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Unser kulturelles Erbe

bild_sunrise_31964_s103_1Wenn ich gefragt werden würde, aus welchem Schrifttum wir, die wir fast ausschließlich nach den Gedanken der Griechen und Römer und einer semitischen Rasse, der Juden, erzogen wurden, jene Verbesserung ziehen können, die am größten ist, um unser inneres Leben vollkommener, umfassender, universaler, tatsächlich echt menschlicher zu machen, würde ich auf Indien hinweisen, nicht auf das Indien von heute, sondern auf jenes vor 1000, 2000, ja womöglich vor 3000 Jahren.

Das Studium der Mythologie z. B. hat einen vollkommen neuen Charakter angenommen, hauptsächlich durch das Licht, das durch die alte vedische Mythologie darauf geworfen wurde. Selbst die Fabeln verdanken Indien neues Leben, woher die vielen Wanderungen der Fabeln durch verschiedene Kanäle, vom Osten nach Westen, nachgewiesen worden sind. Der Buddhismus ist, wie jetzt bekannt ist, die Hauptquelle unserer Legenden und Parabeln gewesen. Man denke z. B. an die Anspielung in der Fabel vom Esel im Löwenfell, wie man sie bei Plato findet. War das nicht von der Hitopadesa geliehen, die von einem Esel erzählt, der nahe am Verhungern von seinem Besitzer in ein Kornfeld geschickt wurde? Um ihn zu schützen, steckte er ihn in das Fell eines Tigers und alles ging gut, bis sich ein Wächter, unter einem grauen Mantel verborgen, näherte und versuchte, den Tiger zu schießen. Der Esel denkt, das ist ein grauer weiblicher Esel, fängt an zu schreien und wird getötet.

Oder nehmen wir die Fabel vom Wiesel, das durch Aphrodite in eine Frau verwandelt wurde, die, wenn sie eine Maus sah, sich nicht zurückhalten konnte, auf sie zu springen. Dies ist ebenfalls einer Sanskrit-Fabel sehr ähnlich, aber wie konnte sie rechtzeitig nach Griechenland gebracht worden sein, um in einer der Komödien von Strattis um 400 v. Chr. zu erscheinen?

Wir können noch so weit in die Antike zurückgehen, und immer noch finden wir seltsame Übereinstimmungen zwischen den Legenden Indiens und denen des Westens, ohne jetzt sagen zu können, ob sie von Ost nach West oder von West nach Ost wanderten. Daß zur Zeit Salomons ein Verbindungskanal zwischen Indien und Syrien und Palästina offen war, steht ohne Zweifel fest, ich glaube daran wegen gewisser Sanskritwörter, die in der Bibel als Namen von Exportartikeln aus Ophir1, wie Elfenbein, Affen, Pfauen und Sandelholz vorkommen. Es besteht auch kein Grund, anzunehmen, daß der Handel zwischen Indien, dem Persischen Golf, dem Roten Meer und dem Mittelmeer jemals vollständig unterbrochen war, selbst nicht zu der Zeit als das Buch der Könige vermutlich geschrieben wurde.

Die Urteilskraft Salomons ist immer als ein Beweis großer juristischer Weisheit bewundert worden, obwohl ich zugeben muß, - wenn ich auch keine juristische Ausbildung besitze, - daß ich nie ein Schaudern unterdrücken konnte, wenn ich die Entscheidung las: "Halbiere das lebendige Kind und gib die Hälfte der einen und die Hälfte der anderen." Dieselbe Geschichte wird von den Buddhisten erzählt, deren heiliger Canon voll solcher Legenden und Parabeln ist. Im Kanjur, der die tibetanische Übersetzung der buddhistischen Tripitaka ist, lesen wir gleichfalls von zwei Frauen, von denen jede behauptete, die Mutter des gleichen Kindes zu sein. Der König, der lange ihrem Streit zuhörte, gab es als hoffnungslos auf, die richtige Mutter festzustellen. Es wurde ihm geraten, die Frauen sollten das Kind nehmen, um die Sache unter sich auszumachen. Daraufhin fielen beide Frauen über das Kind her, aber sie fochten so heftig, daß das Kind verletzt wurde und anfing zu weinen. Eine von ihnen ließ es dann gehen. Das regelte die Frage, und die andere wurde mit einer Rute geschlagen.

Unsere führenden intellektuellen Vorfahren sind ohne Zweifel die Juden, die Griechen, die Römer und die Sachsen, und wir sollten keinen Mann gebildet nennen, der nicht weiß, was er seinen intellektuellen Ahnen in Palästina, Griechenland, Rom und Deutschland schuldet. Die ganze vergangene Weltgeschichte würde für ihn Dunkelheit sein und, nicht wissend, was jene, die vor ihm kamen, für ihn getan haben, würde er sich wahrscheinlich nicht darum kümmern, irgend etwas für jene zu tun, die nach ihm kommen. Das Leben würde für ihn eine Kette von Sand sein, während es eine Art elektrische Kette sein sollte, die unsere Herzen sowohl mit der ältesten Gedankenwelt schwingen läßt wie auch mit den entferntesten Hoffnungen der Zukunft.

Lassen Sie uns mit unserer Religion beginnen. Niemand kann die geschichtliche Entwicklungsmöglichkeit der christlichen Religion verstehen, ohne etwas über die jüdische Rasse zu wissen, die hauptsächlich in den Schriftstücken des Alten Testaments studiert werden muß. Und um die wirkliche Beziehung der Juden zu der übrigen alten Welt wahrzunehmen, und um zu verstehen, welche Ideen ihnen besonders eigen waren und welche Ideen sie gemeinsam mit den anderen Gliedern des semitischen Stammes teilten oder was für eine Moral und welche religiösen Einflüsse sie von ihrer historischen Verbindung mit anderen Völkern des Altertums empfingen, ist es unbedingt notwendig, der Geschichte von Babylon, Ninive, Phönizien und Persien einige Aufmerksamkeit zu schenken. Sie mögen als ferne Länder und vergessene Völker erscheinen, und manch einer mag geneigt sein zu sagen: "Laßt die Toten ihre Toten begraben, was bedeuten uns jene Mumien?" Dennoch ist das der wunderbare rote Faden der Geschichte, und ich könnte Ihnen leicht viele Dinge zeigen, die wir diesen Völkern verdanken.

Jeder, der eine Uhr trägt, verdankt den Babyloniern die Teilung der Stunde in 60 Minuten. Diese sechzigfache Teilung ist eine Besonderheit der Babylonier. Hipparchos, 150 v. Chr., übernahm sie von Babylon, Ptolomäus, 150 n. Chr., verbreitete sie weiter, und die Franzosen, die für alles das Dezimalsystem einführten, schonten das Zifferblatt der Uhr und ließen ihm seine 60 babylonischen Minuten.

Jeder, der einen Brief schreibt, verdankt sein Alphabet den Römern und Griechen, die Griechen verdankten ihr Alphabet den Phöniziern, die es in Ägypten lernten, so daß in jedem Brief, den wir schreiben, die Mumie einer alten ägyptischen Hieroglyphe eingebettet liegt.

Wenn es hinsichtlich der Religion wahr ist, daß niemand ihren ganzen Sinn wahrnehmen kann, ohne ihren Ursprung und ihr Wachstum zu kennen, was uns allein die keilförmigen Inschriften von Mesopotamien, die Hieroglyphentexte von Ägypten und die historischen Denkmäler von Phönizien und Persien offenbaren können, so ist es ebenso wahr im Hinblick auf all die anderen Elemente, die unser intellektuelles Leben bilden. Wenn wir Juden oder Semiten in unserer Religion sind, so sind wir Griechen in unserer Philosophie, Römer in unserer Politik und Sachsen in unserer Sittenlehre, und daraus folgt, daß eine Kenntnis der Geschichte der Griechen, der Römer und der Sachsen oder der Lauf der Zivilisation von Griechenland nach Italien und durch Europa zu den Britischen Inseln und westwärts einen wesentlichen Bestandteil in einer liberalen Erziehung bildet.

Aber dann könnte man fragen: Warum Indien einbeziehen? Was haben wir von den Bewohnern am Indus und am Ganges ererbt, daß wir ihre Namen, ihre Epochen und ihre Taten unserem überlasteten Gedächtnis hinzufügen sollen? Es liegt etwas Richtigkeit in dieser Beanstandung. Die alten Einwohner von Indien sind nicht in dem gleichen direkten Weg unsere intellektuellen Vorfahren, aber sie stellen einen Nebenzweig jener Familie dar, zu der wir durch die Sprache gehören und daher durch das Denken, und ihre historischen Aufzeichnungen erstrecken sich in manchen Beziehungen so weit über alle anderen Aufzeichnungen und sind uns in solch vollständigen und deutlichen Dokumenten bewahrt geblieben, daß wir aus ihren Lektionen lernen können, was wir nirgends anderswo lernen und die fehlenden Glieder unserer intellektuellen Abstammung zu ergänzen vermögen, was viel wichtiger ist als jenes fehlende Glied (welches wir gut fehlen lassen können) zwischen Affen und Mensch.

Welches Recht hat dann das Sanskrit, die alte Sprache der Inder, auf unsere Aufmerksamkeit und welche große Wichtigkeit in den Augen der Geschichtsschreiber? Vor allen Dingen sein Alter - denn Sanskrit ist bekanntlich aus einer früheren Zeit als Griechisch. Aber was weit wichtiger ist als seine bloße chronologische Antike ist der alte Zustand, in dem uns jene arische Sprache überliefert und bewahrt worden ist. Die Welt kannte Latein und Griechisch seit Jahrhunderten und ohne Zweifel war zu spüren, daß es hier manche Ähnlichkeit zwischen den beiden Sprachen gab. Manchmal wurde angenommen, daß Latein den Schlüssel zur Bildung eines griechischen Wortes gibt, manchmal schien Griechisch das Geheimnis des Ursprungs eines lateinischen Wortes zu verraten. Später, als die alten teutonischen Sprachen, wie Gotisch und Angelsächsisch, und auch die alten keltischen und slawonischen Sprachen, studiert wurden, war eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen all diesen nicht zu leugnen. Aber wie solch eine Ähnlichkeit zwischen diesen Dingen und auch wie solch auffallende Unterschiede entstanden, blieb ein Geheimnis. Sobald jedoch Sanskrit zwischen diese Sprachen trat, kam Licht und allseitiges Wiedererkennen. Sie waren nicht mehr Fremde, und jede gliederte sich richtig ein. Sanskrit wurde als die älteste Schwester von ihnen allen angesehen und konnte von Dingen erzählen, die die anderen Familienmitglieder ganz vergessen hatten. Doch auch die anderen Sprachen hatten jede ihre eigene Geschichte zu erzählen. Aus all ihren Geschichten zusammen ist zu entnehmen, daß ein Kapitel im menschlichen Gemüt zusammengelegt war, das in mancher Hinsicht für uns wichtiger ist als irgendeines der anderen Kapitel, wie dem jüdischen, dem griechischen, dem lateinischen oder dem sächsischen.

Das ist es, was ich Geschichte im wahren Sinne des Wortes nenne, mehr als die Skandale der Höfe oder die Schlächtereien der Völker, die so manche Seiten unserer Geschichtsbücher füllen.

Wir sprechen und schreiben über Altertümer, und wenn wir können, greifen wir nach einer griechischen Statue oder einer ägyptischen Sphinx oder einem babylonischen Stier. Wir bauen Museen, größer als irgendwelche Königspaläste, um diese Schätze der Vergangenheit aufzubewahren. Aber wissen wir, daß jeder von uns in seiner eigenen Sprache das besitzt, was das reichste aller Museen genannt werden kann? Wenn wir unsere einfachsten Wörter gebrauchen, benützen wir Münzen oder Marken, die in Umlauf waren, ehe es eine einzige griechische Statue, einen babylonischen Stier oder eine ägyptische Sphinx gab.

Wir alle kommen vom Osten, alles, was wir am meisten schätzen, kam zu uns aus dem Osten. "Seinen Osten zu finden", ist für einen Menschen soviel, wie seinen richtigen Platz in der Welt zu bestimmen und in der Tat, den Hafen zu kennen, von dem der Mensch startete, den Kurs, dem er folgte und den Hafen, den er anzusteuern hat.

- Ausgewählt aus Indien: Was kann es uns lehren?

Fußnoten

1. fernes, sagenhaftes Goldland im Alten Testament [back]