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Der Zauber der Höhle von Lascaux

Vor einigen Wochen kamen wir bei einem Lunch mit Freunden auf die prähistorische Höhlenkunst zu sprechen, die nach heutiger Ansicht etwa 20000 bis 50000 Jahre alt ist. Einige konnten nicht verstehen, wie primitive Völker so schön und mit solch einem Sinn für Linie und Ausdruck haben zeichnen können. Andere waren, ebenso wie ich, über die moderne Vorstellung entrüstet, nach der wir menschlichen Wesen selbst in jener weit zurückliegenden Zeit nur eine Stufe über den Tieren gestanden haben sollten. Zu Hause suchte ich unsere örtliche Bücherei auf und fand zwei ausgezeichnete Bücher: Das eine behandelte die Höhle von Lascaux in Frankreich, während das andere eine Gesamtdarstellung der Felsenmalerei in Europa, Afrika und Australien gab. Beide enthielten reizende farbige Illustrationen mit beschreibenden Kommentaren. Aber das größere Werk über Lascaux sprach mich besonders an.1

Seit im Jahre 1879 ein kleines Mädchen zur Decke einer Höhle in Altamira schaute und dort gemalte Tiere sah, wurde nacheinander ein ganzes Netzwerk von Höhlen und Grotten mit Tausenden von Zeichnungen im Norden Spaniens und entlang der Flußtäler und Kalksteinfelsen der Dordogne in Südwest-Frankreich entdeckt. Aber selbst wenn nur die Kunst von Lascaux ans Licht gekommen wäre, hätten die Archäologen ihre Ansicht über den Menschen der Frühzeit überprüfen müssen.

An einem September-Nachmittag des Jahres 1940 gingen vier Jungen aus der französischen Stadt Montignac ernstlich daran, eine ungewöhnlich tiefe Höhlung zu untersuchen, die etwa eine Meile entfernt in Lascaux durch einen entwurzelten Baum freigelegt worden war. Es gingen die Gerüchte um, daß es ein Eingang zu einem mittelalterlichen Tunnel sei. Der Gedanke an verborgene Schätze spornte die Burschen an, als sie sich durch Gestrüpp und Schmutz vorwärts arbeiteten und durch die enge Öffnung zwängten. Plötzlich verschwand der erste Junge in der Dunkelheit: er war auf die lockere Erde am Boden einer großen unterirdischen Höhle gefallen. Die anderen beeilten sich, zu ihm zu kommen. Sie zündeten die mitgebrachte Lampe an und forschten vorsichtig weiter. Der Hauptraum war schätzungsweise 9 x 30 m groß und enthielt Durchgänge zu angrenzenden Kammern. Die Wände waren mit Tierfiguren bedeckt: Rinder, Rhinozerosse, Pferde, Hirsche und Steinböcke, die so realistisch farbig gezeichnet waren, daß man den Eindruck hatte, als würden sie leben und sich bewegen.

Begeistert vom Ergebnis ihres Abenteuers kehrten sie mehrmals zurück. Schließlich baten sie ihren früheren Schullehrer, Léon Laval, sie zur Höhle zu begleiten. M. Laval war sich bewußt, wie vorsichtig man in diesen Dingen sein mußte und zögerte. Er konnte ihren glühenden Erzählungen nicht glauben, ging aber schließlich doch mit ihnen. Als er in der Höhle war, schwanden seine Zweifel. Er bewunderte und prüfte die Zeichnungen mit wachsender Begeisterung und Erstaunen. Dies waren die schönsten Beispiele französisch-kantabrischer Steinzeit-Kunst, die er je gesehen hatte, und sie waren am weitaus besten erhalten.

Er benachrichtigte sofort Abbé Henri Breuil, den berühmtesten Sachverständigen der Welt auf dem Gebiet der paläolithischen Kunst, der wenige Tage später eintraf. Er und andere Archäologen und Prähistoriker untersuchten die Höhle genauestens. Sie stuften sie in die Zeit des Jung-Paläolithikums ein, als sich die letzte große Eiszeit über Europa ausbreitete. Breuil schrieb später, daß ihn die Tierbilder "in ihrem primitiven Charakter und der Lebendigkeit der Bewegung, manchmal ein wenig roh und naiv", an die Werke der "frühen Renaissance-Künstler erinnerten."

Die Mannigfaltigkeit der Technik, die in verhältnismäßig kurzer Zeit entwickelt wurde, deutet auf eine Art von künstlerischem Fieber hin, das reich an Eingebungen und Erfahrungen war. Niemand hätte in dieser weit entfernten Periode, von der wir nur ein paar sichere Bruchstücke kennen, solch einen Ausbruch einer so bedeutenden und in ihrer Art vollkommenen Kunst erwartet.

Es ist klar, daß diese bemerkenswerten Bilder nicht das Werk eines Primitiven waren, wie wir ihn uns vorstellen: ein halbintelligenter, behaarter Geselle mit krummem Rücken, der in Höhlen lebt. Sicherlich muß vor einigen 30000 Jahren ein Menschentyp auf Erden gelebt haben, der eine höhere Stufe der Entwicklung repräsentierte. Diese Höhlen-Maler waren mit Vorstellungskraft begabte, schöpferische Menschen, die das Geheimnis kannten, dauerhafte, leuchtende Farben zu mischen. Sie konnten einen unterirdischen Raum mit Licht erfüllen und hatten eine hohe Kunst der Malerei erreicht, die unsere begabtesten Künstler nur bewundern können.

Ende des zweiten Weltkrieges verwandelte die französische Regierung die Höhle von Lascaux in ein historisches Museum, installierte elektrische Beleuchtung und eine Klimaanlage. Gleichzeitig wurden Bronzetüren eingebaut, um die Malereien vor den Witterungseinflüssen zu schützen. Viele Jahre lang strömten die Besucher durch die Haupthalle, bis 1963 die Höhle geschlossen wurde. Zuerst kaum wahrnehmbar, aber dann in den ersten sechziger Jahren deutlich sichtbar, überzog eine Algenart die Oberfläche des Kalksteins und einige der besten Tierbilder begannen trübe zu werden. Jetzt stellen Experten mühsame Untersuchungen an, in der Hoffnung, die weitere Zerstörung aufzuhalten. So sind wir A. Skira für sein wirklich wunderbares Buch dankbar, weil wir mit ihm durch die vielen Farbphotos und erläuternden Texte eine Besichtigung im Geiste unternehmen können.

Wenn wir in die Haupthalle von Lascaux treten, sehen wir das "Unicorn", ein höchst auffallendes Geschöpf mit zwei 'Hörnern' statt des üblichen einen! Es ist das einzige unrealistische Tier in der Höhle und man nimmt an, daß es den Zauberer des Reiches darstellt. Sein Körper hat die Wucht eines Rhinozerosses, vielleicht mit einem Jungen. Sein Schwanz ist ein Stummel, sein Gesicht ähnelt dem eines Löwen und aus dem Vorderkopf ragen zwei lange Stangen oder 'Hörner' mit büschelartigem Ende hervor.

Weiter entfernt davon ist ein Fries mit Tieren, das sich rund um die Wände und über die Decke erstreckt. Die Jungen von Montignac hatten recht: die Tiere wirken lebendig, als ob sie sich geheimnisvoll bewegten und ihre Stellung änderten. Diese kunstvolle Wirkung wurde durch Ausnützung der unebenen Oberfläche der Felswand und durch die natürliche Perspektive des Raumes erreicht. Von einer Seite aus gesehen wirkt ein Stier gedrungen, kurznackig und fett. Aber nur ein paar Schritte weiter erscheint er dünn und gestreckt. Dadurch wurde die Arbeit der Photographen äußerst erschwert. Einige ihrer besonders sorgfältig 'in Pose gesetzten' Aufnahmen zeigten nachher die wunderlichsten Tiere und mußten wiederholt werden.

An einer Wand schreiten vier majestätische Stiere gelassen zur Halle herunter. Jeder ist 4 1/2 m lang. Was ist das Besondere an ihnen, das den Betrachter in Rufe der Bewunderung ausbrechen läßt? Etwas weiter sind drei liebliche, kleine Pferdchen, die wegen ihres gedrungenen Körperbaus oft "Chinesen" genannt werden. Von allen Darstellungen in der Höhle fesselt das Pferd in der Mitte den Beschauer am meisten. An einer weißen Kalkspat-Wand ist es in schwarzen Umrissen mit Mähne und Hufen kräftig betont gezeichnet, während der Körper in zarten gelben, roten und dunkelbraunen Tönen schattiert ist. Davor steht ein Hirsch und weiter weg zwei Steinböcke, die sich anschauen, als ob sie sich unterhalten.

Darüber ist eine große, schwarze Kuh gezeichnet, die über diese Reihe von Tieren springt. Ihr massiger Körper ist anmutig, die Vorderbeine angezogen und der Schwanz durch die Bewegung des Körpers zur Seite geschwungen - so erinnert sie an die Kuh aus dem Kinderlied, die über den Mond springt. Sechs Hirsche mit hocherhobenen Köpfen über einem angedeuteten Wasser, als ob sie von einem Bade zurückkommen, bilden eine weitere reizende Gruppe. An einem gegenüberliegenden Felsen schaut eine zweite riesige schwarze Kuh auf die sich tummelnden, ihrer Obhut anvertrauten Tiere herab.

Jeder fühlt den Zauber in diesem Raum. Hier gibt es ein uraltes Geheimnis, das wir fast begreifen. Erinnerungen an spätere Kulturen, die Tiere mit höheren Kräften als Symbol von Naturkräften ausstatteten, kommen in den Sinn. Der Stier, in jedem Lande als Zeichen des Lebens verehrt, wurde mit dem ägyptischen Sonnengott Osiris in Verbindung gebracht. Die Kuh, beliebt bei den Frauen, stellt die Mutter Erde und Beschützerin dar. In der griechischen Mythologie ziehen die Pferde den Sonnenwagen über den Himmel. Die Hirsche werden als die Plejaden im Sternbild des Stiers, das die alten Hindus verehrten, gedeutet.

Obwohl die Tiere von Lascaux den vertrauten Geschöpfen, die wir heute kennen, ähneln, besitzen sie noch etwas mehr. Die ungestüme Kraft der Stiere, die behagliche Ausdauer der Kühe, die Freude der Hirsche, die Harmonie des einzelnen mit dem Ganzen zeigen spirituelle Eigenschaften, die unsere Sympathie erwecken. Wenn wir mit Bewunderung und Verständnis über die unvorstellbare Entfernung von 30000 bis 50000 Jahren zu diesen Höhlenkünstlern zurückschauen, finden wir eine Verwandtschaft, die wir nicht erwartet hätten - empfindsame Gefährten, die von keulenschwingenden Höhlenmenschen weit entfernt sind.

Fußnoten

1. Prehistoric Painting: Lascaux or The Birth of Art, (Prähistorische Malerei: Lascaux oder die Geburt der Kunst) Text von Georges Bataille, Albert Skira, Lausanne, Schweiz und New York, 1955. 68 Farbtafeln, $ 23.50.

The Art of The Stone Age: Forty Thousand Years of Rock Art, (Die Kunst der Steinzeit: Vierzigtausend Jahre Felsenmalerei) herausgegeben von Hans-Georg Bandi, Crown Publishers, New York, 1961. 60 Farbtafeln, $ 5.95. [back]