarnation eines erhabenen Strahles jener großen, uranfänglichen Energie. Eine der Bezeichnungen für Mithras war "Sol Invictus", die "Unbesiegbare Sonne". Als Aurelian im Jahre 274 n. Chr. den Kaiserkult als offizielle Staatsreligion einführte und den gleichen erhabenen Titel für sich in Anspruch nahm, hat das sicher indirekt zur Stärkung und zum Prestige des Lichtgottes in Rom beigetragen.
Anscheinend wurde Mithras nach Erfüllung seiner Mission, das Leben auf Erden zu erneuern (allen Anzeichen nach stand das nicht in Verbindung mit der jährlichen Wiedergeburt im Frühling, sondern bildete ein einmaliges Ereignis), in die erhabene Gesellschaft des Sonnengottes aufgenommen und ihm an Größe fast gleichgestellt. Schon bei der Geburt war er "Regent des Kosmos" (Kosmokrator), der den Erdball trug, und von Ozeanus, Caelus und Saturn/Kronos umgeben. Es ist interessant, daß auf ihn als einen demiurgos hingewiesen wurde, ein Ausdruck, der in der platonischen Philosophie und im gnostischen Denken für den großen, aber noch unvollkommenen Weltenschöpfer angewendet wurde, um ihn vom höchsten Gott zu unterscheiden. Indes, welch hohen Rang seine Anhänger Mithras auch verliehen, grundsätzlich blieb er Ahura Mazda und auch Zurvan Akarana, der "Grenzenlosen Zeit", immer untergeordnet. Er war der Erlöser; eine lateinische Inschrift in Rom begrüßt ihn tatsächlich als Saoshyant, den einst von Zoroaster angekündigten Messias.
Bildtext: Mithräum in Deutsch-Altenburg.
Durch Mithras war die Erde mit dem Universum verbunden, von dem behauptet wurde, daß es seinem Wesen nach siebenfach sei und daß es in sieben Abschnitten erschaffen worden ist. Es gab sieben Aspekte der Farbe und des Tones. In unzerbrechlicher Einheit mit der Sonne hat jeder der "sieben heiligen Planeten" seine eigene Funktion und seine charakteristischen Merkmale. Von der Seele des Menschen wurde angenommen, daß sie nach dem Tode die planetarischen Sphären auf einer Leiter mit sieben Sprossen, die von der Erde bis in den Himmel reicht, durchläuft, und daß sie bei der Geburt auf dem gleichen Wege wieder herabsteigt. Auf jeder Durchgangsstation würde die eintretende Seele eine Eigenschaft annehmen, die sie nach Zurücklassen des irdischen Körpers wieder, eine nach der anderen, ablegte, und die dabei auf ihrem Wege immer weniger materiell werden würde. Das erinnert uns nicht nur an Plato, sondern auch an die Leiter Jakobs, die er im Traume sah und auf der "die Engel Gottes auf- und abstiegen." Das Symbol der Leiter war zweifach: es war sowohl eine anschauliche Darstellung der verschiedenen Sphären in dem hierarchischen Aufbau des Universums als auch des Weges, den die menschliche Seele auf der Reise ihrer eigenen Entwickelung zur Vollkommenheit gehen muß.
Ein entscheidender Punkt war der Wert, den man der moralischen und spirituellen Entwickelung des Menschen beimaß. Mithras als Erlöser "erlöste" nicht die individuelle Seele; er machte die Erneuerung der Lebens möglich; aber der Mensch mußte selbst, von sich aus, eigene Anstrengungen machen, er mußte die Erlösung in sich selbst finden. Dieser Gedanke war der christlichen Lehre genau entgegengesetzt, denn ihrzufolge konnte die wirkliche "Erlösung" nicht ohne die Gnade der göttlichen Gestalt erfolgen, sie ging also mehr passiv vor sich.
Es ist augenscheinlich, daß der Mithraskult weit von einer primitiven Naturanbetung oder von einer abergläubischen Vorstellung über die himmlischen Bewohner des Olymp entfernt war. Manche wurden wohl von seinen Ritualen und seiner Mystik gefesselt, andere wiederum fanden an seiner umfassenden Philosophie und an seiner ausgeprägten Toleranz Gefallen. Aber jeder einzelne mußte seine feste Absicht und seine Aufrichtigkeit beweisen, ehe er einen Grad weiterschreiten und etwas von den Mysterien selbst erfahren konnte. Es war ein bedeutsamer Schritt, der nicht unbesonnen auf sich genommen werden durfte. Es steht außer Frage, daß der persische Gott des Lichtes den hochkultivierten Römern jener Zeit sehr viel zu bieten hatte.