Philosophen in der modernen Welt
- Sunrise 6/1966
Immer mehr wächst die Erwartung auf eine philosophische Wiedergeburt, und zwar in einer Form, die den Forderungen der gegenwärtigen Zeit entspricht.
In einer Form, die inmitten des umfangreichen, auf jedem Gebiet vorhandenen Wissens offenbart, wie die Weisheit, die alles in sich vereinigt, hierbei nicht verloren zu gehen braucht.
- E. A. Burtt
Der Druck neuer Entdeckungen führt zu einer immer freier werdenden Denkungsweise. Dadurch werden alte Denkgewohnheiten abgelegt, wie man es bei der Menschheit im allgemeinen in der ganzen Welt beobachten kann. Dies beeinflußt die Männer der Wissenschaft und Religion. Sie sind gezwungen den grundlegenden ethischen Fragen des Tages gegenüberzutreten. Der hervorragende Biochemiker Dr. Barry Commoner bringt z. B. in Kürze ein Buch heraus, das die Gefahren aufzeigt, die sich aus der altmodischen Ansicht von Wissenschaftlern ergeben, daß sich nämlich ihre Verantwortung nur auf reine Forschung beschränke, und sich nicht auf den Gebrauch ihrer Entdeckungen oder die "eigentliche moralische" Seite ihrer Arbeiten erstrecke.
Seltsamerweise sind unsere Philosophen in dieser revolutionären Denkungsweise weit zurück. Die meisten sitzen zufrieden in ihren mit Büchern ausgestatteten Räumen und argumentieren untereinander über die Kompliziertheiten der Logik oder die Bedeutung von Worten. Allgemein gesehen können wir dies als Auswirkung der Aristotelischen Lehre ansehen, die durch den römischen Diktator Sulla (138-78 v. Chr.) wiederbelebt und später durch die Kirche der Frühzeit übernommen wurde. Das Gesamtergebnis war ein starres System, das den Dogmatismus unterstützte, und den wissenschaftlichen Fortschritt über fünfzehn Jahrhunderte lang verzögerte. Außerdem machte dieses System bis vor einigen Jahrzehnten jede religiöse Spekulation unmöglich und noch heute hält es die westliche Philosophie in der Zwangsjacke der buchstäblichen Auslegung.
Heutzutage ist jedoch kein Platz mehr für ein System, das versucht die Welt in unveränderliche und unreduzierbare Kategorien einzuteilen, auch wenn diese Kategorien so unendlich sind wie Zeit und Raum! Die Relativitäts-Theorie hat diese mehr oder weniger zerstört. Monismus und Evolution haben sich durchgesetzt. Selbst die Materie offenbart ihre Kontinuität mit dem Geistigen.1
Ein oder zwei Philosophen äußern ihren Kollegen gegenüber Bedenken über diese Entwicklung. Sie beklagen die Besessenheit der Beweisführung mit Hilfe komplizierter Instrumente, die so ausgeschliffen und verfeinert worden sind, daß Experten sich ihrer nur aus reiner Freude am Spannenden dieser Dinge bedienen, und nicht zur Bewältigung der unmittelbaren und wichtigen Lebensfragen. Die Seziermesser des Verstandes schneiden vorhandenes Wissen in kleine und kleinste Stücke, so daß es jedem unmöglich wird die Gesamtheit in der Art der alten orientalischen Philosophen zu erfassen oder nach Art der alten Griechen wie Plato, von dem gesagt wurde, daß er alle Lehren seiner Zeit in sich aufgenommen hatte. Aber auch die ungeheure Menge in unserer Zeit zusammengetragenen Informationsmaterials hindert uns nicht daran, alle Naturerscheinungen als Formen eines einzigen Wirkens zu sehen. Wie auch Einstein bemerkte, ist es verwunderlich, daß die ständig zunehmende Anzahl der von Forschern entdeckten Tatsachen nicht mehr Naturgesetze aufzeigt, sondern daß die meisten wesentlichen Dinge auf Grund ganz weniger allgemeiner Prinzipien in Bewegung gesetzt werden.
Als noch die Philosophie als "Königin der Wissenschaften" regierte, untersuchten diejenigen, die sich damit befaßten, solche Themen, wie die Natur des Universums und des Menschen und ihre gemeinsamen Rollen im Lebensprozeß, die Beziehung zwischen Geist und Körper, Ursache und Wirkung - und was ist die "Seele"? Als man allerdings aus reiner Freude am analysieren die Wahrheit und sogar das Leben aus der Existenz heraus zu sezieren begann, um schließlich alles auf ein Wortgeplänkel zu bringen, begann man hinter dem vorwärtsdrängenden Gedankenstrom zurückzubleiben.
Wenn wir die Philosophen des Altertums mit denjenigen der Neuzeit vergleichen, entdecken wir einen interessanten Unterschied. Plato ist das beste Beispiel, vielleicht deswegen, weil er so außergewöhnlich vielseitig war. Für ihn war die Philosophie ein Pfad zur "inneren Betrachtung" des Universums, wie es in Wirklichkeit ist, und er versuchte sein inneres Wesen durch die häufig verwirrenden und täuschenden Erscheinungen der sichtbaren Welt hindurch zu erfassen. Dies verwickelte ihn in Fragen, die sich auf Ethik, Erziehung, Kunst, Religion, Wissenschaft, Gesetz, Regierung, Politik und andere Gebiete beziehen. Aus seinen sämtlichen Schriften geht eine Einstellung hervor, die umfassend und konsequent ist, obwohl einige neuzeitliche Kritiker behaupten, daß sie ein "Reifen" der Gedanken von seinen ersten bis zu seinen letzten Äußerungen hin verfolgen können, wobei sich Änderungen in einigen wichtigen Ansichten ergaben. Dieselben Autoritäten legen bei ihrer Beurteilung der Philosophie Platos die Behauptung zugrunde, daß mit Aristoteles ein Fortschritt kam. Folglich hat man also damit die Vorstellung verbunden, daß die späteren Philosophen allmählich einen nach oben verlaufenden Weg eingeschlagen haben, bis sie eine Höhe erreicht hatten, die als Grundlage für die neuzeitliche Philosophie betrachtet werden kann. Leider liefern uns jedoch die neuesten "Experten" keine genügenden Beweise, damit wir sie auf das gleiche Niveau mit Plato stellen könnten, geschweige denn über ihn.
Unter den europäischen Philosophen der letzten hundert Jahre zeigt sich, daß Begriffe zunehmen, die aus der Entwicklung oder Argumentation im Sinne der Diskussion entstehen. Plato paßt nicht in diese Kategorie, weil er nicht, wie unsere Gelehrten, akademisch geschult war. Dazu kommt noch, daß er früher einmal mit den griechischen Mysterien-Schulen verbunden gewesen zu sein scheint, denn in seinem Siebenten Brief, der im hohen Alter von ihm an Verwandte und Freunde des Dionysius von Syrakus abgefaßt wurde, schreibt er in einer Weise, die dieses bestätigt. Er äußert darin, daß die höchsten Wahrheiten niemals niedergeschrieben werden können und weiterhin: "Ich habe über diese Dinge keine Abhandlung geschrieben und werde auch nie eine schreiben." Die Regeln der Mysterienschulen verboten den Mitgliedern, die herausgegebenen Lehren zu verbreiten. Plato nahm deshalb zur symbolischen Sprache Zuflucht, zu Mythen, Allegorien und Andeutungen, um Ideen auszusäen, die im Gemüt und im Herzen seiner Anhänger keimen und wachsen sollten. In seiner Republik findet man auch unmißverständliche Anspielungen auf den zweifachen Pfad der indischen Philosophen und Mystiker: "den niederen Pfad", der die langsame Entfaltung der evolutionären Kräfte darstellt und "den größeren oder höheren Pfad", der die Möglichkeit einer schnelleren Offenbarung der inneren Qualitäten des Menschen mit sich bringt.
Im großen und ganzen geht die Tendenz der heutigen Philosophen weg von der evokativen Art der Charakterbildung, die Plato so sehr interessierte. Sie ist auf eine intellektuelle Tätigkeit gerichtet, die mehr ein Spiel der Verstandeskräfte ist. Vor der augenblicklichen Epoche waren jedoch viele ausgefallene und phantasievolle Theorien über das Sein und den Kosmos im Umlauf. Dies veranlaßte zum Teil spätere Gelehrte bei der Bildung eines Begriffs oder einer These mehr und mehr auf ein logisches Vorgehen und auf klare Definierungen Wert zu legen. Leider wurde dies übertrieben, wie z. B. durch Wortspielereien, die viele Philosophen zu weitgehender Spezialisierung auf einem der zahlreichen Gebiete, in welche der Stoff eingeteilt ist, verleitete: Ethik, Ästhetik, politische und religiöse Philosophie, Metaphysik und jetzt die neugeschaffene "Philosophie der Wissenschaft". Die Schwierigkeit besteht darin, daß die Fachleute auf diesen Gebieten eine Sprache erfunden haben, die nur sie verstehen können, und ihre Ideen für Leute, die außerhalb des betreffenden Gebiets stehen, keinen praktischen Wert haben. Im Endergebnis kann mehr von dem Wesen der Philosophie in der Haltung von Herrn Müller mit seinen täglichen Erfahrungen liegen als in manchem Universitätsvortrag zum Ausdruck kommt. Das früher übliche Verfahren die Fäden von all dem, was wir über die Erscheinungsformen des Lebens gelernt haben zu sammeln und dann den Versuch zu machen, diese zu einer brauchbaren Lebensphilosophie zusammenzufassen, scheint aufgegeben worden zu sein. Aber was braucht man mehr, als gerade eine solche philosophische Anschauung, welche die ganze Welt in ihren Gesichtskreis einschließt? Sind nicht wir und alles andere eine Unmenge von Elementen und gleichzeitig Bestandteile eines viel größeren Ganzen?
Die Zeitschrift Time vom 7. Januar 1966 veröffentlichte eine provozierende Untersuchung über den Zustand des philosophischen Denkens heutzutage. Trotzdem konnte sich diese gut beobachtete Übersicht nicht von dem alten Begriff freimachen, daß Wissenschaft, Religion und Philosophie Disziplinen sind, die beinahe im Widerspruch stehen. Obgleich er die vorherrschenden scharfen Unterscheidungen nicht befürwortete, nahm der Verfasser die zwischen diesen Disziplinen bestehenden Spaltungen als naturgegeben und unvermeidlich hin. Andererseits bringt Henry Margenau, Professor für Physik und Naturphilosophie an der Universität Yale, einen gemeinsamen Nenner für die drei Aspekte, die sich auf die Anschauung des Menschen von sich und seiner Umgebung beziehen, in Vorschlag:
Eine dauernde Neubewertung der Beziehung zwischen Religion und Wissenschaft ist tatsächlich notwendig, und nie war diese Notwendigkeit größer als heute, denn die Wissenschaft hat vor kurzem eine Umwälzung ihrer grundlegenden Begriffe durchgemacht, die in der Geschichte einzigartig ist. Die völlige Widerlegung des Materialismus alter Prägung in der modernen Physik, die Sublimierung der Mechanik, das auf abstrakte Ideen gesetzte Vertrauen, alle diese Dinge sind weittragend in ihren philosophischen Folgen und vieles, das man über den in Frage stehenden Konflikt (Religion/Wissenschaft) zu sagen pflegte, ist einfach nicht mehr wahr.2
Auch wenn es nach den Ausführungen einiger Kritiker wahr wäre, daß "Philosophie zu technisch geworden ist und ein großer Teil des schöpferischsten Denkens von Menschen ausgeübt wurde, die keine Philosophen von Beruf aus sind", wäre es doch ein Irrtum, wenn wir Philosophie per se nur als eine Art "hitzige Debatte zwischen gereizten Professoren" betrachten würden. Die Philosophie spielt eine echte Rolle und sollte uns helfen können über viele grundlegende Fragen nachzudenken, wie z. B.:
Was ist Wahrheit? Wir können uns über die verschiedenen Möglichkeiten in der Verwendung des Wortes 'wahr' streiten bis wir blau im Gesicht werden. Gewiß, im Grunde genommen bedeutet Wahrheit Kenntnis des Universums wie es in Wirklichkeit ist, losgelöst von den Eindrücken, die unsere unvollständigen Sinne uns vermitteln. Vielleicht können wir das Wesen der Wahrheit erleben, auch wenn wir es mit dem Verstand nie absolut erfassen können.
Was ist Bewußtsein? Eine Definition in der Art wie sie von den Gelehrten im allgemeinen akzeptiert wird, ist nicht möglich. Wir können jedoch erkennen, daß etwas für die Kraft und den Plan in der Präzision und Zusammenarbeit, wie sie sich in so vielen Naturereignissen offenbaren, verantwortlich sein muß. Im Universum sind überall Anzeichen von Intelligenz zu sehen, die hinter der Szene tätig ist und keine zufälligen Ereignisse, die aufs Geratewohl zusammentreffen.
Was ist der Mensch? Offensichtliche Beweise zeigen, daß er mehr als eine biologische Maschine oder eine entwickeltere Art Zellenorganismus ist, imstande abstrakte mathematische Formeln zu behandeln, und in die Beziehung zwischen Materie und Kraft einzudringen. Die reine vernunftmäßige Funktion des Gehirngemüts ist nicht alles, was einen Menschen ausmacht, diese ist noch nicht einmal die Gesamtheit seines Denkvermögens, denn jenseits der mechanischen Aspekte der vernunftmäßigen Überlegung liegt die Intuition, welche in jedem Menschen mehr oder weniger vorhanden ist und deren Ursprung irgendwo in dem bestimmenden Teil unseres Wesens liegt, der das Ganze zusammenhält.
Ist das Universum eine ungeheure Ansammlung mehr oder weniger unabhängiger Objekte oder stellt es eine völlige Einheit dar? Dr. D. W. Sciama, der diese Frage kürzlich stellte, hätte auch eine dritte Möglichkeit erwähnen können: Ist es eine Kombination von beiden? Seine eigene These führte den Beweis über die "Einheit des Universums" und besagt ferner, daß scheinbar getrennte Einheiten sich gleichzeitig zu einem größeren Ganzen vereinigen.
Welchen Platz hat der Wertbegriff in einer Welt von Tatsachen? Ständig fällen wir Urteile bei Abschätzung des Wertes von Objekten, die vor uns liegen und über Ereignisse, die laufend um uns herum eintreten. Was in uns führt diese Schätzungen durch und fällt die darauffolgenden Entscheidungen?
Was ist Raum? Er muß mehr sein als ein Vakuum, mehr als ein Behälter, in dem materielle Objekte eingeschlossen sind. Einige orientalische Philosophen sagen, daß der scheinbar leere Raum in Wirklichkeit voll von Materie ist, die jenseits unserer Aufnahmefähigkeit oder Erkenntnis liegt - und daß das, was wir Raum nennen "eine materielle, wenn auch (anscheinend) absolut unerkennbare lebende Wesenheit ist".
Diese Dinge, besonders Gemüt, Gedanken, Intuition, Herz und Wille sind für philosophische Untersuchungen geeignet. Werden sie jedoch getrennt behandelt, können nur irreführende Vorstellungen dessen entstehen, was sie wirklich sind. Es ist ermutigend, daß Dr. Commoner und andere Forscher auf dem Gebiet der Biologie die Notwendigkeit betonen beim Studium die Geschöpfe als ganzen Organismus zu sehen. Im Mittelpunkt ist ein Faktor "X" vorhanden, der seine innewohnenden Eigenschaften den körperlichen Bestandteilen jedes Wesens aufprägt, und dieser Prozeß formt die Modelle innerhalb der "Erbmoleküle" der Gene.
Die kommenden Generationen scheinen eine entwicklungsfähige Philosophie über das Leben mitzubringen, deren Ausdrucksformen sie mit den Gewohnheiten älterer Menschen in offenen Konflikt bringen. Für sie ist ihre Anschauung jedoch stichhaltig und sie wird die zukünftigen Zivilisationen formen, die der Höhepunkt ihrer eigenen Merkmale und Lebensanschauungen sind. In der letzten Analyse ist jeder von uns in seinem tiefsten Innern moralisch für seine Entscheidungen verantwortlich. So kann es sein, daß in den kommenden Jahren Wissenschaftler, Philosophen, Religionswissenschaftler und Psychologen Hand in Hand arbeiten werden, um uns eine einheitliche und umfassende Anschauung von der Natur des Menschen und des Kosmos zu vermitteln.