Eine Brechung des Lichtstrahls
- Sunrise 6/1968
Der Lehrer ist in uns selbst, und dort befindet sich auch der Weg.
- Jamgön Kongtrül
Tibet - wie verschiedenartig waren seine Gesichter: singende Mönche in Safrangewändern, Glocken und Gebetsmühlen, Berge, einzigartige Kunst, Glanz und Einfachheit; und eine alte Überlieferung von bereits in der frühen Kindheit prädestinierten Lamas als Verkörperungen einer Reihe von Lamas, die sich weit in die Vergangenheit erstreckt. Für einige galt diese buddhistische Hochburg als Phantasiegebilde, das von frommen Verrückten geschaffen worden war; anderen galt sie als Gipfelpunkt spiritueller Errungenschaft. Bis zur Mitte unseres Jahrhunderts war Tibet mit all seinen Geheimnissen mehr oder weniger dies alles. Friedlich, weltentrückt, blieb dieses interessante Land abseits von den Spannungen und Ereignissen der übrigen Welt, ungestört und unverändert durch den Fortschritt des zwanzigsten Jahrhunderts. Zurückschauend ist es interessant, sich daran zu erinnern, daß, wer auch immer es zuwege brachte, diese Nation zu besuchen, tief beeindruckt von der Wesensart und Aufrichtigkeit ihrer Menschen heimkehrte, und es gelang weder dem spöttischen noch dem gleichgültigen Beobachter, über sie zu lachen. Was für eine subtile Charaktereigenschaft war es nun, die die Tibeter so natürlich ausstrahlten? Was schenkte ihnen innere Glückseligkeit und Frieden?
Ein äußerst sensitiver Interpret beschreibt in einem vor kurzem erschienenen englischen Buch1 ausführlich die Lebenserfahrungen Chögyam Trungpas, der elften Verkörperung des Trungpa Tulku, oberstem Abt der Klöster von Surmang. Es schildert eine Lebensweise, der wenige Menschen des Westens folgen könnten oder, selbst wenn sie dazu geeignet wären, ihr zu folgen wünschten. Trotzdem haben wir von diesem jungen Mönch viel zu lernen, der, ohne andere irgendwie bekehren zu wollen, einen bemerkenswert klaren Einblick in den Charakter und die Gedankenwelt seines Volkes bietet. Er hebt die mitleidsvollen und praktischen Aspekte des tibetischen Buddhismus hervor, die sich in manchen dortigen Schulen widerspiegeln.
Das Buch liest sich nicht schwer, selbst wenn man den wahren Sinn seiner metaphysischen Begriffe nicht kennt, obwohl man sich an die tibetischen Namen gewöhnen muß, besonders wenn sie für die verschiedenen Verkörperungen einer ununterbrochenen Aufeinanderfolge von Lehrern angewandt werden. Es ist eine starke verborgene politische Strömung vorhanden, die für jemanden, der sich mit neuzeitlicher Geschichte befaßt, ebenso von Wert sein wird wie die Erzählung einer gefährlichen und mühseligen Flucht nach Indien und in die Freiheit.
Die Lehren Buddhas kamen um das achte Jahrhundert von Indien nach Tibet, faßten schnell Fuß und verbreiteten sich. Vor dieser Zeit praktizierten diese Bergbewohner eine primitive Art von Naturverehrung, Bön genannt, deren Legendenreichtum der Verfasser hier und da erwähnt. Einige dieser inzwischen entarteten Religionen bestehen weiterhin und beeinflussen immer noch in gewissem Grade einsam gelegene und unwissende Gemeinden. Das hilft mit, die Mannigfaltigkeit und den Gegensatz in der religiösen Atmosphäre zu erklären, die es der Zauberei und dem Aberglauben ermöglichen, Seite an Seite mit der Wiedergabe der reinen Lehre und hohen Philosophie zu gedeihen.
Reinkarnation und Karma sind grundlegende Lehrsätze des Buddhismus und im Osten so bekannt wie es in der jüdisch-christlichen Welt die Zehn Gebote sind. Ich glaube jedoch, daß die Lehre von der fast unmittelbaren Wiedergeburt erleuchteter Menschen mehr oder weniger auf Tibet beschränkt ist. Der Verfasser behandelt dieses Thema nicht weiter, aber für ernsthafte Leser bietet der zweckdienliche Anhang des Buches eine technische Erläuterung. Die allgemein verbreitete Lehre über die Tulkus (von welchen als bestbekannte Beispiele im Westen die Pantschen und Dalai Lamas sind) scheint es zu sein, daß, sobald das geistige Oberhaupt eines Mönchsordens stirbt, ein bestimmter Mönch berufen wird, der die Aufgabe zu übernehmen hat, den Aufenthaltsort des Nachfolgers zu ermitteln. Es ist nicht ersichtlich, ob dieser Nachfolger immer als die wirkliche Wiedergeburt des verstorbenen Lamas angesehen wird - das heißt, als dieselbe Seele, die sich in einer neuen Gestalt und Persönlichkeit verkörpert - oder ob er der Nächste in einer Reihe von Lehrern ist, der den gleichen geistigen Impuls überbringt, sozusagen eine andere Kerze, aber von einer gemeinsamen zentralen Flamme gespeist. Möglicherweise treffen beide Auslegungen zu. Wie dem auch sei, falls der für diese Pflicht ausgewählte Mönch keine Anweisungen hinterlassen bekommen hat, arbeitet er mit Hilfe der Vorzeichen. Die sich ergebende Information ist manchmal sowohl bei der Beschreibung der Örtlichkeit als auch dem Aussehen des Kindes so genau und entschieden, daß die Identifizierung durch seine Gesandten nicht schwierig ist. Aber die Vision kann auch äußerst vage sein und viele Jahre sorgfältiger Nachforschung erfordern, ehe die Mönche Erfolg haben.
1938 starb der zehnte Trungpa Tulku, und im Februar 1939 wurde Chögyam Trungpa in einem kleinen Dorf geboren, das sich an dem Fuß eines 6000 Meter hohen Berges anschmiegte. Dreizehn Monate später erschien vor seinem schlichten Heim ein Suchtrupp aus dem Surmang-Kloster, um die Glaubwürdigkeit seiner Merkmale nachzuprüfen. Die spontane Reaktion des Kindes diesen Mönchen gegenüber, ein anscheinendes Erkennen, zusammen mit Zeichen, welche die Natur selbst hervorbrachte und die Leichtigkeit des Vergleichs mit geoffenbarten Angaben, die im Besitz der Mönche waren, bedeuteten, daß dieser Junge die erste Prüfung bestanden hatte. Es wurden Anordnungen getroffen, damit seine Eltern Chögyam zu dem großen Kloster begleiten konnten, und als sie ankamen, herrschte schon eine festliche Stimmung vor. Festlichkeiten, besondere Zeremonien und allgemeiner Jubel hießen ihn 'zu Hause' willkommen. Einige Tage später wurde er einer anderen Prüfung unterzogen: es wurden ihm jeweils zwei gleiche Gegenstände vorgelegt, aber nur einer von jedem Paar hatte dem zehnten Tulku gehört. Ohne Zögern und ohne Fehler wählte er nur die Gegenstände, die mit seinem Vorgänger in Verbindung gewesen waren. Nachdem er mit fliegenden Fahnen diese Untersuchung bestanden hatte, war die Rückkehr von Trungpa Tulku in seiner elften Verkörperung bestätigt, und die Einsetzung ins Amt konnte stattfinden.
So seltsam diese Vorstellungen und Vorgänge die meisten abendländischen Gemüter auch anmuten, in der Art, wie der Verfasser sie zum Ausdruck bringt, liegt nichts Bizarres oder Phantastisches darin. In der Tat ist seine Unvoreingenommenheit - die ganze Erzählung ist eine unbeabsichtigte Darlegung der Religion - seine Stärke, und sie erlaubt dem Leser, die geistige Bedeutung des tibetischen Lamaismus zu würdigen und besser zu verstehen: ein aus vielen Facetten bestehender, aber nicht notwendigerweise fehlerloser Edelstein.
Die Mutter Chögyams verblieb im Kloster, und er erfreute sich bis zum fünften Geburtstag der Freiheiten der Kindheit; dann begann ernsthaft der Unterricht. In Wirklichkeit jedoch war er vom Augenblick seiner Amtseinsetzung an nicht mehr irgendein Junge, sondern hatte eine festumschriebene Bestimmung. Während dieser Periode wurden die Besuche seiner Mutter kürzer und weniger häufig, bis sie schließlich nicht mehr kam. Vor ihm lagen Jahre der Vorbereitung. Ein Kind des Westens würde die schwierige Ausbildung für unmöglich halten, die für den jungen Tibeter ganz natürlich war, obwohl es nicht überrascht, daß er oft müde wurde. Zum Beispiel nahm er vor seinem zwölften Geburtstag das Studium der 'Einleitung' auf, eine Einführung in eine tiefere Lehre. Diese umfaßte:
1. 100 000 vollständige Niederwerfungen
2. 100 000 Rezitationen der Dreifachen Zuflucht
3. 100 000 Rezitationen des Vajra Sattva Mantra
4. 100 000 symbolische Opfer
5. schließlich noch 100 000 Rezitationen des Guru Yoga-Mantra, oder der 'Vereinigung mit dem Lehrer'.
Zur gleichen Zeit muß über fünf Themen nachgedacht werden.
1. Das seltene Vorrecht, welches einem geschenkt ist, in diesem Leben spirituellen Unterricht zu erhalten.
2. Die Unbeständigkeit, die mit dem Leben und allem übrigen verknüpft ist.
3. Die Ursache und Wirkung von Karma.
4. Das Verständnis für das Leid.
5. Die Notwendigkeit der Devotion.
Seine Studien, Meditationen und die Teilnahme an langen, komplizierten Riten wurden dennoch immer mehr die treibende Kraft seiner Freude und Zufriedenheit. In seiner Umgebung gab es keine schwermütigen Herzen, keinen Trübsinn oder erstickenden Ernst. Glücklichsein, Humor und Herzenswärme sind charakteristische tibetische Merkmale, die bei allen Menschen vorhanden waren, mit denen der Verfasser in näheren Kontakt kam. Es heißt, daß der spirituelle Fortschritt das Vorhandensein von Demut und Humor und die Abwesenheit von Selbstgefälligkeit und Neid erforderlich macht. Die fortgeschritteneren Mitglieder der Klosterbruderschaft lebten offensichtlich gemäß dieser von selbst einleuchtenden Wahrheit.
Die persönlichen Erinnerungen des Verfassers sind nun, abgesehen von der konstruktiven Philosophie, die sie beinhalten, von besonderer Wichtigkeit, weil die unschätzbaren Reichtümer, die er beschreibt, in der Zwischenzeit geplündert oder zerstreut wurden. Viele der Gebäude sind wahrscheinlich zum großen Teil verlassen und werden bald verfallen, weil sie nicht benutzt und nicht gepflegt werden. Die meisten von uns haben Bilder vom großen Palast des Dalai Lama in Lhasa gesehen. Dieses Buch enthält jedoch Photographien und Zeichnungen von Klöstern, die der Öffentlichkeit weniger bekannt sind. Das ganze Land war mit Einsiedeleien und Lamaserien aller Art übersät. Die eine mochte einige hundert Mönche beherbergen, eine andere Tausende, im Alter von acht Jahren bis zu Männern von hohem Alter. Diese gewaltigen Komplexe organisieren und unterhalten zu können, muß eine Kunst für sich gewesen sein. Ohne gegenseitige Hilfsbereitschaft und harmonische Beziehungen, in Verbindung mit einem gemeinsamen Ideal und der strengen Befolgung der Klosterdisziplin hätte kaum alles so gut funktionieren können. Nichtsdestoweniger war die Qualität dieser Gemeinden nicht überall gleich. Der Verfasser erzählt von einer Reise, die ihn nach Drölma Lhakhang führte, dem Wohnsitz von ungefähr einhundertfünfzig Mönchen: "Im ganzen Kloster herrschte eine Atmosphäre von ruhigem Ernst und Spiritualität, worin der Unterschied zu einigen anderen lag, die ich gesehen hatte und die mehr in der Institution als solche verhaftet zu sein schienen.
Während der gleichen Besuchsreise kletterte er mit einem Freund ein Stück den Kulhangang-ya hinauf, ein Berg, der in der alten Bön-Religion als ein Gott und Wächter Tibets eine Rolle spielte. Unterhalb des Gipfels befindet sich eine große Höhle, deren Boden aus Eis besteht. Sein Gefährte ging weiter hinein und erzählte Chögyam, daß "er unter dem Eis sehr große Knochen gesehen hätte, von denen einige menschlich zu sein schienen, die aber so groß waren, daß sie nicht einem Menschen der Neuzeit angehört haben könnten."
Er berichtet auch von seinen Eindrücken im Kloster von Karma, eines der größten und schönsten Klöster seines Landes. Es liegt in einer malerischen Umgebung und das umliegende Gebiet ist wegen seiner Kunstgewerbe berühmt. Diese allgemein verbreitete Pracht war auch im Dorf anzutreffen, denn dort waren die meisten Menschen Kunsthandwerker. Er erinnert sich:
Das hohe Dach über dem Mittelteil der Halle ruhte auf hundert Säulen, die aus soliden Baumstämmen hergestellt worden waren und von denen einige einen Umfang von sechzehn bis zwanzig Fuß hatten. Die Säulen waren zinnoberrot lackiert, mit Mustern in Gelb, Blau und Gold. ... Durch Fenster oberhalb der Galerie, die auf vierhundert kürzeren Säulen ruhte, war die Halle schwach erhellt. ...
Der Löwenthron, der in der Mitte der Halle stand, war aus Sandelholz hergestellt, das von einem heiligen Ort in Indien gebracht worden war. ... Hinter dem Thron, am Ende der Halle, führten drei Eingänge zu einer gewaltig hohen Kammer, die dreimal unterteilt war, um die Bildnisse vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Buddhas zu beherbergen. Diese waren so gigantisch, daß der Abstand zwischen den Augen fünf Fuß betrug.
Möglicherweise war es bezeichnend für die kommenden Dinge, wenn der damals vierzehn Jahre alte Chögyam Trungpa an dieser Stelle mit Bedauern entdeckte, daß die Ausführung der früheren Ausschmückung unzweifelhaft perfekt, bei den modernen Bemühungen jedoch offensichtlich mangelhaft war, und er hoffte, daß es ihm möglich sei, wenn er älter sein und mehr Zeit haben würde, die tibetische Kunst wiederzubeleben.
Bildtext: Das Rad der Wahrheit.
In Indien führen die Hinayana (Grundlehre)-Schulen und die Mahayana (erweiterte Lehre)-Schulen des Buddhismus ein fast, wenn nicht ganz getrenntes Dasein. In Tibet scheint eine scharfe Trennung zwischen ihnen nicht zu bestehen. Beide werden als Aspekte einer Wahrheit studiert, und es gibt einen dritten "Weg", der Vajrayana genannt wird, eine hohe Lehre, die für jene bestimmt ist, die bereits eine Stufe der Erleuchtung erreicht haben. Die Tibeter sind ein verstandesmäßig wißbegieriges Volk genannt worden, und vielleicht ist das ein Grund, warum sie nicht durch Bigotterie und Vorurteil belastet sind. Flüchtig werden kleine sektiererische Rivalitäten erwähnt, aber diese konnten nicht ernsthaft gewesen sein, weil eine beständige Bewegung der Mönche von einer Schule zur anderen vorhanden war. Zum Beispiel gehörte Chögyam Trungpas Guru (Lehrer), Jamgön Kongtrül, dem Kloster in Sechen an. Doch derselbe Jamgön Kongtrül war früher ein Schüler des zehnten Trungpa Tulku des Surmang Klosters gewesen. Auf diese Weise wurde der Schüler zum Guru für die Wiederverkörperung seines früheren Lehrers.
Natürlich gab es mehr und weniger bedeutende Mönche innerhalb der Klöster, in Einsiedeleien, in Zufluchtsorten und anderswo. Die Unwissenden befaßten sich nur mit Riten. Intellektuelle, weltliche Typen, Mystiker und Scharlatane mischten sich miteinander, doch unter ihnen bewegten sich auch tiefgründige, weise Menschen. Jamgön Kongtrül war einer von ihnen. Ein weiterer war Khenpo Gangshar, einer seiner älteren Schüler. Der erstere war der wichtigste Guru Chögyams, der andere ein Stellvertreter. Beide Männer machten einen tiefen und nachhaltigen Eindruck auf ihn; ebenso werden sie auf den Leser wirken, denn der zeitlose Geist ihrer Botschaft ist überall anwendbar und nicht auf Buddhisten beschränkt. Würde man diese beiden verhaften, empfände man dies als einen persönlichen Verlust, so lebendig sind die Schilderungen des Verfassers.
Bildtext: Der Knoten der Ewigkeit.
Jamgön Kongtrüls Interpretation der Doppelrolle eines Lehrers, sowie auch des Pfads des Mitleids offenbart seine innere Qualität:
Du hast nun sehr viel von mir gelernt, aber du mußt dein Wissen noch erweitern. Vieles kommt aus der eigenen Erfahrung beim Lehren, Lesen und Überlegen. Ein Lehrer darf sich nicht weigern, anderen zu helfen. Zur gleichen Zeit kann er stets lernen. Dies ist der Weg der Bodhisattvas, die, während sie anderen halfen, selbst weitere Erleuchtung erhielten. Man muß sich dessen voll bewußt sein, was man tut, denn wenn beim Lehren, mag es noch so fachmännisch sein, das eigene Verstehen unzureichend ist, besteht die Gefahr, daß man einfach Worte verwendet, ohne ihre spirituelle Bedeutung zu beachten. Deshalb mußt du dich immer noch daran erinnern, daß du selbst auf dem Weg fortwährend ein Schüler bleiben wirst.
Die Schulen Tibets folgen dem Gesetz des Mitleids, eine Vorstellung, die manchmal für Menschen, die nicht an die Wiederverkörperung glauben, ohne Bedeutung ist. Trotzdem symbolisiert ihre Stellung einen wichtigen Unterschied in der buddhistischen Philosophie, denn sie kennzeichnet zwei Pfade. Der eine ist der Weg der Pratyeka Buddhas, der andere derjenige der Buddhas des Mitleids. Um es ein wenig mit der Religion des Westens zu verbinden: ein Christ glaubt, wenn ein Mensch ein gutes Leben führt - vielleicht nimmt er auch an, daß Jesus Christus sein Erlöser sei - wird er, wenn er stirbt, in den Himmel kommen, in eine Sphäre aus ewiger Reinheit und Seligkeit. In gewisser Hinsicht ist Nirvana das buddhistische Gegenstück, obwohl dessen Dauer nicht endlos ist und es aus unendlich vielen Abstufungen besteht. Wenn ein Mensch durch Erfahrungen, die er in vielen Leben erworben hat, spirituell erleuchtet wird und auf Erden nichts mehr lernen muß, ist er berechtigt, in diese subjektive Sphäre einzugehen, befreit von irdischen Bindungen. Der Pratyeka Buddha geht in sie ein, aber der Buddha des Mitleids verzichtet auf dieses Recht aus Liebe zu allem, was lebt und fährt statt dessen darin fort, das Licht seiner eigenen Erkenntnis den Menschen auf Erden zugänglich zu machen. So schließt das Gelübde des Bodhisattvas, das in diesem Buch zitiert wird, mit den Worten:
Laß meinen Meister mich als zukünftigen Buddha annehmen, wobei ich ein Bodhisattva bleibe, ohne ins Nirvana einzugehen, solange irgendein Grashalm noch unerleuchtet bleibt.
Die eigentliche Bedeutung ist nicht dieselbe, aber es läßt sich im allgemeinen mit der ursprünglichen christlichen Hierarchie vergleichen, wo die Engel ihr himmlisches Zuhause verlassen, um den Sterblichen göttliche Hilfe und Schutz zu geben. Es ist das Opfer des willentlich unternommenen Schrittes, das dem Bodhisattva, einem Aspekt des Buddhas, in buddhistischen Ländern so große Verehrung zukommen läßt.
Wegen der Unsicherheit und der Verwirrung, die über Tibet hinwegzogen, wies Jamgön Kongtrül seinen Schüler Khenpo Gangshar an, im Surmang-Kloster an seiner Stelle zu lehren. Dieser Mann war ein praktischer Okkultist, und er wies immer wieder mit Nachdruck auf die Tatsache hin, daß, ganz gleich wie edel die Lehre ist, sie von geringem Wert bleibt, wenn sie nicht praktisch angewendet wird. Während einer Debatte mit einigen jungen Mönchen "legte er ihnen dar, daß philosophische Klischees nicht weit reichen würden, wenn sie nicht auch gelebt werden." Als einer der Studenten darauf mit einem Zitat aus den Schriften erwiderte, antwortete er: "Das Zitat allein hat keinen Wert, wir können alle die Schrift auswendig wiederholen. Man muß liebevolle Freundlichkeit durch seine Handlungen demonstrieren." Während dieser Tage der Krise suchte Khenpo Gangshar die vielen Einsiedler auf, die das Gelübde der Abgeschiedenheit auf sich genommen und sich in Höhlen der umliegenden Gegend zurückgezogen hatten. Er bat sie dringend zurückzukehren und sagte, daß die Zeit gekommen sei, wo sie den Schock des Wiedereintritts in die Welt erfahren und lernen müßten, sich in sich selbst zurückzuziehen. Seine Philosophie steht auf dem Boden der Wirklichkeit und könnte möglicherweise helfen, die Unversehrtheit seiner Leute zu erhalten, die gezwungen waren, in Tibet zu bleiben.
Die Gewalttätigkeiten, die als Folge der Besetzung auftraten, die sinnlosen Tötungen, der heldenhafte, aber nutzlose Widerstand, sind verbürgte Tatsache. Aber wie war die Reaktion von seiten jener, die gezwungen waren, sich zu verbergen oder ins Exil zu gehen? Wie nahmen sie diese gewaltige Veränderung auf, die die jahrhundertealten Traditionen umstürzten? Chögyam Trungpa, der damals neunzehn Jahre alt war, sprach bei einer der letzten Zusammenkünfte zu seinen Gefährten, und seine Worte geben uns ein Bild von der kraftverleihenden Vision des tibetischen Glaubens:
Niemand von uns weiß, was die Zukunft bringen mag, und es kann sein, daß uns nie wieder gestattet wird, leibhaftig beieinander zu sein; aber spirituell sind wir vereint. Die Gelegenheit des Beieinanderseins, die wir hatten, ist der Anfang einer Vereinigung, die viele Leben lang anhalten wird. Um all dies in unserem täglichen Leben in die Tat umzusetzen, müssen wir uns weiterhin bemühen, den Eingebungen des Gurus in uns zu folgen. Wir müssen das Gleichgewicht zwischen unseren weltlichen Tätigkeiten und unserem Sehnen nach spiritueller Vollkommenheit aufrecht halten. Wir müssen unser Bestes tun, um allen Wesen zu helfen, die in dem Leid gefangen sind, das die Welt nun durchmacht. Wir haben diese wunderschöne Zeit miteinander verlebt und müssen nun auseinandergehen. Die Versammlungshalle wird bald leer sein, der Schrein, der Thron und der Wandschmuck werden niedergerissen werden, aber wir dürfen nicht allzusehr bekümmert sein ... alles zeigt die Unbeständigkeit des irdischen Daseins.
Die letzten Kapitel des Buches handeln von der Reise durch Tibet nach Indien, und es ist eine aufregende, packende Geschichte von mutigen Männern und Frauen, eine Erzählung, die gelesen werden muß, um richtig gewürdigt zu werden. In Indien, von wo diese Lehren ausgingen, ist der Buddhismus lange eingeschlafen, und es erschien mir, als wenn die Mönche, die dort eine Zuflucht fanden, ohne es zu wissen jene höfliche tibetische Sitte befolgten, die "dem Eigentümer seine Besitztümer wiedergibt." Das Licht ihrer uralten Tradition ist nicht erloschen, seine Strahlen wurden nur gebrochen.
Am Schluß des Buches werden die Leser feststellen, daß sie einen vollständig neuen Freundeskreis erworben haben, lauter bewundernswerte, lebende und tote Menschen, Beispiele bester tibetischer Kultur, Weisheit und spiritueller Sittenlehre. Ehe wir nicht wissen, wie andere denken und wie sie das Leben betrachten, können wir uns nicht mit ihnen identifizieren. Dieses Buch hat die Macht, Verständnis dort zu schaffen, wo keines existierte und verdient schon allein aus diesem Grunde weite Verbreitung.
Fußnoten
1. Born in Tibet von Chögyam Trungpa, aufgeschrieben nach seinen Worten von Esme Cramer Roberts, mit einem Vorwort von Marco Pallis. Erschienen bei George Allen Unwin, Ltd., London, 1966. Mit Anhang, Wörterverzeichnis und Index. 248 Seiten, 35 shillings. [back]