Glieder in einer Kette
- Sunrise 6/1968
In einem lebhaften Unterricht über Biologie, den ein Freund und Nachbar von mir besucht, erklärte der Professor, daß alles um uns herum auf einander angewiesen ist, um zu leben und zu wachsen. Die Schüler diskutierten über die gegenseitige Hilfe und Nützlichkeit derer, die zur Waldfamilie gehören und als Beispiel für das Voneinanderabhängigsein und das Zusammenwirken aller lebenden Dinge dienen. Im Lehrbuch heißt es1:
Von den Wurzeln werden Wasser und Chemikalien aus dem Boden, und von den Blättern Gase aus der Luft entnommen. Gleichzeitig nehmen die Blätter die Energie des Sonnenlichtes auf, die Energie, die durch heftige Kernreaktionen in einem Stern frei wird, der 93 Millionen Meilen von uns entfernt ist. Aus diesen Materialien und mit dieser Energie bilden die Pflanzen besondere Nährstoffe, die ... den Anfang für alle Lebensfunktionen des Waldes und seiner Bewohner bilden. ... Selbst der scheinbar leblose Boden wimmelt tatsächlich von Leben, in Formen, die oft zu klein sind, um mit bloßem Auge erkannt zu werden. Hier gibt es unter vielen anderen Milben und winzige Würmer, Bakterien und Schimmelpilze. Selbst die reine Bergluft ist voll von solchen lebenden Wesen wie Sporen, Bakterien und Blütenstaub. ... Alle, von den Bakterien im Boden bis zum Falken am Himmel, bilden einen geschlossenen Verband von Akteuren, die zusammen ein Drama aufführen. ...
In der Gemeinschaft als Ganzes strömen die Baustoffe beständig vom Boden und aus der Luft zur Pflanze, von der Pflanze zum Tier, von einem Tier zum anderen, ... schließlich von der Pflanze und dem Tier zu den Bakterien und zurück zum Boden und in die Luft. ... Die Fliege, die einen Puma sticht, der ein Reh fraß, das sich an den Blättern weidete, gewinnt Sonnenenergie - Energie, die für keinen anderen Organismus erlangbar wäre, wenn sie nicht durch Pflanzen eingefangen und umgewandelt worden wäre.
Auch die Welt der Atome spielt eine Rolle. Die felsige Erdoberfläche und die Mineralien werden nicht nur durch die sie zusammensetzenden Elemente von Pflanzen und Tieren geformt und verändert, die starben und versteinerten, sondern auch durch die Bewohner der Elemente, die manchmal Naturkräfte oder Lebensatome genannt werden. Niemand fragte, wie das alles zustande kommt, nur mein Freund stellte die Frage: "Welchen Anteil hat der Mensch an all dem?" Die Antwort, die er erhielt, war: "Keinen!" Mit anderen Worten, die Mineralien, Pflanzen und Tiere kommen sehr gut ohne den Menschen zurecht. Aber ist das wahr?
Diese Schlußfolgerung bezog sich wahrscheinlich nur auf die vegetative Seite des Lebens; aber kann selbst diese anscheinend mechanische oder materielle Phase des Daseins ohne ihre spirituelle Ergänzung ganz verstanden werden, und kann ihre Entwicklung ohne die Hilfe von menschlichen Wesen weitergehen? Ist der Mensch ein Außenstehender, der nur von der Arbeit der niedrigeren Naturreiche profitiert, oder ist er nicht vielmehr ein Glied in der Kette des ganzen, sich auf Erden entwickelnden Lebens? Wie einige orientalische Schriften andeuten, besteht sogar eine Möglichkeit, daß das Menschenreich "Nahrung für die Götter" sein kann. Die Bhagavad-Gîtâ spricht davon, und andere Überlieferungen weisen auf die Wechselbeziehung zwischen den Gedanken der Menschen und der Welt der Götter hin. Sicherlich ergießt sich von fortgeschrittenen Wesen eine beständige Inspiration in die Herzen der Menschen, die das in ihnen schlummernde Verlangen weckt, durch edles Denken und Handeln, "höher zu kommen." Wenn das der Fall ist, dann wird jeder Schritt des Menschen vorwärts und aufwärts auch die Reiche unter ihm dazu antreiben, in nie endender Entwicklung höher zu streben. Kann es sein, daß es gegenwärtig in der Umgebung des Menschengeschlechts weniger Götter gibt als während des Goldenen Zeitalters der menschlichen Vergangenheit, weil in den materialistischen, selbstsüchtigen Gedanken der Menschen so wenig Nahrung für sie ist? Die Gîtâ sagt, daß die Götter durch Opfer ernährt werden. Es muß das Opfer persönlicher und selbstischer Ziele menschlicher Wesen sein.
Wenn der Mensch Grund und Boden sich selbst überläßt, nachdem er ihn gewöhnlich durch seine verheerenden Methoden unfruchtbar gemacht hat, wird er in der Regel nicht ertragreicher. Wenn er Jahrhunderte hindurch unbestellt bleibt, kann er zu einer öden Wildnis werden, in der der Wüstensand durch Wind und Wetter über einst fruchtbare und lebenspendende Gebiete getrieben wird. Im tropischen Klima kann die Vegetation auch zu sehr überhand nehmen und das Land wieder mit undurchdringlichem Dschungel überziehen. Ein Naturwissenschaftler, A. J. Stover, weist in seinem Buch Nature's Magic darauf hin, wie die Menschen in manchen Ländern durch die Kräuter und wilden Gräser, die sie mitbrachten, die Vegetation veränderten und die einheimischen Pflanzen vernichteten.
Ehe die Indianer zu einer aussterbenden Rasse wurden, pflegten sie ihre Familien und selbst ganze Dörfer von einem Ort an einen anderen, weit entfernten, zu verlegen. Es gibt hartnäckig sich erhaltende Geschichten, daß die Pflanzen oder Kräuter, die sie zum Heilen ihrer Kranken und Verwundeten benutzten, nach und nach aus den Wäldern und Feldern der Umgebung ihrer alten Lagerplätze verschwanden und in geheimnisvoller Weise um das neue Heim des Stammes wieder erschienen. Die Indianer nahmen die Samen und Wurzeln nicht mit, weil sie erwarteten, daß sie an ihrem neuen Standort finden würden, was sie brauchten. Wir wissen auch, daß die wilden Tiere den Menschen aus Instinkt und Erfahrung meiden. Sie spüren die Feindseligkeit des Menschen, der für sie den Tod bedeutet. Trotzdem folgen sie ihm aus Neugierde oder aus irgendeinem anderen Grunde. Die kühneren unter ihnen versuchen manchmal, sich mit diesem seltsamen, zweibeinigen Tier anzufreunden.
Der unfaßbare magnetische Zug der Evolution nach vorwärts und aufwärts hört nie auf. In der Natur reicht sich sozusagen alles die Hände. Wie lange könnte der Mensch, so wie er heute ist, ohne die Tiere, Pflanzen und Mineralien bestehen? Sein materieller Körper würde sich bald auflösen und im Raume verwehen. Wie lange könnte der Mensch andererseits ohne Inspiration und ohne führende Liebe aus höheren Sphären als ein sich entwickelndes menschliches Wesen bestehen? Genauso wie die Reiche unter ihm mit lebenden, wachsenden Wesen erfüllt sind, die bildlich gesprochen die Hand nach Hilfe und Schutz von oben ausstrecken, so strebt auch die menschliche Lebenswoge edleren Höhen zu.
Auf der gegenwärtigen Stufe hat der Mensch etwas mehr erlangt als die Tiere, nämlich die "Liebe zur Weisheit und Erkenntnis und die Weisheit der Liebe", wie die alten Griechen zu sagen pflegten. Wie gut er diese Weisheit und Erkenntnis anwendet, das ist und das wird sein höchster Beitrag zum Leben dieses Planeten sein. Sein Körper ist weder als Nahrung für Raubtiere wichtig noch sind es die bei seinem Tode zur Erde zurückkehrenden Chemikalien und Atome für den Fortbestand der materiellen Seite unseres Globus. In dieser Richtung ist der Beitrag des Menschen unendlich klein. Nur seine Fähigkeit zu lieben, die Weisheit seiner Liebe, die höher steht als die instinktiven Gefühle der Lebensformen unter ihm, kann alle Reiche der Natur berühren und miteinander in Einklang bringen. In dem Maße, wie seine Fähigkeit, sie zum Ausdruck zu bringen, wächst, fühlt es alles unterhalb des Menschen und reagiert darauf. Dr. Schweitzer hat durch sein Beispiel die vielen Geschichten über jene bestätigt, die unbelästigt durch den Dschungel streiften, wobei ihnen wilde Tiere aus der Hand fraßen und sich vertrauensvoll zu ihren Füßen niederlegten. Das sind keine Märchen. Es wird gesagt, jeder von uns könnte ohne Peitsche einen Löwen zähmen, wenn wir reine, von Furcht um unsere eigene Haut ungetrübte Liebe im Herzen trügen. Es wurde auch angedeutet, daß Erdbeben und Stürme in hohem Maße die Rückwirkungen, wenn nicht der Gewalttätigkeit, dann der Unmenschlichkeit des Menschen gegen den Menschen, und der Habgier und Selbstsucht sind, mit denen der Mensch seine Umgebung ausbeutet.
Die Liebe der Weisheit und Erkenntnis kann den Menschen zu einem Begreifen seiner Bestimmung, seines Ursprungs, seiner Natur und der Natur des Lebens allüberall bringen, das selbst über die Grenzen seiner gegenwärtigen Heimstätte hinausreicht. Wenn er diesen Punkt des Verstehens einmal erreicht hat, ist es seine Verantwortlichkeit und natürlich Pflicht, wo immer er sich befindet, bei der Verbesserung der Zustände zu helfen. Er mag klar, logisch und richtig denken, aber erst wenn er beginnt, die Schönheit der Natur richtig zu genießen, - den Gesang der Vögel, die Erhabenheit und Lieblichkeit der kleinsten Blume, den Anblick eines Sternes - kann er die Sehnsucht in den Herzen anderer Menschen wahrnehmen.
Wenn wir das in unpersönlicher Liebe tun können, was bedeutet, ohne daß wir daran denken, was für uns dabei herausspringen kann, wenden wir unseren Blick von irdischen Angelegenheiten etwas Erhabenerem, der Essenz unseres Wesens, zu. Sie ist die Quelle, die in der Stille unseres Herzens flüstert, wenn wir darauf hören wollen. Wenn wir es hören und zum Segen aller und allem entsprechend handeln, dann, so sagt man, freuen sich die Engel und Götter und singen. Und wenn die Zeit kommt, den Staub der Erde von unseren Füßen zu schütteln, brauchen wir nicht zu überlegen: "Was habe ich zu diesem Leben auf Erden beigesteuert?" Die Zeitalter rollen dahin, und so kann in künftigen Jahren eine Schriftrolle mit der Geschichte unserer Welt die Antwort enthalten: "Auch der Mensch war da und half als Brücke zwischen dem Niederen und dem Höheren, das auf diesem kleinen Planeten sich entwickelnde Leben zu fördern."
Fußnoten
1. Life: an Introduction to Biology von G. Gaylord Simpson, William S. Beck. Harcourt, Braces World. Inc. N. Y., 1965. 836 Seiten, Bibliographie, Index. $ 8.95. [back]