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Vom Herold der Freiheit zum Propheten in Ketten

Unter diesem Titel veröffentlichte die Saturday Review am 6. Juli 1963 einen Auszug aus einem Buch von Lewis S. Feuer, The Scientific Intellectual1. Beim Lesen erinnerte ich mich der Geschichte aus "Tausend und eine Nacht" von dem Fischer, der eine mit dem Siegel Salomons versiegelte Flasche aus der Tiefe heraufzog. Als er das Siegel entfernte, kam ein schrecklicher, riesenhafter Dämon heraus; und da er die Formel nicht kannte, mit deren Hilfe ein Weiserer den Dämon so eingesperrt hatte, war er dieser bösartigen Macht ausgeliefert. Diese Erzählung ist oft in Verbindung mit der Rolle, die die Wissenschaft bei der Herstellung der Atombombe spielt, zitiert worden, jedoch immer ohne daß das Siegel und die Weisheit erwähnt wurden. Wegen der Wahrheit, die der Erzähler der Geschichte übermitteln wollte, ist das äußerst wichtig, denn bloßes Wissen, das nicht von Weisheit geleitet wird, bringt Unheil.

Von J. Robert Oppenheimer, einem der Erfinder der Atombombe, wird gesagt, daß er 1947 erklärte: "Die Naturwissenschaftler haben die Sünde kennengelernt, und das ist eine Erkenntnis, die sie nicht loswerden können." Das ist das Geständnis eines Mannes, der betrübt war, als er gewahr wurde, daß er versäumt hatte, als Mensch seine höchsten Verpflichtungen zu erfüllen. Bis zu dem verhängnisvollen Tag von Hiroshima kannte der Wissenschaftler - als Mann der Wissenschaft - keine Sünde, denn er war auf der Suche nach Wahrheit, und die Wahrheit ist weder gut noch böse, auch nicht ihre Erfindungen und ihre Publikationen. Dahinter stand der unerschütterliche Glaube, daß das Wissen den Menschen letzten Endes von den Fesseln seiner eigenen Unvollkommenheit befreien würde. Auf dieser Grundlage ruhte der Anspruch, daß der Wissenschaftler in seinen Bestrebungen und seiner Berufung absolute Freiheit genießen sollte und auf dem wissenschaftlichen Gebiet nationale Grenzen fallen müßten.

Oppenheimers Erklärung bezog sich nicht nur auf Hiroshima, sondern mehr speziell noch auf den unvermeidlichen Wechsel in der Stellung des Wissenschaftlers, seit er Mitschuldiger an einem epochemachenden Ereignis wurde und sich nachher nicht mehr aus dem Gewebe, in das er verstrickt war, befreien konnte. Wie Dr. Oppenheimer 1945 sagte, indem er die Bhagavad-Gîtâ zitierte, "Ich bin der Tod - der Zerstörer von Welten." Wenn die Wissenschaft vorher als frei handelnd betrachtet wurde, und keine andere Autorität als die Wahrheit, die keine Nationalitäten kennt, anerkannte, so hatte sie sich jetzt streitenden Parteien in der internationalen Politik dienstbar gemacht; ein unpersönliches Ideal ist von der Dienstleistung für zeitliche Interessen verdrängt worden. Der Wissenschaftler, einst ein unabhängiger Arbeiter und Denker, ist jetzt nach Ansicht von Professor Norbert Wiener zu "einem Hilfsarbeiter in einer wissenschaftlichen Fabrik" herabgesunken. Und Einstein erklärte 1954, wenn er noch einmal die Wahl hätte, würde er lieber Bleigießer oder Bettler als Wissenschaftler werden. Alles zusammen, ein düsteres Bild, und nicht einmal von einem ewigen Pessimisten entworfen.

Lewis S. Feuer, der diese verschiedenen Ansichten zusammenfaßte, ist jedoch, was die Wiederbelebung der wissenschaftlichen Philosophie anbetrifft, nicht ohne Hoffnung. Er glaubt, daß die Bestrebungen der wissenschaftlichen Intellektuellen mit den großen Hoffnungen in der Seele der Menschen in Einklang stehen, während die unsinnige Furcht wegen des drohenden Atomkrieges mit der Rückkehr zu vernünftigeren Methoden in den internationalen Angelegenheiten nachlassen wird. Die alles überdauernden Strömungen des menschlichen Gemütes werden sich wieder durchringen.

Sicherlich werden sie das, aber man sollte nicht vergessen, daß der Geist, der das Forschen der Wissenschaftler des Westens lenkt, seit der Renaissance sich als Reaktion gegen den Dogmatismus des Mittelalters herausbildete. Die Wissenschaft war damals Handlanger der Theologie und mußte sich - wie die Philosophie - bei ihren Beobachtungen auf Aristoteles beschränken (soweit seine Werke bekannt waren) und wurde dann von Thomas von Aquino mit der Theologie zu einem gußeisernen System zusammengeschweißt. Die Grenzen jenes Systems zu überschreiten, bedeutete Ketzerei; sich mit irgendwelchen Experimenten zu befassen, Argwohn, mit all seinen unangenehmen Folgen. Der Übergang zu unserer heutigen Situation stellt einen langen Kampf dar, in dem sich die Theologie auf eine immer beschränktere Position zurückziehen mußte und die Wissenschaft auf den vielen Gebieten der Forschung immer stärker wurde. Im Verlaufe der Zeit wurde der Widerstreit durch eine Art kalten Frieden ersetzt, der auf der Übereinstimmung beruhte, daß keine der beiden Parteien in das Gebiet der anderen eindringen sollte. Diese verhängnisvolle Spaltung zwischen Religion und Wissenschaft ist in unserem Gedankenleben so zur Gewohnheit geworden, daß der Zustand als "das natürlichste Ding" betrachtet wird. Folgedessen wird es als Tatsache angesehen, daß es eine wissenschaftliche und eine religiöse Wahrheit gibt, die nicht miteinander in Widerspruch stehen können, weil sie zwei ganz und gar verschiedene Dinge sind, eine Annahme, die zu bezweifeln wenige den Mut haben, denn es wäre störend, eine so fundamentale Voraussetzung in Frage zu stellen.

Doch diese Trennung von Religion und Wissenschaft ist nur eine künstliche Vereinbarung, denn die mittelalterlichen Theologen leugneten heftig eine solche Dualität der Wahrheit; und der Wissenschaftler des neunzehnten Jahrhunderts erklärte, daß es nur einen Weg zur letzten Erkenntnis gibt, nämlich die Wissenschaft. In ihrer Selbstsicherheit waren beide naiv: die eine vergißt, daß das fehlbare menschliche Gemüt jede Offenbarung, selbst wenn sie unzweifelhaft ist, erklärt haben muß, die andere begreift nicht, daß sich dasselbe menschliche Gemüt über die Erscheinungen, die auf das Gemüt einwirken, ein Urteil bilden muß, - trotz des berühmten Ausspruches von Bacon, ob nun wahr oder nicht, daß das Gemüt alles Wissen über die Sinne empfängt. Es ist speziell das Gebiet der Philosophen, das Gemüt, seine Aktionen und Reaktionen zu studieren und daher die Natur des Wissens an sich.

So erfolgte vom fünfzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert eine gradweise Veränderung in der allgemeinen Art des Denkens, die zur Spaltung zwischen Religion und Wissenschaft und zu deren Vorherrschaft führte. Die großen Gestalter intellektuellen und spirituellen Lebens während dieser dazwischenliegenden Jahrhunderte waren - obgleich gegen den strengen Dogmatismus der totalitären theologischen Anhänger - sich der Unerläßlichkeit religiöser Grundlagen wohl bewußt. Ob Philosoph oder Wissenschaftler, ihr Wissen war ein vollständiges Ganzes, in dem man leben konnte, kein sorgfältig katalogisiertes Bücherregal, in dem jede erkennbare Tatsache und jede Theorie ordentlich und systematisch begraben war. Wissenschaftlich gesprochen ist ihr Wissen durch die unermeßliche Ausdehnung und verschiedenartige Spezialisierung in der modernen Wissenschaft verkümmert, was in der Nuklear- und Astrophysik am augenscheinlichsten ist. Heute sind die professionellen Wissenschaftler jedenfalls allgemein nur Wissenschaftler; in religiöser Hinsicht sind sie gleichgültig und in spirituellen Dingen so wenig erleuchtet, wie der Mann auf der Straße. Ausgenommen jene, die Philosophen geworden sind, haben sie wenig oder kein Interesse an Philosophie. Deshalb kann von dem Wissenschaftler nicht mehr erwartet werden, daß er die Resultate seiner Forschungen mehr im Lichte ewiger Werte betrachtet, und daher ist er zu einem Untergebenen der allgemeinen Norm geworden. Das stimmt besonders, seitdem die Wissenschaft die menschliche Gesellschaft umgestaltet hat.

Dieser Einfluß ist wechselseitig geworden, denn die Gesellschaft, d. h. der Mensch im allgemeinen, ist sozusagen zum Arbeitgeber der Wissenschaft geworden. Seit beträchtlicher Zeit ist der Wissenschaftler immer weniger frei und immer mehr der Diener der Industrie geworden und langsam auch der Diener der Regierung. Seine Entdeckungen werden patentiert und deshalb das Eigentum jener, die das Patent bezahlen oder der Macht, die die Forschung anordnete. Wenn das eine Degeneration im Zustand der reinen Wissenschaft ist, dann ist sie die logische Folge eines Prozesses, bei dem sich die Wissenschaft selbst von der Philosophie und von der Religion trennte, die alle drei nach der Wahrheit suchen, oder suchen sollten. Durch diese Trennung hat auch die Religion einen Verlust erlitten. Was übrig blieb, war nur ein System bloßer Glaubensbekenntnisse. Und die Wissenschaft, dem Spirituellen nicht mehr länger angegliedert, hat sich selbst auf eine Aufstellung materieller Erscheinungen und Hypothesen beschränkt, die dem Menschen die Mittel in die Hand geben können, Naturkräfte für seine materiellen Interessen zu benutzen, ihn aber nicht über die materielle Welt erheben. Nur durch die vereinte Pflege von Religion, Philosophie und Wissenschaft kann sie sich von der Herrschaft weltlicher Institutionen befreien. Der Mensch muß deshalb nach einer Wahrheit streben, die dem Sucher, der sich ihr weiht, Freiheit bringt, weil sie über weltlichen Zielen, weltlicher Macht oder persönlichem Gewinn steht. Mit anderen Worten, nach ihr zu streben muß uneigennützig sein.

Wenn Lewis S. Feuer eine Neubelebung der wissenschaftlichen Philosophie durch den kalten Krieg, durch Furcht vor der Atombombe oder durch sonst ein zufälliges "Glück" erwartet, dann sieht er die Sache falsch. Das Gegenteil stimmt. Die drohende Gefahr der großen Zerstörung wird verschwinden, wenn der Mensch sein Vertrauen an die ewigen Werte des Lebens wiedergewinnt und seine sozialen und politischen Bestrebungen danach einrichtet. Gegenwärtig überwiegt sein materielles Wissen seine moralische Entwicklung bei weitem. Solange dieser Zustand vorherrscht, kann alles Wissen auf Grund seiner dualen Natur, sich gegen den wenden, der darüber verfügt - und das nicht nur auf dem Gebiete der Kernphysik. In den schrecklichen Problemen, die sich in der allgemeinen Sophisterei des Lebens durch die Wissenschaft und ihr Kind - die Technik - zeigen, steht der Mensch seiner eigenen niederen Natur gegenüber, die darauf hinzielt, seine edelsten Anlagen zu demoralisieren. Diesen Kaliban muß er unterwerfen und ihm seine richtige Stellung als Diener der spirituellen Seele im Menschen zuweisen. In diesem Kampfe liegt für den Menschen seine ernsteste Aufforderung und seine großartigste Gelegenheit.

Fußnoten

1. Basic Books, New York, 1963, $ 10.-. Dr. Feuer ist Professor der Philosophie an der Universität von Kalifornien. [back]