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Ewiges Suchen

Das Herz des Menschen, der seine Sinne beherrscht, gehört stets den Inneren Reichen an, und deshalb zieht er die Herzen aller Menschen mit seinem Herzen an. - Tao Teh King

 

 

 

Seltsam, wie ein Bild das Auge fesseln und die Imagination inspirieren kann! Vor einigen Monaten, als ich die Tageszeitungen durchblätterte, sah ich die Abbildung eines chinesischen Ständers aus Bronze, der zum Abbrennen von Weihrauch dient. Er stellte Laotse auf einem Wasserbüffel dar. Es war eine der feinsten und seltensten Wiedergaben, die zeigte, zu welcher Höhe die chinesische Kunst während der Sung-Dynastie (960 bis 1280 n. Chr.) emporgestiegen war. Diese hauchdünne Arbeit ist 21 cm hoch und mit "einer wunderschönen, gelbgrünen Patina überzogen."

Ich war von dem Ausdruck ungezwungener Heiterkeit, Schlichtheit und Gelassenheit beeindruckt. Das war einmal eine ganz andere Art, Laotse auf einem Ochsen reitend darzustellen, als es für gewöhnlich geschieht. Hier ist der 'Große Alte' ausgeglichen und wirkungsvoll dargestellt. Voll Ruhe beherrscht er den Wasserbüffel. Sein Gesicht ist von Frieden erleuchtet, und das Auge des Inneren Schauens ist klar in die Mitte der Stirn gezeichnet. In seiner ausgestreckten Hand aber hält er eine Schriftrolle, die anscheinend die Rolle der Weisheit sein soll. Auf mich wirkte das Gesamtbild wie das lebende Symbol eines Erleuchteten, der 'sieht' und 'weiß' und der "der Weg, die Wahrheit und das Licht" geworden ist. Mehr noch, er vermittelt einen seltsamen Eindruck, der besonders überzeugend ist: ein Strahlen im Auge, eine Freizügigkeit der Linie und dennoch voll Reinheit, ein spirituelles laissez-faire und eine Natürlichkeit, die die tiefgründige Erhabenheit und Einzigartigkeit von wu wei oder dem 'ruhigen Sein' der taoistischen Philosophie ausdrückt.

Laotse beschreibt die Zeitlosigkeit und Tiefe des Tao folgendermaßen:

Der Weg geht durch leeren Raum,

Der angefüllt, doch nie erfüllt ist.

Es ist Unendlichkeit,

Wie ein Ahnherr,

Von dem alles ausgeht.

 

Ein tiefer Teich ist da,

Der niemals austrocknet!

Woher er kommen mag,

Das weiß ich nicht.

Er ist wie ein Vorhof zu Gott.

Die freie Betrachtungsweise in diesem Vers und seine frische, bildhafte Sprache sind durchweg in allen einundachtzig Kapiteln des Tao Teh King enthalten. Seine Präzision konzentriert die Gedanken ungewöhnlich scharf. Dies beruht zum Teil darauf, daß jedes chinesische Ideogramm ein Symbol für sich ist und der Definition weiten Raum läßt. Das macht selbstverständlich die Aufgabe, dieses kleine klassische Werk der chinesischen Literatur ins Englische und in andere moderne Sprachen zu übersetzen, außergewöhnlich schwierig, obwohl seit Jahren Gelehrte vieler Länder davon Übersetzungen und Erläuterungen dazu veröffentlicht haben. Ich glaube, R. B. Blakney und Isabella Mears haben in ihren Wiedergaben klarer als andere "den feinen, verborgenen Sinn" des Tao erfaßt. Blakney weist auf die "kraftvolle Schlichtheit der Begriffe" und die enorme Sparsamkeit der Sprache hin, "die zündet wie ein Blitz in der Nacht."

Laotse, der im sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt lebte, bringt uns in Erinnerung, daß die wirkliche und einzige Autorität eines Menschen von innen kommt:

Wer kann der Welt von Nutzen sein

Mit der in sich erreichten Fülle?

Nur der allein, der kennt den Weg,

Der weise Mensch,

Bereit zu handeln aus sich selbst,

Der Mensch, der nicht abhängt von den Launen anderer.

Doch nicht des hohen Ranges wegen wird haben er Erfolg,

Denn er will nicht mit Überlegenheit nur prunken.

Isabella Mears ist der Meinung, daß Tao-Teh tatsächlich "der Bewußtseinsstrom des Lebens" und "die Entfaltung des Lebens" ist. Die Bedeutung ist besser zu verstehen, wenn man dem Grundsatz von wei-wu-wei wirklich folgen kann, der paradoxen, unscheinbaren Idee, worin jedoch alles enthalten ist vom Handeln im Nichthandeln, die denjenigen, die die Bhagavad-Gîtâ studieren, ganz vertraut ist. Obwohl wu eine negative Bezeichnung ist, hat es, vom Gesichtspunkt der geistigen Bestrebung aus, eigentlich eine positive Bedeutung. Wenn wu-wei mit 'nicht bestrebt sein' übersetzt wird, so bedeutet es, daß man einem Problem nicht dadurch Bedeutung verleihen soll, indem man ihm übermäßig Gewicht verleiht; auch soll man einer Situation nicht den persönlichen Willen aufdrängen, denn dadurch gibt es dementsprechende Reaktionen. Um nutzloses Streben zu vermeiden, ist es daher notwendig, daß man die Aufmerksamkeit auf das innere Leben konzentriert, um den Weg zu finden, indem man ihn durch persönliche Initiative sucht:

Mit Freuden nimmt der Weg dann jene auf,

Die beschlossen, ihn zu gehen;

Mit Freuden stützt er dann auch jene,

Die streben gut zu nutzen ihn.

bild_sunrise_21970_s54_1Das chinesische Ideogramm für wu ist nach der Meinung einiger Experten ein aufwärtsfliegender Vogel - eine Andeutung für uns, dem Weg so ungezwungen und natürlich zu folgen, so wie ein Vogelgesang an einem Frühlingstag seinen Weg geht, so allmählich und unmerklich wie das Öffnen einer Blume von der Knospe bis zur vollen Blüte. Ein anderes Wort für wu-wei ist P'o, ein Ideogramm für Baum, daher ein "noch unbearbeiteter Holzstamm", der wiederum den natürlichen Zustand der Dinge andeutet. Eine andere verwandte Bezeichnung ist Tzu-jan, und bedeutet wörtlich aus sich selbst, von tzu, selbst: also spontan, ganz von selbst. Dieses Wort übermittelt besonders die Idee, zu versuchen, sein wirkliches Selbst zu sein, ohne Täuschung oder Ziererei. Eine Chrysantheme ändert sich nicht mitten in ihrer Entwicklung und wird eine Rose. Sie enthüllt ihre Schönheit, die ganz spezifisch zu ihr gehört. Tzu-jan scheint also die Wichtigkeit des ungezwungenen Wachsens der Individualität hervorzuheben. Es unterstreicht aber gleichfalls die Notwendigkeit des Selbstvergessens, um das wirkliche Selbst zu erkennen.

Bildtext: Kunstmuseum Worcester.

Der weise Mensch will stets der Letzte sein

Und wird dadurch der Erste dann.

Sich selbst verleugnend ist gerettet er,

Denn findet er Erfüllung nicht,

Indem er ist ein selbstloser Mensch?

In einem noch anderen Sinne bedeutet wu-wei nicht 'etwas sein zu wollen' und sich damit zu quälen, 'zu versuchen, so zu sein', sondern einfach 'da zu sein' und 'zu handeln', und zu versuchen, das Leben zu leben und in allem Handeln wahrhaftig zu sein, dabei den Ursprung der Einheit in uns selbst und im gesamten Leben zu finden, wo ewige Stille herrscht.

Aber wie fängt man damit an? Diese ganz simple Antwort finden wir im Tao-Teh-King:

Die tausend Meilen lange Reise

Begann mit einem einzigen Schritt vom Boden.

Welch' besseren Hinweis könnte es geben? Immer ist der Anfang das Schwierigste, doch wir wissen, daß andere vor uns das Ziel erreicht haben, und daher können auch wir erfolgreich sein. Zugegeben, der Abstand zwischen dem Wollen, den spirituellen Weg zu gehen, und dem Vollbringen ist groß. Es ist eine lange, lange Reise, die Bescheidenheit, Unterscheidungsvermögen und Selbstverleugnung erfordert, ehe der Pfad und der Wanderer Eins werden. Um dem Pfad folgen zu können muß man Stärke und Disziplin besitzen. Doch mit Frohsinn und Optimismus gibt das Tao-Teh-King Ermutigung:

Siehe den Umfang dieses Baumes!

Auch er wuchs aus der Faser eines Stengels.

Die Encyclopaedia Britannica (Ausgabe 1937) enthält eine Photographie dieses Weihrauchständers mit folgendem Kommentar: "Der Wasserbüffel, eines der gefährlichsten und am schwierigsten zu zähmenden Tiere, wird von den Philosophen als Symbol für die Macht des gütigen Denkens gewählt." Von diesem alten taoistischen Symbol, das in der Sung-Periode sehr populär war, sind mehrere Darstellungen der "Zehn Bilder vom Ochsenhüten" geschaffen worden. Der Bulle oder Ochse versinnbildlicht oft das ewige Prinzip des Lebens und die Bilderfolge zeigt Schritt für Schritt eine Darstellung der geistigen Entfaltung. Eine dieser Serien, die von einem unbekannten Künstler gezeichnet wurde, schildert die langsame Veränderung eines schwarzen Ochsen zu einem weißen. Sogar eine schwarze Wolke wird in einen Haufen weißer Wolken umgewandelt, womit auf die allmähliche Auflösung der Dunkelheit des menschlichen Zweifels und der Versuchung hingewiesen werden soll.

Eine andere Bilderreihe, Kaku-an zugeschrieben, ist es wert, im einzelnen näher betrachtet zu werden.1 Ohne die Illustrationen, von denen jede in einem Kreis gefaßt ist, geht viel von der Anmut verloren. Erklärungen in Prosa und in Versen erläutern sie jedoch, so daß es möglich ist, hier eine kurze Zusammenfassung zu geben und den Fortschritt des Ochsenhirten zu verfolgen:

I. Die Suche nach dem Ochsen:

Bestürzt steht der Ochsenhirte da und schaut zurück. Der Wunsch nach Selbsterkenntnis ist erweckt worden, aber er weiß nicht, was richtig und was falsch ist. Getäuscht durch die Sinne ist er entmutigt. Er sieht das Ziel wie einen "nicht endenwollenden Pfad" in weiter Ferne. In Wirklichkeit ist der Ochse da, aber weil der Hirt des Ochsen, durch die Schranken, die er selbst aufgerichtet hat, geblendet ist, sieht er ihn nicht.

II. Er sieht die Spuren:

Einen Fuß vor den anderen setzend, dreht der Ochsenhirt seinen Kopf in die Richtung seines Zieles. Er sieht die Fußabdrücke des Ochsen, den ersten Schimmer seines potentiellen Selbstes.

III. Er sieht den Ochsen:

Im dritten Bild sieht er den Ochsen, der fast den Kreis verlassen hat. Jetzt wird er die Einheit und Harmonie des gesamten Lebens in sich und außerhalb seiner selbst gewahr.

IV. Er fängt den Ochsen:

Er fängt den Ochsen ein, kann ihn aber nicht ständig festhalten, selbst wenn er es mit der ganzen, ihm zur Verfügung stehenden Kraft versucht. Das Tier ist wild und ungezähmt. Das Gemüt des Ochsenhirten ist schwankend.

V. Er hütet den Ochsen:

Das ist wahrscheinlich der schwierigste Vorgang von allem. Peitsche und Strick sind notwendig. Der Ochsenhirt hält den Nasenring fest. Er muß sich auf das Ziel konzentrieren und darf keinem Zweifel Raum geben.

Wird der Ochse richtig gehütet, so wird er natürlich wachsen und gelehrig sein;

Ohne Kette, ohne etwas, das ihn bindet, wird er von selbst dem Hirten folgen.

VI. Heimritt auf dem Rücken des Ochsen:

Das Ringen ist vorüber. Die Illusion ist überwunden. Sein Herz und sein Gemüt sind auf den Weg des Geistes gerichtet.

Auf dem Tier reitend, wendet er sich ohne Hast heimwärts:

Eingehüllt im Abendnebel, wie ein melodisch verklingendes Flötenspiel!

Ein Liedchen singend, vertreibt er sich die Zeit;

Sein Herz ist erfüllt mit einer unbeschreiblichen Freude!

Daß er nun einer von jenen ist, die Weisheit erlangt haben: muß es gesagt werden?

VII. Der Ochse ist vergessen, der Mann bleibt allein:

Hierbei spricht man manchmal von der Transzendenz des Bullen. Im Bild ersetzt ein Kreis, der zum ersten Male in der Luft erscheint, den Ochsen, denn "der Ochse ist nicht mehr. Ruhig, heiter sitzt der Mann allein da." Der Kreis ist die Sonne oder der Mond und soll das Höhere Selbst darstellen: "Dieser eine Strahl ruhigen und durchdringenden Lichtes scheint auch schon vor den Schöpfungstagen."

VIII. Sowohl der Ochse als auch der Mann sind außer Sicht:

Alles ist eins. Dieses Nicht-da-sein wird nur von einem leeren Kreis symbolisiert.

Wenn dieser Zustand eintritt, dann hat sich der Geist des uralten Meisters manifestiert.

IX. Rückkehr zum Ursprung, zurück zur Quelle:

Es gibt keine äußeren Formen mehr: "Er beobachtet das Wachsen der Dinge, während er selbst sich in der unbeweglichen Ruhe des Nicht-Vorhandenseins befindet."

X. Er betritt die Stadt mit segenspendenden Händen:

In echter Bescheidenheit kehrt er zurück, um der Menschheit zu helfen. "Kein Schimmer seines inneren Glanzes ist zu erkennen":

Mit nackter Brust und barfuß kommt er auf den Marktplatz:

Beschmiert mit Schlamm und Asche, wie frei er lächelt!

Er bedarf nicht der Zauberkraft der Götter,

Wenn er etwas berührt, siehe da!

Die toten Bäume sind in voller Blüte.

Durch diese lebendige Schilderung wird es offenbar, daß in dem Symbol von Laotse auf dem Wasserbüffel der Weg, der Wanderer und das Ziel eins sind - Tao. Das Tao-Teh-King lehrt, daß der Weg nur dem geoffenbart wird, der ihn sucht. Er kann nicht gelehrt werden. Er muß von jedem unmittelbar erfahren werden:

Wollen zum Inneren Leben wir gelangen,

So führt das durch die eigene Tür.

Je selbstloser das Bestreben ist, desto geringer wird das Ringen sein, um auf dem richtigen Weg verbleiben zu können und desto weniger niederdrückend werden die Zweifel sein, die jedem Wanderer am Anfang des Weges kommen. Dabei können wir es uns aber auch nicht leisten, die Stärke des Feindes zu unterschätzen - jenes Feindes, der in Wahrheit die Verkörperung unserer persönlichen Wünsche und Bindungen ist. Die Dualität des Lebens gibt es überall. Deshalb werden die opponierenden Elemente im Charakter des Menschen sein Motiv herausfordern, sobald Energie und Interesse für den Pfad des Geistes erweckt sind. Je mehr man deshalb dem natürlichen Lauf ohne Hast folgen kann, desto erfolgreicher wird man sein.

Die Weisheit Laotses ist für die Praxis, mit Vorschlägen, die dem Leben angepaßt sind, damit man dem Mittelweg folgen kann und mit den eigenen Füßen fest auf der Erde bleibt. Wenn man das tut, dann wird die Bedeutung des 'ruhig seins' klarer, und zwar je mehr man davon überzeugt ist, daß die Wahrheit in jedem Augenblick des Tages ein unzertrennlicher Teil unseres Lebens ist. Wenn wir zu der inneren Stille kommen können, die es uns ermöglicht die Eingebungen des Wissenden oder Gottes zu fühlen oder zu 'hören', dann werden wir uns auf dem Wege des Friedens und Verstehens befinden. Das ist keine Passivität, sondern vielmehr ein Kanal der Stärke, ein Ausrichten aller Elemente des menschlichen Bewußtseins. Das Ergebnis ist außergewöhnliche Gemütsruhe. So wie die Kraft eines Flusses durch Konzentrierung der Energie gebändigt wird und dadurch elektrische Kraft liefert, so wird man durch Selbstlosigkeit und Selbstdisziplin von ganz allein zum Ausdruck des wirklichen Selbstes ein geeignetes Werkzeug für den Weg.

Es ist ein einzigartiges Vergnügen, den 'Großen Alten' auf dem Wasserbüffel zu betrachten und über die zeitlose Geschichte der geistigen Entfaltung nachzudenken, die dieser Weihrauchständer mit schlichter Schönheit erzählt. Man kann sich beinahe vorstellen, wie sich die Rauchkringel des entzündeten Weihrauches emporschlängeln, und man glaubt die Worte des Laotse zu hören: "So habe ich es empfangen und so werde ich es weitergeben", bis alle Menschen überall den Weg des Tao finden werden.

Fußnoten

1. Siehe Manual of Zen Buddhism von D. T. Suzuki, Seite 127-144. [back]