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Atlantis – Tatsache oder Fabel? 2. Teil

Es wäre ein Irrtum anzunehmen, nur Plato hätte einen Bericht über Atlantis geschrieben. Homers Odyssee enthält auffallende Parallelen. Wahrscheinlich wird aber auch bei ihr angenommen, daß sie nur eine Schilderung einer Fahrt ins östliche Mittelmeer sei - wie Professor Galanopoulos es betrachtet haben möchte. - Ein Schnitt wird gemacht, ähnlich wie man ihn bei der Stiefschwester von Aschenbrödel gemacht hat, nur damit der Pantoffel paßt. Wie Atlantis, so ist Homers Scheria, das "Land der Phaiaken", Poseidon geweiht. Scheria besaß eine große Seemacht und wurde nicht von zehn Königen regiert (wie Atlantis), sondern von zwölf, wobei Alkinoos als Oberhaupt anerkannt wurde. Die Hauptstadt, die ebenfalls grenzenlosen Reichtum entfaltet hatte, zeigt Merkmale, die der Hauptstadt von Platos Atlantis außerordentlich ähnlich sind. Die Odyssee enthält jedoch zusätzlich noch eine Tatsache von bedeutender Wichtigkeit. Die Hauptstadt von Homers König Alkinoos lag an der Mündung eines Flusses, dessen Wasser durch die Gezeiten bei Flut mit gewaltiger Kraft und Stärke flußaufwärts getrieben wurde - ein Phänomen, das im östlichen Mittelmeer ganz unbekannt ist, vor allem im Ägäischen Meer, wo der geringe Anstieg des Wassers kaum zu bemerken ist.

Die Sache mit den Gezeiten ist wichtig. Der griechische Geograph Strabo (geb. um 63 v. Chr.) versichert, daß Homer genaue Kenntnisse in der Seefahrt besaß. Er identifiziert Scheria mit dem alten Königreich Tartessos im südlichen Spanien. Tartessos, das biblische Tarschisch, war berühmt wegen seines großen Reichtums. Diesen hatte es als Seemacht durch Handel und gewinnbringenden Bergbau erworben. Strabo legte die Hauptstadt an den Guadalquivir-Fluß. Moderne Archäologen, wie Professor Adolf Schulten aus Deutschland, waren durch dicke Schichten Schlamm gedrungen, der sich Jahrhunderte hindurch abgelagert hatte. Nun legten sie die Ruinen von zwei verschiedenen Städten frei, von denen eine über der anderen lag. Die ältere mußte, zeitlich gesehen, etwa 3 000 v. Chr. ihre Blüte gehabt haben. Die Menschen, die in diesem Gebiet lebten (das sich von Cadiz nördlich zum Guadiana und nach Osten bis Cordoba erstreckte), waren die Turdetanen. Strabo meint, daß diese intelligenter und kulturell fortgeschrittener waren als die iberischen Stämme. Sie waren auch eine ganz andere Rasse. Er berichtete, daß sie "eine große und mannigfaltige Literatur" besaßen. Ein Teil davon, so wurde behauptet, sei sehr alt.

Unter jenen, die Spaniens Tartessos mit Homers Scheria und mit Platos Atlantis in Verbindung bringen, ist Edwin Björkmann der wichtigste. In dem Buch: The Search for Atlantis (Die Suche nach Atlantis) schreibt er:

Erst jetzt fangen wir an zu begreifen, mit welcher auffallenden Beharrlichkeit die Überlieferungen von Zeitalter zu Zeitalter weitergereicht werden, so daß das Gedächtnis der Rasse schon lange überlebte Geschehnisse als Erinnerung bewahrt.

Er sieht nicht nur in den Berichten von Strabo, Herodot und im Tarschisch des Ezechiel "eine unverkennbare Identität", sondern er lenkt auch die Aufmerksamkeit auf das ihnen allen gemeinsame Merkmal einer erstaunlich reichen und hochkultivierten Handelsstadt mit ausgedehnten Handelsbeziehungen. Dennoch scheinen verschiedene Punkte in Platos Dialog Kritias übersehen worden zu sein. Zum Beispiel der prächtige Platz mit dem verschwenderisch geschmückten Tempel des Poseidon. Er war anscheinend das Herz der atlantischen Zivilisation und stand in der Nähe eines etwas kleineren Tempels, der Cleito, Poseidons sterblichem Weibe, geweiht war, die die Mutter von Atlas und Ahnfrau des Atlantischen Volkes gewesen war. Strabo erwähnt solche Bauten in Tartessos nicht. Um etwas derartiges zu finden, was den gegebenen Beschreibungen gleicht, müssen wir allerdings die Überreste alter amerikanischer Zivilisationen etwas näher betrachten. Zum Beispiel den gewaltigen 'Sonnentempel' in Teotihuacán, in der Nähe der Stadt Mexiko, der in sich einen kleinen Zwillingstempel einschließt, den unsere Gelehrten 'Mondtempel' nennen.

Von einer einst in den östlichen Mittelmeerländern vorhandenen beträchtlichen Literatur stehen uns nur noch Fragmente zur Verfügung. Auch aus einer großen Sammlung von Überlieferungen über frühere direkte Verbindungen mit dem durch die Namen Tartessos und Gades angedeuteten Gebiet, kennen wir nur einige Zwillingsstädte, die Atlas und Gadeiros, den Zwillingsmonarchien in manchen Legenden über Atlantis gleichkommen.

Homer selbst muß viele derartige Überlieferungen gekannt haben, die er, seinem eigenen Verständnis entsprechend, weiter gab. Seine Phaiaken schickten zum Beispiel Odysseus auf einem Schiff, das aus eigenem Antrieb und so schnell wie der Wind fuhr, in sein Heimatland zurück. Vor hundert Jahren noch muß das für Gelehrte wie ein Märchen geklungen haben, doch heute ist das nicht mehr so. Kennen wir nicht die automatische Steuerung? Und wäre den archaischen griechischen Seeleuten die Geschwindigkeit unserer schnellsten Schiffe nicht flinker vorgekommen als der Gedanke? Alles das wird durch Professor Hapgoods bestätigt, dessen Forschung zeigt, daß es alte Karten gibt, die viel genauer sind, als alles, was es gab, bevor es möglich war, mit Hilfe von Unterwasserortungsgeräten und anderen Erfindungen neuere Aufzeichnungen herzustellen. Wenn solche Karten vor dem letzten 'Eiszeitalter' hergestellt werden konnten, dann ist es auch denkbar, daß es damals eine Zivilisation mit einer Technologie gab, die der unseren ebenbürtig, wenn nicht überlegen war. Einen Kurs festzulegen, um in 14 Tagen Ithaka zu erreichen, wäre nicht unmöglich. - Dieser Hinweis Homers verlegt Scheria in der Tat weit über das Mittelmeer hinaus in den Atlantik!

Der Verfasser dieser Zeilen ist der Meinung, daß die Berichte über zwei oder mehr 'große Kriege' im Verlaufe der Zeit miteinander verschmolzen wurden. Was in der Ilias berichtet wird, ist im wesentlichen nicht nur eine vor-griechische Darstellung eines Handelskrieges mit einer der trojanischen Städte, deren Ruinen die Archäologen jetzt in einer Anzahl übereinanderliegender Schichten finden, sondern auch eine verschwommene Erinnerung an einen früheren Kampf mit einem mächtigeren Feind als dem alten Troja: ein Kampf, in dem wahrscheinlich die "Götter" kämpften und der nur zu einer Schlacht umgewandelt wurde.

Das Gebiet von Tartessos in Spanien ist der Ort, an dem Mrs. E. M. Whishaw vor einigen Jahrzehnten Ausgrabungen vornahm. Sie ist eine wohlbekannte Archäologin. Nach jahrelanger Arbeit im Gelände fand sie den Beweis für eine kühne Behauptung: daß nämlich mindestens zehntausend Jahre v. Chr. in Spanien "eine außerordentlich weit fortgeschrittene vorgeschichtliche Zivilisation" existierte. Beim Graben fand sie in den Schlacken der berühmten Rio Tinto Minen in der Provinz Huelva, daß die allerältesten Teile der Schlackenhalden auf großartige Fähigkeiten der verschiedenen Völker hinwiesen, die hier Bergbau betrieben hatten. Ihre Ausgrabung der "Befestigungsanlage", die "Schloß" von Niebla genannt wird, legte, nachdem verschiedene Schichten mit römischen Ziegelsteinen und dem später vorgenommenen arabischen und mittelalterlichen Verputz entfernt worden waren, eine lang verborgene Mauer aus behauenem Stein frei. In ihrem Buch Atlantis in Andalusien schreibt sie:

Wir sehen, hier sind nicht weniger als sechs Epochen vertreten, die, vom fünfzehnten Jahrhundert an gerechnet, rückwärts reichen: die mittelalterliche, die arabische, die römische, die frühgeschichtliche hormazo-Periode, die sicherlich lange vor dem Bronzezeitalter in diesem Teil von Iberien blühte, ... die vorgeschichtliche hormigón-Periode (ein Material wie hormazo, nur älter), die in eine Zeit zurückreicht, in der die Töpferei anscheinend noch unbekannt war, und schließlich die hochzivilisierte Arbeit aus behauenem Stein. Die Überreste müssen schon Ruinen gewesen sein, als sie als Stützwerk für neue, aber immer noch vorgeschichtliche Festungsanlagen benutzt wurden. Zuerst wurde hormigón und dann hormazo darum herum gebaut.

Mrs. Whishaw schließt daraus als einzige vernünftige Folgerung, daß die kunstvoll behauene Steinmauer atlantischen Ursprungs sein muß. Wahrscheinlich wurde sie von einer Kolonie von Ansiedlern errichtet, die im Auftrag des Mutterlandes in den Minen gearbeitet haben. Unter den Bewohnern Andalusiens gibt es auch Überlieferungen, auf die Mrs. Whishaw hinweist. Diese handeln von einer Sintflut, die, da sie keinerlei Hinweise auf Noah und seine Arche enthalten, vage Stammeserinnerungen an die Überflutung der noch übriggebliebenen Insel Platos sein müssen, die seiner Beschreibung nach außerhalb der Meerenge des Herkules im Atlantischen Ozean gelegen haben muß.

Homers Beschreibung von Ogygia, der Insel, auf der Kalypso (Tochter von Atlas und Enkelin Poseidons) wohnte, und die Odysseus festhielt, deutet auf Madeira und die benachbarten Inseln hin. Im östlichen Mittelmeer entspricht keine Gegend dem Bilde, das wir uns aufgrund der schriftlichen Erzählungen machen. Vor einigen Wochen kam mir zufällig eine deutsche Zeitschrift in die Hand. Sie enthielt einen Artikel, der ausführlich die Untersuchung von Pastor Jürgen Spanuth behandelt. Nach seiner Meinung ging die Odyssee durch die Meerenge des Herkules in den Atlantischen Ozean, verweilte dann für kurze Zeit auf Madeira und führte von da aus weiter nach Scheria. Für Pastor Spanuth lag Scheria auf einer großen Insel vor der westlichen Küste Deutschlands, von der Helgoland heute der einzige Überrest ist. Er berichtet, daß die Archäologen auf dem Schelf, aus dem sich Helgoland erhebt, unter dem Wasser etwas entdeckten, was eine verschwenderisch ausgestattete Stadt mit ansehnlichen Gebäuden aus rotem und weißem Stein, mit einer Mauer, einem Tempel und einem Palast gewesen sein muß. Es ist natürlich allgemein bekannt, daß Helgoland - in dem er das Original von Platos Atlantis sieht - einst viel größer war, als es jetzt ist, denn die See hat beständig an seiner Küstenlinie genagt. Die unterschiedliche Größe können wir sogar jetzt feststellen, wenn wir die Insel betrachten, wie sie 1914 war und wie sie heute ist. Damals war sie noch groß genug, um der deutschen Flotte genügend Zuflucht zu bieten. So romantisch eine solche Verbindung auch wäre, so liegt doch die Zeit, die Pastor Spanuth dafür festlegt, nämlich 1200 v. Chr., in der die Atlantier dort hätten gelebt haben sollen, der unseren zu nahe. Nur in folgendem stimmt er mit Professor Galanopoulos wenigstens überein: Beide behaupten, daß die Inschrift auf einer ägyptischen Mauer aus der Zeit Ramses III. den gleichen Text enthält, wie die zwei Säulen oder Pfeiler, auf die sich Plato oder Crantor beziehen, und der über den Kampf mit den Atlantiern berichtet. Wo der griechische Gelehrte jedoch die Atlantier mit der Minoischen Kultur gleichstellen möchte, da stimmt Pastor Spanuth nicht mit ihm überein.

Wenn hier auf die Route der Odyssee hingewiesen wurde, so gehört das unbedingt dazu, denn sie ist das Gegengewicht zur Anschauung von Professor Galanopoulos, nach dessen Theorie der Vulkan Santorini das Gebiet von "Atlantis" vernichtete (s. Teil 1). Er meint, der Ort muß im Ägäischen Meer gelegen haben, weil Poseidon und Herkules nur in diesem Gebiet Gegenstand kultischer Verehrung waren. Was aber Tartessos in Spanien anbetrifft, ob es nun der Ort von Homers Scheria und Platos Atlantis war oder nicht, Tartessos stand tatsächlich unter der Schirmherrschaft von Poseidon, dem Ahnherrn des phaiakischen Königs Alkinoos.

Wenn wir die Vergangenheit der schattenhaften Umrisse einer uralten Macht, die über den kleinen Gemeinschaften von sogenannten primitiven Menschen stand, aufdecken würden, dann könnten wir der Betrachtung der europäischen Tatsachen, Mythen und Legenden noch viel mehr Zeit und Raum widmen. Wollen wir aber noch mehr Beweise haben, daß Atlantis bestanden hat, dann müssen wir nach der Neuen Welt blicken.

Zuvor sei nur noch erwähnt, daß auch die iranische Volkskunde von zehn Königen erzählt, wie bei Atlantis und Scheria, die zehn bzw. zwölf Könige hatten. Die zehn iranischen Könige sollen ihren Sitz in einer jetzt verschwundenen Metropole, Khanomm genannt, gehabt haben. Weiterhin macht auch H. P. Blavatsky1 darauf aufmerksam: "Wenn wir nun die von den persischen Erzählungen erwähnten 9 000 Jahre mit den 9 000 Jahren vergleichen, die nach Platos Erklärung seit dem Versinken der letzten Atlantis vergangen waren, ..." - vor Solons Zeit. Außerdem beziehen sich die Purânen und andere indische Schriften auf verschiedene sehr große Kontinente der Vergangenheit, die zerbrachen und verschwanden. Dabei wird ebenfalls von einer Insel gesprochen, "dem dritten Schritt" Vishnus, der als Nârâyana oder "Beherrscher der Meere" für die Hindus das ist, was für andere Poseidon oder Neptun darstellt.

 

(Fortsetzung folgt)

Fußnoten

1. Die Geheimlehre, Bd. II, S. 412 (deutsche Ausgabe) [back]