Die Archive der Meere
- Sunrise 5/1963
Auf vielen Gebieten des Denkens sind die früheren Begriffe dieses Jahrhunderts durch die neuen wissenschaftlichen und technologischen Entdeckungen radikal erschüttert worden. Professor Hans W. Ahlmann, früher Professor für Geographie an der Universität Stockholm, in Schweden, und Führer zahlreicher Forschungsexpeditionen, berichtet uns in folgendem Artikel,1 wie die moderne ozeanographische Forschung eine Revision seit langem bestehender Theorien über das Alter und das Wachstum unseres Planeten forcieren wird. - Herausgeber
Vor einigen Wochen berichtete die Presse, daß der Franzose G. Houot in einem von ihm entworfenen Tauchboot, einem sogenannten Bathyskaph, erfolgreich 9500 Meter (etwa 31000 Fuß) tief getaucht sei. Das geschah in dem an den Kurilen beginnenden Japangraben. Er brach dabei nicht nur einen Rekord, sondern es hatte auch einen neuen wichtigen Schritt vorwärts, zur Eroberung der unerreichbarsten und geheimsten Teile der Meere zur Folge.
Die Erde kann mit Recht ein wässeriger Planet genannt werden, denn dreiviertel ihrer Oberfläche sind mit Wasser bedeckt. Die Wassermassen sind so gewaltig, daß der ganze Globus, wäre er flach planiert, 2500 Meter oder etwa 8200 Fuß tief mit Wasser bedeckt sein würde. Es überrascht daher kaum, daß unsere gegenwärtigen Meere erst in den letzten Jahrzehnten besser bekannt wurden. Was in jüngster Zeit entdeckt wurde, ist sehr bedeutsam für das Verständnis der Meere und der Kontinente. Man fand, daß auch die Tiefen, die bisher als regungslos und ohne Leben betrachtet wurden, lebendige Organismen beherbergen. Außerdem sind die Meere nicht nur bis in ihre tiefsten Tiefen bewohnt, sie enthalten auch in Form von Ablagerungsschichten Aufzeichnungen, die über die natürliche geographische Entwicklung unseres Planeten Aufschluß geben können. Deshalb ist es zusehends dringlicher geworden, daß wir Proben von diesen Schichten emporbringen und sie analysieren.
Bevor die Entdeckungen begannen, hatte die offene See keine Grenzen. Was jenseits des Horizonts lag war unbekannt; nichtsdestoweniger flößte es Furcht und Schrecken ein. Jenseits der Säulen des Herkules war das einst reiche und blühende Atlantis, ohne eine Spur zu hinterlassen, in den Tiefen versunken. Die Meere wurden mit Ungeheuern und Schrecken bevölkert, die alle auf den Karten eingezeichnet waren. Von den Wassermassen wurde angenommen, daß sie in Abgründe hinabstürzen. Wieviel Zeit verging, ehe jemand wagte, um Kap Bojador oder um Kap Verde zu segeln! Die großen Meere waren unbewohnbar und deshalb ohne Bedeutung. Die bekannten Teile der Kontinente waren durch Landstriche miteinander verbunden. Die Existenz Australiens wurde auf guten Glauben hin angenommen, bis schließlich Kapitän Cook im letzten Teil des achtzehnten Jahrhunderts bewies, daß es nicht existiert. Ein Argument gegen Nansens Expedition in den 1890er Jahren war, daß eine Landmasse rund um den Pol sie unmöglich machen würde. Nansen selbst glaubte ein seichtes Meer vorzufinden. Das arktische Becken war für ihn eine ebenso große Überraschung, wie für die anderen.
Als Magellan während seiner Erdumsegelung 1519-1521 im Stillen Ozean sechs Lotleinen zusammenband und bei 800 Meter Tiefe noch nicht den Boden des Meeres erreichte, dachte er, er hätte das tiefste Wasser auf der Erde entdeckt. Erst 250 Jahre später wurden in der Nähe der Shetland Inseln 1000 Meter gemessen. Aber erst als Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein Telegraphenkabel zwischen Großbritannien und Nordamerika notwendig wurde, konnte man sich ein Bild von der Struktur des Meeresbodens machen. Hernach wurde der Fortgang der Forschung beschleunigt, aber selbst in den 1920er Jahren waren nur etwa 15000 Lotungen vorgenommen worden. Das war an sich eine beträchtliche Zahl, aber im Vergleich zur Oberfläche doch so gering, daß auf ein Gebiet von der Größe Schwedens nur 28 Lotungen kamen. Auf diesen Vermessungszahlen eine zuverlässige Schätzung der Gestaltung des Meeresbodens aufzubauen würde nutzlos gewesen sein. Der Wendepunkt kam in den Jahren nach 1920. Mittels der nun allgemein angewendeten Echolotung wurden in 13 Sekunden 10000 Meter Tiefe gemessen, wozu man mit dem Bleilot 13 Stunden brauchte. Mit Hilfe automatischer Registrierung der Resultate konnten genügend Umrißlinien für eine genaue topographische Darstellung erlangt werden.
Wie wurden nun diese unermesslichen Schalen und Gruben, als die sie früher angesehen wurden, gebildet? Alle Elemente der kontinentalen Topographie finden sich auch in den Ozeanen: Berge und Höhen wechseln ab mit Tälern, Ebenen mit kollosalen Bergketten, Vulkane und Lavafelder sind sogar zahlreicher als auf dem Lande. In diesen beiden Hauptteilen unseres Planeten waren diese Kräfte in der Erdkruste mit den gleichen Resultaten am Werke. Trotzdem besteht ein Unterschied zwischen der Tiefsee und den Kontinenten. Auf dem Boden des Ozeans findet unvergleichlich weniger Umformung statt, als auf dem Lande, wo die zerstörenden Kräfte beständig am Werke sind, um was aufgebaut wurde dem Boden wieder gleich zu machen. In der Tiefe gibt es natürlich Strömungen, die ihre Wirkungen haben - die vor einigen Jahren an einer Stelle des Ozeans erfolgte Aufnahme des Meeresbodens zeigte ihn in einer Art gefurcht, wie sie für die Tätigkeit einer Strömung typisch ist. Es finden auch noch andere dynamische Vorgänge statt, aber anscheinend ohne nennenswerte Wirkung auf den Felsboden. Große Gebiete der Meere haben daher die Eigenschaft, sich nicht zu verändern - eine für uns auf der Oberfläche der Erde fremde Ruhe.
In der Regel erheben sich die Landmassen nicht jäh aus der Tiefe, sondern der Übergang besteht aus einem kontinentalen Schelf, das zum Beispiel an der Außenseite der Lofoten sehr schmal ist, dann die norwegische Küste entlang breiter wird und den größeren Teil der Nordsee einschließt. Dieses Gebiet, durch das sich vor nur etwa 8000 Jahren der Rhein mit der Themse als Nebenfluß schlängelte, war dicht bewaldet und von Elchen und riesenhaften Hirschen bewohnt. Gegenwärtig ist es überschwemmt; wie lange kann niemand sagen. Dasselbe gilt für die Barents See mit ihrem sich windenden Netzwerk von Flußbetten auf ihrem Grunde und von allen anderen ähnlichen Gebieten rund um die Welt. Das sind die großen Fischgründe, die während der letzten Jahrzehnte durch die Entdeckung großer Ölfelder vor der kalifornischen Küste und auch an anderen Stellen an Wert gewannen.
Die wirkliche Tiefsee beginnt erst am Fuße der kontinentalen Schelfe. Die deutsche Meteor Expedition (1925/1927) entdeckte im Atlantischen Ozean mit Echolotungen die Mittelatlantische Schwelle, die größte Bergkette der Erde, die sich von der Arktis bis zur Antarktis erstreckt. Später erhielten wir noch Kenntnis von der sich gerade über das nördliche Polarbecken erstreckenden Lomonosov Schwelle, mit vulkanischen Eruptionen, die sicherlich nicht allzulange zurückliegen und unter dem Treibeis stattgefunden haben. Man sollte meinen, daß der Ozean zwischen Amerikas Westküste und seiner größten Flottenbasis auf Hawaii ziemlich gut bekannt gewesen wäre, aber erst vor ein paar Jahren wurde entdeckt, wie wild zerklüftet der felsige Boden in diesem Gebiet ist. Die Zeit ist vorüber, in der die Meere auf unseren Karten als glatte blaue Flächen eingezeichnet werden können. Sie sind zumindest genauso schwierig und mühselig zu zeichnen, wie die der Kontinente.
Je mehr wir über die Struktur der Meere erfahren, desto reichhaltiger und vielseitiger erweisen sie sich und desto schwerer sind sie zu erklären. Wie entstand zum Beispiel das ungeheure Tal, das zuerst quer über das kontinentale Schelf und weiter bis hinab in eine Tiefe von 3000 Meter eine Fortsetzung des Hudson Flusses bildet? Je mehr wir über dieses Tal und andere ihm ähnliche Täler, wie das bei Kalifornien, entdecken, desto mehr erkennen wir, daß sie dem berühmten Grand Canyon in Arizona ähnlich sind. Strömungen gibt es, wie gesagt, selbst in den größten Tiefen, aber es erscheint unlogisch anzunehmen, daß sie die gleichen Fähigkeiten haben sollten, um unterseeisch solche Stromrinnen auszugraben, wie der Colorado. Ebenso schwer fällt es anzunehmen, daß sie auf "normale Weise" über dem Wasser gebildet wurden, denn das würde, was wenigstens bisher außer Frage stand, in jüngster Zeit der Geschichte der Erde, Veränderungen auf der Oberfläche bedingen. Es hat keinen Zweck, unsere Unwissenheit über den Ursprung der Meere zu leugnen. Aber einer der Leiter des Internationalen Ozeanographischen Kongresses 1959 erklärte, es sei dringend notwendig größere Klarheit darüber zu bekommen, bevor unser Wissen über andere Planeten größer ist, als das über unseren eigenen.
Die letzten fünfzehn Jahre waren Zeugen sogar noch größerer Fortschritte über andere Aspekte der Beschaffenheit der Ozeane. Das gilt hauptsächlich für die Ablagerungen auf dem Meeresboden. Alles, was von der Landoberfläche weggeschwemmt wird, lagert sich früher oder später dort ab - und das ist keineswegs geringfügig. Der Missisippi allein trägt alle vierundzwanzig Stunden etwa eine Million Tonnen unorganisches vom Wasser fortgetragenes Material ins Meer - genug, um die Straße von Stockholm nach Malmö jede Woche einen Meter hoch zu bedecken. Dazu muß man noch alles aufgelöste chemische Material hinzufügen. Wieviel vom Wind in die See geweht wird und dort versinkt, ist nicht bekannt. Schließlich sinken alle lebenden Organismen auf den Boden, wenn sie sterben - unzählbare mikroskopische Pflanzen und Tiere, deren Kalk- und Schiefergerippe einen großen Teil davon bedecken. Der Meeresboden ist das gewaltige Vorratshaus der Erde, in dem der größere Teil der Elemente, wenn auch sehr verdünnt, vertreten ist. Das Gold in den Meeren auszuscheiden würde daher mehr kosten, als es wert ist. Das Meerwasser zu entsalzen, um den zunehmenden Bedarf an frischem Wasser auf dem Lande zu decken, ist ebenfalls unrentabel. Das soll nicht heißen, daß die Ozeane nicht eines Tages auch eine unschätzbare Quelle unorganischen Rohmaterials werden.
Das meiste von dem, was während der letzten Jahre von den Ablagerungen auf dem Meeresboden ans Licht gebracht wurde, hat zu unerwarteten und wichtigen Schlüssen geführt. Schon die bahnbrechende schwedische Albatros Expedition 1947-1948 fand (mit Hilfe einer sorgfältig ausgearbeiteten Echolotmethode), daß die Stärke der Ablagerung sehr verschieden ist, angefangen von über 1000 Metern im nordwestlichen Atlantik, bis nicht mehr als einige hundert Meter im Pazifik und im Indischen Ozean. Das ist schon beachtlich genug, aber noch bemerkenswerter ist die Schnelligkeit, mit der die Ablagerung erfolgt. An manchen Stellen beträgt sie nur einen Millimeter in 1000 Jahren! Die kürzlich veröffentlichten Berichte über die amerikanischen Forschungen im Nordatlantik enthalten ein Minimum an Geschwindigkeit von fünf Millimetern in 1000 Jahren, aber selbst das ist ein beredtes Zeugnis für die Stille und Unveränderlichkeit, die in der Tiefsee vorherrschen können. Dort hat die Zeit einen anderen Rhythmus, wird nach einem anderen Maßstab gemessen, als im Tageslicht. Gleichzeitig fanden die Amerikaner an anderen Stellen eine Quote für die Ablagerung von 2-3 Metern in 1000 Jahren (2 1/2 Millimeter im Jahr), was beweist, daß Strömungen und andere Bewegungen im Wasser vorhanden sind.
Der bereits erwähnte G. Houot und ein Freund von ihm, waren, als sie vor einigen Jahren in ihrem ersten Bathyskaph vor Toulon tauchten, Zeugen einer solchen Störung in der Tiefe. Sie landeten in einer Tiefe von 1500 Metern auf einer Klippe auf dem Meeresboden, und als sie versuchten, sich davon wieder zu erheben, rissen sie unglücklicherweise eine große Lehmbank los, die sofort das Wasser so verschmutzte, daß sie durch ihr Beobachtungsfenster nichts mehr sehen konnten. Durch den sich niedersenkenden Lehm wurden sie so herabgedrückt, daß sie den größten Teil ihres Ballastes abstoßen mußten, um sich zu retten. Sie hatten eine Lawine ausgelöst, was, wie wir annehmen, einer der wenigen aktiven Vorgänge ist, die in den Ozeanen stattfinden. Gewöhnlich geht die Ablagerung hinreichend ungestört vor sich, so daß die Reihen der Schichten wieder zusammengesetzt werden können, als Beweis für die natürlichen Umstände unter denen sie gebildet wurden. Die Meere enthalten Archive, in denen sie auf ihre eigene Weise Daten über Millionen von Jahren sammelten.
Aber diese Daten mußten zugänglich gemacht werden, es mußten Proben davon aus den Tiefen geholt werden. Dieses Problem wurde 1945 von Professor B. Kullenberg in Göteborg mit einem Bohrer ausgezeichnet gelöst. Dieser wurde von der Albatros Expedition das erste Mal verwendet und bewies seinen Wert dadurch, daß er aus 7500 Meter Tiefe einen 14 Meter langen Bohrkern emporbrachte. Die Dokumente vom Boden des Meeres konnten jetzt auf den Tisch gelegt werden. Ihre Auswertung ist durch die geologische und biologische Analyse der Zusammensetzung und der Struktur der Schichten weit fortgeschritten. Die wohlbekannte carbon-14 und andere radioaktive Methoden waren dabei natürlich von großer Hilfe. Wie weit wir fortgeschritten sind wird durch die Resultate der oben erwähnten amerikanischen Untersuchungen im Atlantik mit nicht weniger als 221 Bohrungen erläutert (Bohrungen in der Ablagerung in der atlantischen Tiefsee, Geologische Gesellschaft von Amerika, 1961).
Diese Ablagerung enthält sechs verschiedene biologische Schichten aus der jüngsten Phase der Erde, von der Eiszeit bis jetzt. Ihr Gehalt an mikroskopischen Planktonorganismen deutet an, ob diese Schichten während kälterer oder wärmerer Phasen im Ozean gebildet wurden. Auf diese Weise fand man, daß das Eiszeitalter vor etwa 10000 Jahren endete und von einer milderen Zwischenzeit von 30000-40000 Jahren abgesehen, über 100000 Jahre dauerte. Das hat unsere Berechnungen um etwa 120 000 Jahre in die sehr lange Periode zurückgedrängt, die der letzten Eiszeit vorherging. Diese Forschungen bringen uns nicht weiter zurück als 240 000 Jahre, aber je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto weiter weichen die Resultate von den früher gehegten Überzeugungen ab. Der plausible angenommene Zusammenhang zwischen eiszeitlichen klimatischen Veränderungen und Änderungen im Kreislauf der Erde, mit dem viele zufrieden waren, wurde über den Haufen geworfen, eine der am meisten Geltung besitzende Theorie über die Ursachen des großen Eiszeitalters hat ihre festeste Stütze verloren.
Die 41 in den tiefen Teilen des Atlantik vorgenommenen Bohrungen brachten die Amerikaner in der Geschichte der Erde viel weiter zurück als bis zur Eiszeit. Sie führten zu den bemerkenswertesten Schlüssen unserer allgemeinen Kenntnis über die Ozeane und Kontinente: daß der Atlantik und der Pazifik, und ohne Zweifel auch die anderen Ozeane, vor 125 bis 200 Millionen Jahren eine vollständige Umgestaltung zu ihrer jetzigen Grundform erfahren haben müssen. Wenn sich das im ganzen oder selbst nur zum Teil als richtig erweisen würde, könnte eine der wichtigsten Phasen in der Entwicklung der Meere und der Kontinente festgestellt werden. Es muß noch abgewartet werden, was die Geologen zu dieser Schätzung der Zeit zu sagen haben. Auf jeden Fall ist es unzweifelhaft wahr, daß die erwähnte Art der Tiefseeforschung für das Verstehen der früheren Geschichte der Erde von größter Bedeutung ist. Was bis jetzt gewonnen wurde, flößt Zuversicht auf noch zu erwartende größere Resultate ein. Besser entwickelte technische Verfahren gehen Hand in Hand mit größerer Genauigkeit der Analysen und wachsender Einsicht in die Vorgänge und Lebensbedingungen, die das Material erzeugen, das sich schließlich auf dem Boden der Meere ablagert. Houots Bathyskaph wird auf seine Weise sehr zur Untersuchung der dort angesammelten reichen Archive und zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung beitragen.