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Die Würde des Menschen und die Bruderschaft der Völker

DR. SARVEPALLI RADHAKRISHNAN, Präsident von Indien, eröffnete am 4. Januar 1964 zu New Delhi den 26. Internationalen Kongreß der Orientalisten. Es war das erste Mal, daß der alle drei Jahre stattfindende Kongreß in einem asiatischen Lande abgehalten wurde. Die Gründungsversammlung fand am 1. September 1873 in Paris statt. Den Vorsitz führte damals M. Léon de Rosny. Es erscheint richtig, daß Dr. Radhakrishnan, dessen Ansprache unten wiedergegeben wird, auf Grund seines bedeutsamen Wirkens in der Auslegung der Weisheit und Philosophie seines Volkes für den Westen, diese letzte Versammlung der Gelehrten östlicher Kultur eröffnete. - Der Herausgeber

 

 

 

Es bereitet mir große Freude, diesen 26. Internationalen Kongreß der Orientalisten zu eröffnen. Ich heiße die Abgeordneten und besonders jene, die aus dem Ausland kamen, um diesen Kongreß zu besuchen, willkommen. Es ist uns eine große Befriedigung, daß dieser Kongreß das erste Mal in Asien und in unserer Hauptstadt New Delhi stattfindet.

Delhi selbst bietet einen Einblick in eine frühere Zivilisation. Wir können sagen, daß schon 1000 Jahre vor Christus hier an diesem Ort, wo heute Purana Qila (Altes Fort) steht, Indraprastha bestand. Die Stadt trägt den Stempel aufeinanderfolgender Zivilisationen, besonders jener der Yaudheyas, der Kushanas, der Mogulen und der Briten.

Die Ausschüsse, in die der Kongreß aufgeteilt ist, und die in den Ausschüssen behandelten Themen bedecken ein weites Feld von Zivilisationen, die in Ägypten, Babylon, Syrien, im Iran, in Israel, Westasien und Südostasien blühten. Diese Zivilisationen lieferten Beiträge, die jetzt das Erbe der ganzen Menschheit sind. Wenn sich auch jede von ihnen in Literatur, Kunst, Philosophie und Religion zum Ausdruck brachte, war doch die eine auf diesem, die andere auf jenem Gebiet hervorragender. Ägypten entwickelte die Geometrie und stellte den Kalender auf. Babylon legte die Grundlagen zur Astronomie. Indien gab der Welt die Zahlen und die Dezimalzahlen. Der Iran und Israel legten die Betonung auf das Moralgesetz.

Die Werte, die die Grundlage der Kulturen dieser großen Länder bildeten, beeinflußten alle Zivilisationen, die griechische und die römische, die moderne europäische und die amerikanische. Selbst in Zeiten, in denen das Transport- und Nachrichtenwesen nicht entwickelt waren, ist die östliche Zivilisation in den Westen vorgedrungen. Der Iran und Griechenland standen miteinander in Verbindung, und viele Inder fanden durch diese Verbindung den Weg nach Griechenland. Asokas Missionen nach dem Westen und Alexanders Einfluß auf Ägypten, den Iran und Nordwestindien hatten eine gegenseitige Befruchtung der Kulturen zur Folge.

Wir haben einen Bericht von Aristoxenes über das Zusammentreffen von Sokrates mit einem indischen Besucher, der von Eusebius in seinem Eccolesiastical History wiederholt wird. Als der Besucher aus Indien fand, daß sich Sokrates für die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit interessierte, sagte er, daß es ohne eine entsprechende Beachtung des spirituellen Teiles des Menschen keine vollkommene Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit gäbe. Folglich muß die profane menschliche Natur von spiritueller Weisheit unterstützt werden.

Außerdem berichtet uns Palladius von einer Unterredung zwischen Alexander und Dandamis, die von St. Ambrose im vierten Jahrhundert n. Chr. ins Lateinische übersetzt wurde. Ich habe gerade eine vor einigen Wochen veröffentlichte englische Übersetzung gelesen. Alexander war sehr beeindruckt von dem enthaltsamen Leben und der Erhabenheit der philosophischen Weisheit des indischen Denkers. Der Inder sagte zu Alexander, daß die natürlichen Verlangen leicht zu befriedigen sind: Durst durch Wasser, Hunger durch Nahrung; aber das Begehren nach Besitztümern ist ein unnatürliches. Es hört nicht auf und wird nie völlig befriedigt:

Aber der Durst ist ein natürliches Verlangen, wenn du Wasser trinkst, nach dem dich dürstet, hört das Verlangen danach auf. Ähnlich ist es, wenn du Hunger hast. Du nimmst die Nahrung zu dir, nach der du verlangst und der Hunger vergeht. Wenn daher des Menschen Verlangen nach Gold von der gleichen Beschaffenheit wäre, dann würde sein Gelüste ohne Zweifel aufhören, sobald er das Gewünschte erlangte. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, es kommt immer wieder. Es ist eine Leidenschaft, die nie befriedigt wird und so nimmt die Begierde des Menschen kein Ende, denn sie entspringt nicht einer von der Natur eingepflanzten Neigung.1

Manu bezieht sich auf die Bedeutung des folgenden Satzes: "Begierde wird nie durch den Genuß des Begehrten befriedigt; sie wächst immer mehr, wie das Feuer, wenn es durch Brennmaterial genährt wird." (II, 94)

Alexander gab die Meinung auf, daß die nichtgriechische Welt barbarisch sei und ihre Völker nur zu Sklaven taugten. Alle Menschen, die Tugend und Weisheit besitzen, bilden eine Familie. Plutarch sagt, Alexander faßte die Menschen überall zu einer Gemeinschaft zusammen, verschmolz und vermischte das Leben der Menschen, ihre Charaktere, ihre Heiraten und selbst ihre Lebensgewohnheiten sozusagen in einem großen Abendmahlskelch. Er betrachtete die ganze bewohnte Welt als sein Vaterland. Alle guten Menschen bilden eine Familie und nur die Bösewichter sind Fremde. Alexander fühlte es als seine heilige Mission, die ganze Menschheit zu versöhnen. In Ägypten, im Iran, in Nordwestindien spürte er das Erlebnis der großen Zivilisation des Ostens und betrachtete sie als würdige Partner der hellenistischen Zivilisation.

Kurz vor seinem Tode hielt Alexander ein Festmahl, um das Ende eines großen Krieges zu feiern, zu dem er 9000 Personen - Hellenen und Nichthellenen - einlud. Am Schlusse betete er für den Frieden, für die Partnerschaft aller Völker der Welt und daß sie in Freundschaft und Eintracht zusammenleben möchten. Homo-noia, eines Gemütes - die Welt sollte auf eine Gemeinschaft der Gemüter und Herzen gegründet sein.

Die gleiche Aufgabe liegt heute vor uns: die Welt sollte sich mit einem verstärkten Gefühl für die Würde des Menschen und die Bruderschaft der Völker vereinen. Das Studium der östlichen Zivilisationen hat diesen Prozeß in neuerer Zeit gefördert. Sir William Jones, der 1874 Richter am Obersten Gericht in Kalkutta war, startete eine Revolution im Studium der östlichen Zivilisation. Er selbst studierte Arabisch, Persisch und Sanskrit. Er behauptete, daß viele der europäischen Sprachen mit Sanskrit verwandt sind. Die Ähnlichkeiten europäischer Sprachen und des Sanskrit deuten die Ausdehnung an, in der die verschiedenen Völker in wirtschaftlicher Organisation, religiösem Denken und sozialem Aufbau übereinstimmten.

Professor Gordon Childe schreibt:

Es wäre sinnwidrig anzunehmen, daß zwei Volksstämme, sagen wir in Griechenland und Indien, die gänzlich fremde Dialekte sprechen, wenn sie die gleiche Ebene der Entwicklung erreichen, gleichzeitig auf solche Worte stoßen und sie in ähnlicher Weise abwandeln sollten, wie "Vater", "Fall" und "Fünf", wie es bei den vedischen Indern und den homerischen Griechen in ähnlicher Weise tatsächlich geschah. Die anfängliche Kultur muß die Stufe der Entwicklung sein, die verschiedene Völker erreichten, während sie nahe genug beisammen wohnten, um miteinander in Verbindung zu stehen.

- The European Inheritance, I, 84

Diese Ähnlichkeiten deuten darauf hin, daß die beiden Völker, die alten Griechen und die vedischen Inder, miteinander in Verbindung gestanden haben müssen, wenn auch keines eine Erinnerung an jene Zeiten besaß und sie sich als Fremde begegneten, als sie beide Teile des persischen Reiches wurden.

Dank den Erfindungen der Wissenschaft und den Einrichtungen in der Technologie sind heute alle Völker nahe Nachbarn. Durch Transport und Verkehr kamen Kulturen, Rassen und Religionen zusammen. Die einzige Haltung, die wir unter den gegenwärtigen Verhältnissen einnehmen können, ist nicht eine Haltung der Abgeschlossenheit, sondern des Begreifens, nicht der Unduldsamkeit, sondern des Verstehens, nicht des Hasses, sondern der Wertschätzung und der Assimilierung alles Wertvollen.

Die Menschheit ist einer Wurzel entsprungen, obgleich sie in verschiedene Gemeinschaften aufgeteilt ist. Sie strebt jetzt nach der Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit und der Ausgleichung der verschiedenen Kulturen. Die Geschichte einer Welt, der neuen Welt, verspricht eine glänzende Organisation und eine majestätische Freiheit; und wir können in diesem Kongreß wirkungsvoll zum Erringen dieses Zieles der Menschen beitragen.

In der ganzen Welt wurden viele führende Intellektuelle durch indisches Denken beeinflußt, besonders Schopenhauer, Paul Deussen und Keyserling in Deutschland, Professor Winternitz und Professor Lesny in der Tschechoslowakei, Emerson, Thoreau und Whittier in Amerika, Sylvain Levi in Frankreich, Sherbatsky in der Sowjetunion, Colebrooke, Cowell, Hodgson, MacDonell und Thomas in Großbritannien und literarische Persönlichkeiten wie Yeats und AE in Irland. Ich erwähne nur einige hervorragende Namen, die mir jetzt gerade einfallen.

Wir leben in einer Zeit des Verfalls des Glaubens und der Enttäuschung, was die Werte der uns überkommenen Überlieferungen anbetrifft. Alle Übergangsperioden sind Zeiten der Auflösung und der Neugestaltung. Menschen, die im Geiste der Wissenschaft und des ethischen Humanismus erzogen wurden, sträuben sich, etwas auf Autorität hin anzunehmen. Deshalb geben in vielen Teilen der Welt die Menschen ihren traditionellen Glauben auf.

In dieser Lage können die Werte, für die dieses Land eintrat, wichtig sein. Die indische Tradition verlangt von uns nicht, etwas auf Vertrauen oder Autorität hin anzunehmen, sondern alles durch Erfahrung zu prüfen. Die Religion widerstreitet direkt der Höchsten Wirklichkeit, der Einsicht in das Mysterium der Dinge und in die Bedeutung des Daseins. Diese Einsicht ist anubhava oder samsparsa (Erfassen oder Wahrnehmen) des Göttlichen. Die Buddhisten nennen es den Zustand des Erwachens, von meta-noia oder Wechseln des Bewußtseins, wie es die Christen nennen.

Wenn wir einmal diesen echten Geist der Religion besitzen, den wir im Pulsschlag unseres Wesens fühlen, begreifen wir, daß jene, die ihn erlangt haben, ein spirituelles Reich bilden. Es ist eine unleugbare Erfahrung, daß das Höchste nicht in logischen Lehrsätzen oder sprachwissenschaftlichen Symbolen ausgedruckt werden kann. So werden seine verschiedenen Aspekte bezeichnet als "die Transzendente Wirklichkeit", das Höchste Selbst oder "der Herr der Welt" - brahmeti paramatmeti bhagavan iti sabdyate. Das Transzendente ist der "Gott über allen Göttern" - devati deva. Wir werden ihn in den Tiefen unseres Wesens entdecken. In diesem Falle ist ER paramatman. Er wird auch als der Herr der Welt verehrt. Hier haben wir die Gegenüberstellungen von Ich und Du, Gott und die Welt. Diese verschiedenartigen Bezeichnungen stellen keine sich widerstreitenden Beschreibungen dar, sondern drücken verschiedene Aspekte des Höchsten Seins aus.

Die Menschen mögen aus dem Osten oder Westen stammen, dieser oder jener Religion anhangen, sie gehören alle zu der einen Familie Gottes; die Wege, die wir gehen, die Namen, die wir geben, verblassen und werden nichtssagend, wenn wir dem glänzenden Licht des Göttlichen gegenüberstehen. Wenn wir mit der Flamme des Göttlichen in Berührung kommen, werden wir den verschiedenen Glaubensbekenntnissen und Formen gegenüber sehr duldsam. Wir haben immer Ehrfurcht vor dem unerreichbaren Kern eines anderen Menschen, vor der in seiner Seele eingehüllten wartenden Gottheit. Natürlicherweise verlangt eine solche Religion von uns die potentiellen spirituellen Möglichkeiten des Menschen anzuerkennen und die uns durch von Menschen gemachten Institutionen auferlegten künstlichen Unterschiede und die Fesseln der Leibeigenschaft und der Sklaverei aufzugeben.

Ein wahrhaft religiöser Mensch wird sein Leben im Dienste für die Unglücklichen, die Sünder, die Unwissenden, die Armen und Hilflosen verbringen. Den indischen Überlieferungen, den Traditionen der Hindus, Buddhisten, Jainas und Sikhs entsprechend, ist, wer sich selbst besiegt, ein größerer Eroberer, als jemand, der im Kampfe tausend mal tausend Menschen besiegt. Die sogenannte Betonung der Askese bezeichnet keine negative Haltung. Sie bedeutet ein positives Anteilnehmen am Wirken der Welt. Wenn Gott der Schöpfer der Welt ist, haben wir bis zu einem gewissen Grade an seiner Natur teil. Wir sind Mitschöpfer mit dem Göttlichen. Es ist nicht unsere Aufgabe, uns dem Griff der Zeit zu entwinden, sondern uns als der Tyrannei der Zeit überlegen zu erweisen. Die Vorstellung ist, daß die Welt durch Menschen erlöst wird, deren Herzen durch Liebe frei wurden. Welterlösung - sarva-mukti - war das beständige Thema der religiösen Klassiker der Hindus und Buddhisten. Die Hindus und die Buddhisten fordern uns in ihrem Denken auf: Haß durch Liebe, Böses durch Gutes, Habgier durch Freigebigkeit und Falschheit durch Wahrheit zu überwinden. Eine solche Religion ist vernünftig, ethisch und spirituell und in ihrer Essenz in allen Menschen zu finden. Jeder Mensch hat seine vernünftige, ethische und spirituelle Seite. Es ist falsch, zu denken, manche Menschen seien nur vernünftig andere spirituell.

Jede Religion muß dieser hohen Anforderung spirituellen Erlebnisses gerecht werden oder sie wird dahinschwinden. Diese Religion brauchen wir unter den gegenwärtigen Umständen.

Heute verlangt die Welt nach einem auf Einheit und Harmonie gegründeten Zusammenschluß der Welt im Gegensatz zu Einförmigkeit und Gleichmacherei. Wir dürfen nicht vergessen, was die großen Weltlehrer versicherten, daß alle Menschen Brüder sind und ihre abweichenden Merkmale nicht ausgelöscht, sondern im gegenseitigen Verstehen gepflegt und aufrechterhalten werden sollen. Wir müssen aus den religiösen Überzeugungen und Erfahrungen anderer Völker lernen. Wir haben begriffen, daß Konflikte zwischen Ländern nicht mehr durch Krieg beseitigt werden können, die in ihrem Charakter verheerend sind. Im modernen Krieg gibt es keine Verlierer oder Gewinner, keine Sieger oder Besiegte. Die Unterschiede müssen in einem großen Verstehen des menschlichen Wesens und seiner verschiedenartigen Ausdrucksweise ausgeglichen werden. Durch bloße politische Torheit und fanatischen Eifer für unsere eigene Anschauung können wir nur das Ende der Welt herbeiführen. Wir müssen lernen, uns der ganzen menschlichen Rasse gegenüber loyal zu verhalten. Nur einer individuellen Gruppe oder einem religiösen Glauben gegenüber loyal zu sein genügt in der heutigen Welt nicht.

Sie, als Erforscher der Kunst, der Literatur und des Denkens der verschiedenen Kulturen der Welt haben eine entscheidendere Stimme bei der Gestaltung der Gemüter und Herzen der Menschen als selbst politische Führer. Wollen wir uns heute - im Geiste des Gelehrtentums, der keine Grenzen kennt und wenn echt, Bescheidenheit und Toleranz erzeugt - der Aufgabe widmen, eine neue Welt aufzubauen, uns selbst von jeder Spur von Haß, Intoleranz und Fanatismus jeder Art frei zu machen. Laßt uns vorwärts schreiten zu einer großen Vereinigung, in der wir jeden Menschen, jede Rasse, jede Kultur, jeden Glauben achten. Die Welt verlangt nach Kameradschaft. Der Geist dieses Landes fordert uns seit der Zeit des Rig Veda bis heute auf, uns zusammenzuschließen, um gemeinsame Ideale und Ziele zu entwickeln.

"Versammelt euch, beratet euch:

Mögen eure Gemüter eines Verstehens sein:

Seid einig im Handeln und Tun:

Seid einig in euren Gedanken und Absichten:

Die Wünsche eurer Herzen seien die gleichen,

so daß vollkommene Einigkeit unter euch

bestehen möge."

 

- Aus "Foreign Affairs Record" der Regierung von Indien, Januar 1964

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Fußnoten

1. The Brahman Episode by S. V. Yankowski, pp. 21-23 [back]