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Lao-Tse...der „Alte“

Es gibt Wege, aber der Weg ist auf keiner Karte verzeichnet;

Es gibt Namen, aber keine Worte für das Wirkliche der Natur...

Das Geheimnis wartet auf die Einsicht,

Auf Augen, die nicht von Verlangen umwölkt sind.

Jene, die durch Wünsche gebunden sind

Sehen nur das äußere Gefäß.

 

 

 

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Fünfundzwanzig Jahrhunderte hindurch wurde uns der Name von Lao-Tse überliefert. Die Geschichte berichtet nur wenig über ihn, obgleich kein Mangel an Legenden besteht. Aber der Spiegel, in dem wir diesen ehrwürdigen alten Mann der Vergangenheit betrachten können, ist der Tao Tê Ching, sein einziges überliefertes Werk, obgleich man nicht annimmt, daß er es selbst geschrieben hat. Viel wahrscheinlicher ist es eine Denkschrift oder ein Sammelwerk getreuer Schüler über die Philosophie und Ethik, die sie von ihm lernten. Ein kurzer Absatz enthält alles, was die Überlieferungen darbieten: Lao-Tse wurde um 604 v. Chr. in einem kleinen Dorf im südlichen China geboren. Er war lange Jahre Archivverwalter an der Königlichen Bibliothek zu Honan-fu. Dort gründete er eine Schule zum Studium des Taoismus, und dort, nimmt man an, hat ihn Konfuzius im Jahre 517 besucht. Es gibt keine Urkunde über seinen Tod oder über sein Begräbnis.

Das ist dürftig genug, doch es liefert trotzdem Nahrung zu tiefem Nachdenken. Nehmen wir den Besuch des Konfuzius. Er kam zu Lao-Tse als geringerer zu einem größeren Meister, warum soll man sich also wundern, wenn er, wie die Geschichte erzählt, 'entmutigt' zu seinen Jüngern zurückkehrte? Ihre Methoden die soziale und politische Unruhe jener Zeit zu beheben waren diametral. Konfuzius versuchte es dadurch zu erreichen, indem er auf richtige Ausführung der Riten und Zeremonien bestand, auf strikte Wahrung der Förmlichkeiten, angefangen beim bescheidensten und ungebildetsten Mitglied der Familie bis zum höchsten Erbadeligen und Gelehrten im Staat. Lao-Tse empfahl die Rückkehr zum einfachen Leben und die Aufgabe von Pomp und Ritual. Einen Beweis seiner Größe ließ Konfuzius jedenfalls zurück (wenn er sonst keinen hinterlassen hätte), indem er Lao-Tse mit dem Drachen verglich, jenem uralten und universalen Symbol der Meister des Lebens. Dem poetischen, wenn auch etwas schwärmerischen Bericht von Ssu-ma Ch'ien entsprechend sagte er:

Ich weiß, warum Vögel fliegen können, warum Fische schwimmen können, und warum die Tiere laufen können. Die Läufer können in der Schlinge gefangen werden, die Schwimmer an der Angel und die, die fliegen können, können mit dem Bogen geschossen werden. Aber es gibt auch den Drachen; ich kann nicht sagen, wie er auf dem Wind durch die Wolken emporsteigt und sich in den Himmel erhebt. Heute habe ich den Drachen gesehen.

Es bestand auch eine Schule zum Studium des Tao. Selbst vor fünfundzwanzig Jahrhunderten war hier nichts Neues. In Griechenland lebte Pythagoras, der seinen Landsleuten dieselben Lehren in der ihnen angepaßten Form lehrte: in Indien reinigte Buddha die Gemüter seines Volkes von falschen Begriffen und brachte Erleuchtung. Und schließlich kann man noch an die Ungewissheit in bezug auf das Ende des Lebens von Lao-Tse denken. Das erinnert uns an andere große Weise, deren geheimnisvolles Verschwinden im fortgeschrittenen Alter auf verschiedene Weise beschrieben wurde. Im Falle von Lao-Tse wird gesagt, daß er die Einsamkeit in den Bergen aufsuchte, als er fühlte, daß sein Werk getan war; auch, daß er im hohen Alter früh am Morgen aufstand und auf seinem Ochsen nach Westen ritt, wo er für immer dem Anblick und der Kenntnis der Menschen entschwand.

Unter den vielen Legenden, die sich um seine Person rankten, finden wir folgende: Er wurde angesichts eines fallenden Sternes empfangen, dann 81 Jahre im Mutterschoß getragen und schließlich unter einem Pflaumenbaum geboren. Er war schon bei der Geburt vollkommen mit Intelligenz ausgestattet und der Sprache mächtig. Seine erste Handlung war, daß er sich in die Luft erhob, zum Himmel empor und auf die Erde deutete und sagte: "Im Himmel oben und auf Erden unten ist Tao allein der Verehrung würdig." Über seinen Namen wurde viel spekuliert. Sein Taufname war Le Urh oder Li Urh, nicht Lao-Tse. Es wird angenommen, daß er sich zur Erinnerung an seine Geburt unter dem Pflaumenbaum selbst Le (Pflaume) nannte. Von Urh wird gesagt, daß es "flachohrig" bedeute. Er wird wie folgt beschrieben: "Gelbe Gesichtsfarbe, außerordentlich große Ohren, schöne Augenbrauen, große Augen, schlechte Zähne, platte Nase und einen breiten Mund; an jedem Fuß zehn Zehen und an jeder Hand zehn Finger."

Seltsam, daß hier der zottige Bart und das weiße Haar nicht erwähnt werden, die uns von den Bildern von ihm so vertraut sind. Eine andere Legende erzählt uns, daß dieses weiße Haar der Grund für seinen späteren Namen Lao-Tse, der "Alte Knabe" war - da er mit weißem Haar geboren wurde und die Gesichtszüge eines alten Mannes hatte. Andere jedoch übersetzten Lao-Tse einfach mit der "Alte" oder mit "Alter Philosoph". Es wird gesagt, daß er neunmal lebte, ehe er als Lao-Tse zur Welt kam und eine Verkörperung des Tao gewesen sei: "ohne Anfang und ohne Ursache; der Ahnherr des Urlebens; ohne Licht, Form, Ton oder Stimme; weder Vorfahren noch Nachkommen hatte er; dunkel, doch mit innerer spiritueller Substanz; und jene Substanz war die Wahrheit."

Der Tao Tê Ching enthüllt charakteristische Kennzeichen, auf die in dem biographischen Bericht nicht hingewiesen wird. In ihm erscheint er als ein Schüler der schwerstverständlichen Metaphysik, der den Ursprung des manifestierten Universums bis zu seiner ersten Quelle zurückverfolgt und dabei eine tiefe Lehre darüber entwickelte, wie das Eine die Vielheit ausströmt. Man lernt ihn als einen sehr spirituellen Menschen kennen, der aber dessenungeachtet lebendiges Interesse an der Wohlfahrt seines Landes nimmt, obgleich sein Interesse nicht von der Art dessen ist, der für sich selbst soziale oder politische Auszeichnung wünscht. Nein, für sich wünscht er die Ruhe und den Frieden seines eigenen Winkels in der Bibliothek, denn er glaubte sehr an die Lehre, daß jeder seiner eigenen Beschäftigung nachgehen soll. Bereitwillig Rat gebend, wenn er darum gefragt wurde, wollte er doch nicht in das unbeständige Rampenlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit gezogen werden.

Handeln ohne zu planen, tun ohne tun zu wollen, das Große im Kleinen und das Viele im Wenigen sehen, Kränkung mit Güte vergelten, schwierige Dinge ausführen, solange sie leicht sind und große Dinge zuwege bringen: das ist die Methode des Tao.

Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt, und die englische Ausgabe erreichte eine erstaunliche Auflage. Einige Kommentatoren meinen, daß sich die ganze Philosophie von Lao-Tse um die Bedeutung des Wortes wu drehe, die allgemein mit "nicht" oder mit "ohne" wiedergegeben wird, wie in dem Ausdruck wu wei, "nicht handeln". Richtig verstanden, gibt dies einen Einblick in seine Lehre, aber viele haben wu wei ausgelegt, als bedeute es eine negative oder passive Lebensweise. Die Ansicht von Isabella Mears in einer wenig bekannten Übersetzung des Tao Tê Ching scheint einen Weg zum Herzen des alten Philosophen zu öffnen. Bei einer Zergliederung des chinesischen Begriffszeichens für wu zeigt sich, daß wu wei vielmehr "durch die Macht des Inneren Lebens handeln" bedeutet. Kurz, wer sich selbst an die Spitze drängt wird auf Grund des von ihm erzeugten Widerstandes zum Schlusse der letzte sein. Der Mensch im Hintergrund wird, wenn er im Inneren Leben lebt, nach vorne kommen, wie ein Kork auf den Kamm der Woge. Sein Wesen wird seine Mitmenschen beeinflussen:

Wer in Güte wandelt läßt seine Spur im Inneren Leben zurück... Deshalb hilft der selbstbeherrschte Mensch den Menschen immer in Güte und führt sie auf diese Weise hin zum Inneren Leben.

Es ist jedenfalls gut, verschiedene Übersetzungen zu Rate zu ziehen, ehe man eine von ihnen als maßgebend annimmt, denn wegen der knappen Ausdrucksweise im Chinesischen ist es äußerst schwierig, es in modernen europäischen Sprachen wiederzugeben - eine Lage, die hier noch verschärft wird, weil der im Tao Tê Ching behandelte Stoff im wesentlichen mystischer Natur ist. Ob Lao-Tse der Verfasser ist oder nicht, ist unbekannt, die Gedichte werden ihm so ziemlich in derselben Weise zugeschrieben, wie die "Aussprüche von Jesus" dem christlichen Meister zugeschrieben werden. Alles, dessen wir sicher sein können, ist, daß sich während der Zeit des Konfuzius eine Anzahl wahrer Sucher in den Bergen und abgelegenen Tälern angesiedelt hatten. Durch die Korruption der Feudalherrschaft befand sich das ganze Land in einem Zustand des politischen und sozialen Chaos, aber aus dieser Gärung heraus entwickelten sich verschiedene Schulen philosophischen Denkens. Konfuzius kam, um das Evangelium der Moral und der praktischen Reform des bürgerlichen Lebens zu verbreiten. Lao-Tse vertrat jene, die "den Weg" durch Selbstdisziplin und Enthaltsamkeit des Gemütes und des Geistes zu finden suchten. In einer kürzlich erschienenen Ausgabe dieses unsterblichen Klassikers1 gibt R. B. Blakney, Präsident des Olivet College, Michigan, und früherer Lehrer und Missionar in China, folgende erläuternde Erklärung:

Auf Grund des Gesetzes, daß kein wahrer Mystiker sich selbst als solchen erkennt, sind die chinesischen Mystiker schwer festzustellen. Ein wahrer Mystiker könnte ebensowenig sozusagen aus dem Stegreif über Mystik sprechen, wie die Bibel die Religion objektiv behandeln könnte. Christus erwähnt zum Beispiel die Religion nicht; er ist religiös, aber nicht gewollt so. Wir können ganz sicher sein, daß der größte Mystiker nichts von Mystik wußte. "Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst... (Mark. 8, 34) Das Aufgeben des Selbstes erfordert unter anderem, daß man lernt, seine persönliche Identität zu ignorieren, sie in selbstloser Ergebenheit für das Ziel seines Forschens zu verlieren. Das ist die erste Regel der Mystik.

Aber Lao-Tse hat nichts übrig für irgendein unklares Verträumen des Lebens, das unglücklicherweise einen großen Teil des Taoismus späterer Zeit charakterisierte. Seinem Genius das Verzwickte an den Dingen herauszufinden und uns für den spirituellen Realismus einer verantwortungsvollen Lebensführung zu begeistern entsprechend sind die Sprüche und auch die Paradoxa, aus deren philosophischen Tiefen schillernde Funken von Humor entspringen. Wenn die Gelegenheit es erfordert ist er auch ein wenig ironisch, so, wenn er auf die Handlungen jener hinweist, die sich auf Kosten ihrer spirituellen Natur weltlichen Aufgaben widmen. Und er kann die Wahrheit durch persönliche Hinweise hell beleuchten, wie er es beim Beschreiben des Charakters und des Tuns des "Weisen" häufig tut. Von den verstreuten in der ersten Person geschriebenen Zeilen, die manche Gelehrte als echte Autobiographie ansehen, sind wahrscheinlich diese die eindrucksvollsten:

"Ich besitze drei Schätze, die ich hochschätze. Der erste ist die Liebe. Der zweite ist die Genügsamkeit. Der dritte ist die Demut. Mit solcher Liebe kann ich mutig sein. Mit solcher Genügsamkeit kann ich weitherzig sein. Mit solcher Demut kann ich hilfreich sein, als ein Gefäß der Ehre."

Fußnoten

1. The Way of Life - Lao Tzu. Eine neue Übersetzung des Tao Tê Ching von R. B. Blakney, 1955 erstmals veröffentlicht, jetzt als Taschenausgabe herausgegeben, The New American Library of World Literature, Inc., New York. [back]