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Gespräche am runden Tisch: Über die Natur des Christus

Vorsitzender: Im Verlauf des Jahres sind mehrere Briefe eingegangen, die sich mit verschiedenen Aspekten der christlichen Lehre befassen. Da heute Abend ein Gast bei uns weilt, der sagt, daß er die Kirche regelmäßig besucht und gerne Fragen stellen möchte, hielt ich es für wertvoll, einige der Punkte aufzugreifen, die vorgebracht wurden. Sie könnten als eine Art Sprungbrett für unsere Diskussion dienen, doch jedem steht es natürlich frei, andere Dinge aufzuwerfen, denn der Zweck unseres Hierseins ist, wie Sie wissen, ein ganz offener Austausch unserer Anschauungen. Und bestimmt ist keiner unter uns, der das "letzte Wort" hat!

Wenn niemand ein besonderes Thema bevorzugt, so schlage ich vor, daß ich damit beginne ein paar Stellen aus einem ziemlich langen Brief, den ich von einem jungen Mann aus Holland erhielt, vorzulesen. Ich lernte ihn vor etwa fünf Jahren kennen, als er gerade zum Militär einrücken mußte, hörte aber seitdem nichts mehr von ihm. Er steht jetzt im Berufsleben und hat anscheinend noch Interesse am Sunrise, obwohl er sagt, "manchmal stimme ich mit den Verfassern nicht überein." Er bezieht sich dabei auf einen Artikel über "Der innewohnende Christus", der vor einiger Zeit in der Zeitschrift erschien und sagt:

Mit aller gebührender Achtung dem Autor gegenüber stimme ich doch nicht mit ihm überein. Zugegeben, der immanente Christus existiert, denn er ist der einzige wirkliche Christus, der einzige, der den Menschen zu seinem höchsten Ziel emporführen kann. Doch abgesehen davon gibt es noch einen anderen Christus, den transzendenten Christus: der Fleisch gewordene Sohn Gottes, der einzige Erlöser, an den Millionen Menschen auf der ganzen Erde glauben. Was gibt uns das Recht auf diesen herabzusehen? Liegt irgendwo ein Wert, auf Grund dessen Sie oder ich eine andere - und ich sage nicht einmal eine bessere Einsicht haben?

Vor einigen Jahren stimmte ich der prinzipiellen Erklärung, daß man die Religion anderer achten müsse zu, und ich bemühe mich immer noch, das zu tun. Achten ist jedoch etwas anderes als schätzen. Achten bedeutet für mich, daß ich nicht auf eines anderen Menschen Glauben verächtlich herabsehe. Ich glaube, daß jeder Mensch auf seine Weise versucht, sich ein Bild von der Wahrheit zu machen. Wir können, denke ich, glücklich sein, daß es so viele gibt, die nach dieser Erkenntnis suchen.

Jeder, der sich die Mühe nimmt, sich umzuschauen, wird entdecken, daß ein Zug der Erneuerung an Triebkraft gewinnt, ein Zug, der sich in der Hauptsache spirituell auswirkt. Die Leute glauben glücklicherweise nicht mehr alles wörtlich, was in der Bibel steht und was ihnen diese befiehlt, daß sie tun sollen. Ich kann zum Beispiel mit einem Kalvinisten sehr konstruktive Gespräche über die Symbolik der Evangelien führen. Er glaubt an einen persönlichen Gott, ich nicht. Aber wir verstehen uns recht gut, ohne daß einer des anderen Gesichtspunkte anzunehmen braucht.

Manchmal kommt es mir vor, als würde ich mit Problemen ringen, die schon vor vielen Jahrhunderten gelöst wurden. Das ist jedoch meine Art besseres Verständnis zu gewinnen. Sakkara, der große indische Reformator, teilte die Erkenntnis in eine 'höhere' und eine 'niedere' Erkenntnis: para-vidyâ und apara-vidyâ. Aber nun die Überraschung: beide führen zu Sat - zur Wahrheit! Ich denke also, daß es immer Menschen geben wird, die an das Transzendente glauben, und warum auch nicht? Führt deren Erkenntnis nicht ebenfalls zu Sat? Ich kann mir vorstellen, daß es viele geben könnte, denen ein strenges, unpersönliches an die Wahrheit Herantreten nicht zusagt und die das für kalt, einzelgängerisch und egozentrisch halten - was es tatsächlich auch ist, denn es nimmt ihnen das Recht, zu einem himmlischen, allwissenden, guten Vater aufzublicken, indem sie seine Existenz leugnen.

Das ist eine sehr tiefsinnige Mitteilung, und ich wünschte nur, wir hätten Zeit, den ganzen Brief zu lesen. Zu den Ausführungen wäre viel, tatsächlich sehr viel zu sagen, besonders zu dem ernsten Wunsch, die religiösen Anschauungen anderer zu achten. Er hat Recht, daß jeder einzelne auf seine eigene Weise sucht, "sich ein Bild von der Wahrheit zu machen." Wir können tatsächlich sagen, daß alle Wege zur Wahrheit führen. Sagt nicht Krishna in der Bhagavad-Gîtâ dasselbe? "Was auch der von der Menschheit gewählte Pfad sei, dieser Pfad ist der meine." Und er schärft uns ein, niemals eines anderen Menschen Glauben zu erschüttern, denn ganz gleich, "welche Götter ein Mensch anbeten mag, letzten Endes wird er zu MIR kommen" - zum Höchsten.

Andererseits gibt es hier einen Punkt der Unterscheidung, den wir nicht übersehen dürfen. Wenn wir auch zugeben, daß es richtig und unbedingt notwendig ist, das jedermann von Natur zustehende Recht zu achten, dem von ihm gewählten Glauben zu folgen, schließt das doch nicht eine freimütige und klare Prüfung der Grundlehren irgendeines Glaubens aus. Wenn wir irgend etwas, das wir hören oder lesen mögen beurteilen, müssen wir uns vorher vergewissern, daß wir die Meinung des Sprechers oder des Autors verstehen. Versucht er die Quellen wahrer Religion zu untergraben - sei es der christlichen, buddhistischen, taoistischen oder irgend einer anderen? Oder greift er nur die dogmatischen Auslegungen an, welche, wir wollen es offen sagen, darauf abzielen jede einzelne der Weltreligionen mit einer Kruste zu überziehen. Im letzteren Falle hämmert er nur die Schale los und leistet damit durch Freilegen des durch buchstäbliche Auslegung verborgenen Kernes der Wahrheit einen guten Dienst. Das ist eine höchst wichtige Unterscheidung, etwas, das unser holländischer Freund in seiner Besorgnis, das Recht anderer, zu glauben, was sie wollen, zu verteidigen, übersehen zu haben scheint. Das unterscheidet sich nicht von dem Prinzip, das wir in unserem gesamten Umgang mit unseren Mitmenschen befolgen: wir protestieren gegen das Übeltun, verdammen aber hoffentlich nicht den Übeltäter. Er entwickelt sich wie wir und ist wie wir bemüht, aus seinen Irrtümern zu lernen.

Nun wollen wir uns mit dem Hauptpunkt des Briefes befassen, der die Natur des Christus betrifft: Ist er nur immanent, oder steckt nicht auch etwas Wahrheit hinter dem allgemein angenommenen christlichen Glauben an einen transzendenten Christus? Hat jemand etwas dazu zu sagen?

 

Fred: Ich verstehe nicht, was der Schreiber des Briefes meint, wenn er sagt, daß der innewohnende Christus, mit welchem er, wie ich vermute, die Christus-Essenz meint, von der man annimmt, daß sie in uns allen ist, "der einzige wirkliche Christus ist, der einzige, der den Menschen zu seinem höchsten Ziel emporführen kann." Ich war immer überzeugt, daß die Ankunft Christi ein großer Segen für die Menschheit war und er auf irgendeine ungewöhnliche Weise der Sohn Gottes war.

Paul: "Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab..." - das könnte den christlichen Begriff von Christus als den Sohn Gottes bestätigen, der in einer kritischen Zeit in der menschlichen Geschichte auf die Erde kam, um eine Botschaft des Friedens und des guten Willens zu bringen.

Ray: Daß Jesus an einem wichtigen Knotenpunkt in der Entwicklung der menschlichen Zivilisation kam, scheint unverkennbar zu sein. Sicherlich hat er dem spirituellen Bewußtsein der römischen und griechischen, wie auch der hebräischen Kultur einen gewaltigen Stoß versetzt, dessen Wirkungen seitdem in der ganzen Welt verspürt wurden. Ich glaube, daß seine Betonung der Liebe und der Selbstaufopferung, etwas für die Welt ziemlich Neues, den stärksten Eindruck gemacht hat.

Frank: Ist es gerecht, anzunehmen, daß die Welt die Lehren der Selbstaufopferung und der Liebe nicht in der überzeugenden Form besaß, wie Jesus sie durch sein Beispiel erläuterte? Wie verhält es sich in dieser Hinsicht mit Gautama Buddha, der etwa fünf- oder sechshundert Jahre vor der christlichen Ära lebte und dessen Verzicht auf Nirvâna - das Glück der Allwissenheit und der Freiheit von aller irdischen Trübsal - für Millionen Buddhisten in ganz Asien bis heute ein Symbol des Mitleids ist?

Vorsitzender: Wir können nicht sagen, daß das Ideal der Barmherzigkeit und der durch Mitleid besänftigten Gerechtigkeit ausschließlich christlich ist, wenn auch Jesus der Würde der Selbstverleugnung und Selbstaufopferung nicht nur in jener unvergleichlichen Bergpredigt, sondern in seinem Leben selbst einen neuen Ansporn gab. Wir dürfen nicht vergessen, daß zu der Zeit, als er kam, der alte mosaische Begriff "Auge um Auge, Zahn um Zahn" in vielen Sekten, die keine Inspiration zum Rechttun aus Liebe dazu boten, wörtlich ausgelegt wurde. Wenn wir dem Evangelium Johannes zugestehen, daß es, wenn auch nicht die wirkliche Lehre Jesu, so doch die Essenz vermittelt, dann können wir verstehen, warum die Christen spüren, daß die Botschaft Christi eine voller Hoffnung, Schönheit und Opferbereitschaft ist.

Wie der Vater mich geliebt hat, so habe ich euch geliebt: fahret ihr fort in meiner Liebe...

Dies ist mein Gebot, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe.

Größere Liebe hat kein Mensch als diese, daß ein Mensch sein Leben lasse für seine Freunde.

 

Wilbur: Ich möchte gerne den von Paul erwähnten Gedanken aufgreifen, daß Gott die Welt so liebte, daß er seinen Sohn sandte, um die Menschheit zu erlösen. Darüber möchte ich mich, wenn es möglich ist, gerne unterhalten, denn meines Erachtens wird damit etwas über Christus in seiner transzendenten Rolle gesagt. Andererseits stimme ich damit überein, daß niemand anders uns erlösen kann, als wir selbst. Das Problem ist, wie wir den Christus in uns, der unser individueller Befreier ist, zu dem Erscheinen des "Sohnes Gottes" oder des transzendenten Christus als den Erlöser in Beziehung bringen.

Vorsitzender: Gut ausgedrückt, Wilbur… Ganz in Ordnung. Gretchen, fahren Sie fort.

 

Gretchen: Danke. Gerade hierzu möchte ich gern etwas sagen. Wie ich Ihnen schon früher erzählte, bin ich ein eifriger Kirchgänger, vielleicht weil ich in einer streng christlichen Atmosphäre aufgewachsen bin, und wenn ich auch vieles bezweifle, was die Pfarrer sagen, so werde ich meinem Gefühl nach doch immer Jesus als von Gott auserwählt halten. Jedoch durch die heute Abend bisher zum Ausdruck gebrachten Anschauungen bin ich irritiert worden. Sie erinnerten mich an meinen Großvater, der aus der "Alten Welt" kam, und durch die während der Jahre, in denen er die Universität besuchte, in Europa stattgefundenen Kontroversen, ob Jesus ein Mensch oder ein Gott sei, stark beeinflußt worden war. Er ging nicht in die Kirche, wußte aber viele Stellen aus dem Neuen Testament auswendig. Aber immer gab er sich Mühe, uns Enkeln eine innige Verehrung für Jesus einzuprägen. Er wollte, daß wir ihn lieben, und dabei pflegte er zu sagen, daß wir ihn nicht als den "eingeborenen Sohn Gottes" lieben sollen, sondern als einen Menschen, einen inspirierten Menschen, der eine Mission zu erfüllen hatte und sie in edler Weise erfüllte.

Janet: Und dabei sein Leben hingab.

Marie: Glauben Sie, daß er wirklich gekreuzigt wurde, daß sich sein Tod am Kreuze tatsächlich ereignet?

Tom: Ich habe die Kreuzigungsgeschichte immer als symbolisch betrachtet, als eine anschauliche Art die spirituelle 'Kreuzigung' oder das Leid zu beschreiben, das der Christusteil des Menschen am 'Kreuz' seiner materiellen Wünsche erduldet.

Janet: Aber hängt nicht die ganze christliche Lehre davon ab, daß die Kreuzigung ein tatsächliches physisches Ereignis war? Mir scheint die Schönheit und die Stärke des Opfers von Jesus bestand darin, daß er sein Leben aufgab, damit alle zukünftigen Generationen, wenn sie wollen, die Mittel zur Erlösung finden konnten.

Gretchen: Durch teilhaben am Leib und Blut Christi - das ist die Ansicht vieler, aber andere betrachten das Abendmahl als ein Symbol für die spirituelle Übertragung der Gnade von Christus auf den Menschen. So drückte es wenigstens kürzlich mein Pfarrer aus. Um ehrlich zu sein, ich weiß selbst nicht genau, wie ich zu der Kreuzigung und zu anderen Punkten der Lehre stehe, die ich, wenn ich ein streng orthodoxer Gläubiger wäre, annehmen müßte.

Vorsitzender: Das ist wunderbar. Das einzige, was ich bedaure ist, daß unser Korrespondent aus Holland nicht hier ist und an der Diskussion teilnimmt. Er würde sich sicherlich freuen, und wir hätten auch Nutzen aus seinen Anschauungen gezogen. Wir haben uns hier mit einer Menge wertvoller Ideen beschäftigt, aber ich habe bis jetzt nicht das Gefühl, daß wir ein genügend umfassendes Bild entwickelt haben.

 

Gretchen: Würden Sie vielleicht über folgenden Punkt sprechen: Glauben Sie, daß Jesus in irgendeiner unterschiedlichen Weise uns gegenüber von göttlicher Geburt war? Wurde er göttlich empfangen?

Dan: Ich gestehe, ich komme ganz durcheinander. Es fällt mir schwer, in meinem Gemüt auseinander zu halten, welche Ereignisse in der Geschichte Christi wir als historisch und welche wir als symbolisch annehmen sollten. Da haben wir zum Beispiel die Kreuzigung - war diese eine Tatsache oder ist sie symbolisch? Wir haben die Erklärung, daß Jesus der Sohn Gottes ist - ich glaube sie heißt "das Wort ward Fleisch." Wie können wir das auslegen? Und nun fragt Gretchen, "Wurde Jesus göttlich empfangen?" Ich nehme natürlich an, daß sehr wenige ernste Schüler an der Idee der "unbefleckten Empfängnis" irgendwelchen Anstoß nehmen; doch die Tatsache, daß die Frage auftaucht, muß bedeuten, daß in den Gemütern der Menschen einiger Zweifel besteht. Wie ich es sehe, sieht es folgendermaßen aus: wenn Jesus ein Mensch war, konnte er, selbst wenn "göttlich inspiriert", nicht göttlich empfangen worden sein. Wenn er nicht göttlich empfangen wurde, dann war er nicht der Sohn Gottes, und wenn er nicht der Sohn Gottes war, wie konnte er dann der transzendente Christus und der Erlöser der Menschheit sein? Das ist in keiner Weise unfreundlich gemeint, aber ich denke, wenn wir diese Ideen irgendwie richtig auslegen können, müssen wir sehen, wo sie ineinander passen und wo wenigstens ein Teil von ihnen verworfen werden sollte.

Vorsitzender: Wir wollen in unserem Eifer zu analysieren vorsichtig sein, Dan, daß wir nicht mit theologischem starren Festhalten am Buchstaben die Göttlichkeit des Christus oder dabei auch von uns selbst mit ausschütten. Das sind zur Sache gehörende Fragen und beziehen sich direkt auf den Brief aus Holland. Wir wollen Gretchens Frage aufnehmen: Glaube ich, daß Jesus in irgendeiner unterschiedlichen Weise uns gegenüber von göttlicher Geburt war; wurde er göttlich empfangen?

Ich denke, der Knabe Jesus wurde geboren, wie alle Menschenkinder geboren werden, in der üblichen Art von natürlichen Eltern geboren werden. Ich glaube aber auch, daß Jesus "göttlich empfangen" wurde - vorausgesetzt, wir meinen damit, daß er wie wir alle ein Sohn Gottes ist, weil er derselben universalen Göttlichen Intelligenz entsprungen ist, die uns alle gebar. Drittens glaube ich auch, daß Jesus ein Erlöser war, einer der göttlich auserwählt war der Welt wieder einmal durch sein Beispiel ihr altes Erbe "rechten Denkens und rechten Handelns" zu erläutern, und daß er einen Zyklus der Schulung und Erziehung durchmachen mußte, um sich für sein Werk unter den Menschen vorzubereiten.

 

Fred: Könnten Sie das, was Sie eben über Christus in seinem immanenten Aspekt sagten, in der Bibel nachweisen?

Vorsitzender: Am besten können wir das vielleicht, indem wir eine oder zwei Stellen aus dem Johannes-Evangelium hernehmen. Erinnern Sie sich, was Jesus erwiderte, als er gefragt wurde, wer er sei? "Ich und mein Vater sind eins." Als sie ihn dann wegen "Gotteslästerung, weil du, der du ein Mensch bist, dich selbst zu einem Gott machst," steinigten, wendete er gelassen die Tafeln gegen sie, indem er sie fragte: "Steht in eurem Gesetz nicht geschrieben, 'ich sagte, ihr seid Götter'?" Mit einfachen Worten, Jesus erklärt, daß alle Menschen göttlich "empfangen" sind, mit der Möglichkeit, im Laufe der Zeit ihren eigenen immanenten Christus zum Ausdruck zu bringen.

Nun wollen wir uns den Anfangsversen desselben Evangeliums zuwenden: "Im Anfang war das Wort (der Logos), und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. ... Alle Dinge sind durch ihn gemacht und ohne ihn ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben; und das Leben war das Licht der Menschen. ... das wahre Licht, das jedem Menschen leuchtet, der in die Welt kommt." Was könnte die Tatsache klarer bestätigen als dies, daß alle Menschen "Söhne Gottes" sind, göttlich empfangene "Funken der Ewigkeit", die, wie eine Stanze es beschreibt, eine Pilgerschaft in den und durch die Hierarchien der Natur machen, damit wir mit der Zeit alle Runden der materiellen Existenz in diesem Sonnensystem durchlaufen haben und selbstbewußt eins mit unserem Göttlichen Teil geworden sind, dem Vater im Inneren.

 

Gretchen: Am Tage des Jüngsten Gerichtes? Das ist ein ziemlich ausgedehnter Begriff. Darüber muß ich mehr nachdenken. Aber vorerst möchte ich genau wissen, in welchem Sinne sprachen Sie von Jesus als "einer, der göttlich auserwählt war?"

Vorsitzender: Das ist Christus in seiner transzendenten Eigenschaft, die in den schon vorher erwähnten Versen kurz dargestellt wurde: "Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, ... daß die Welt durch ihn erlöst werden könnte." Daraus ersehen Sie, wie durch Jesus' eigene Worte auf die immanente und transzendente Rolle hingewiesen wird. Auf Grund jahrelangen Nachdenkens und Forschens in den religiösen und philosophischen Überlieferungen vieler Völker wie auch unseres eigenen christlichen Glaubens, ist es meine Überzeugung, daß die erleuchtete Seele, die wir Jesus nennen, durch eine lange vor seiner vor etwa zwanzig Jahrhunderten erfolgten physischen Geburt gewonnene Erfahrung die Gelegenheit errang, das Vehikel für die göttliche Offenbarung zu werden, die der Welt die edle Botschaft brachte, die später als das Christentum bekannt wurde. In diesem Sinne meine ich, war Jesus als transzendenter Christus einer aus jener heiligen Reihe von Erlösern, Wohltätern der Rasse, Befreiern und Lichtbringern, die Zeitalter um Zeitalter zu dem erhabenen Zweck inkarnieren, um in den Herzen der Menschen die glimmenden Feuer der Spiritualität wieder zu entfachen.

 

Gretchen: Wollten Sie sagen, daß Jesus und diese anderen Meister vorher schon existierten, - daß dieselbe Seele mehr als einmal geboren wurde?

Vorsitzender: Wenn Sie damit fragen, ob jene erhabenen Charaktere nach vielen, vielen Wiedergeburten auf Erden "Erleuchtete" geworden sind, dann würde ich allgemein gesprochen ja sagen, denn das ist die Methode der Natur die Seele zu vervollkommnen. Wachstum geht langsam vor sich, und indem dem Menschen gewährt wird die Frucht seines früheren Säens in einer Reihe von Leben zu ernten, wird die materielle Natur nach und nach unter Kontrolle gebracht, so daß letzten Endes das Ziel der Selbsterleuchtung erreicht wird, und wir haben die "mystische Vereinigung" oder das Einssein der Seele mit ihrem inneren Gott.

Jedoch von Jesus und auch von Krishna in Indien wird uns gesagt, daß sie zu einer etwas außergewöhnlichen Klasse gehören, da sie beide als "göttlich auserwählt" betrachtet werden, - im Falle Jesu als "von Gott gesandt" und im Falle von Krishna als "eine avatârische Manifestation Vishnus". Wie die Terminologie auch immer sei, es handelt sich um dasselbe mystische Ereignis: die "Inkarnation" eines göttlichen Einflusses; der Logos oder das Wort "ward Fleisch" in einem menschlichen Wesen.

 

Jack: Wie steht es mit Mohammed und Buddha: sind diese Avatâras, oder würden Sie dieselben reguläre Reinkarnationen nennen?

Vorsitzender: Im Grunde stellen Gautama Buddha, Mohammed, Konfuzius und die meisten der anderen spirituellen Lehrer, jeder einzelne, natürlich unterschiedlich in der Abstufung vom Ganzen aus gesehen, die Blüte der Weisheit dar, die in der Seele während vieler früherer Existenzen auf Erden aufgespeichert wurde. Aber wir wollen uns vergewissern, ob wir wissen, was wir mit dem Wort Reinkarnation meinen. Wir beziehen uns damit auf das dauernde Element der menschlichen Konstitution, nicht auf die Persönlichkeit. Denn es ist das höhere reinkarnierende Ego, die unsterbliche Essenz in uns, die für ihre Zwecke des Wachstums und der Erfahrung eine Reihe Persönlichkeiten und physischer Vehikel benützt, - natürlich menschliche, nicht tierische - um die im Innern liegenden göttlichen Möglichkeiten herauszubringen.

 

Hazel: Mir fällt ein, daß einige mit der Avatâra-Lehre besonders in Verbindung mit dem Christus, nicht sehr vertraut sein könnten. Während ich hier zuhörte, wurde ich an den Abend vor etwa einem Jahr erinnert, an dem wir mit Bezugnahme auf Jesus über diesen Gegenstand sprachen. Wir waren zu der ziemlich bekannten Stelle in der Gîtâ gekommen, wo Krishna dem Arjuna von seinen früheren Geburten erzählt und dann erklärt, daß er periodisch "von Zeitalter zu Zeitalter inkarniert", um der Erleuchtung des Menschen willen.

Vorsitzender: Vielen Dank, Hazel. Ich glaube, einige Aufzeichnungen darüber wurden veröffentlicht, und wer sich dafür interessiert, kann sie später einsehen.1 Kurz also, das Wort Avatâra ist Sanskrit und bedeutet "göttlicher Abstieg". In den Purânas und anderen philosophischen Schriften der Hindus wird es ziemlich allgemein für die verschiedenen "Inkarnationen" oder Manifestationen Vishnus benutzt. In der Gîtâ bezieht es sich, wie Hazel sagt, besonders auf die periodische "Inkarnation" oder Manifestation von Krishna (oder von Gott, wenn Sie wollen) in seiner transzendenten Eigenschaft, wie dieser Satz verrät: "Ich errichtete dieses ganze Universum mit einem einzigen Teil von mir, ohne meine selbständige Existenz dadurch aufzugeben."

 

Jack: Ich glaube, ich verstehe, was mit einem Avatâra gemeint ist, eine vorübergehende Verbindung von Elementen zu einem besonderen Zweck; aber es ist mir nicht klar, wie sich die Lehre der Reinkarnation auf Jesus anwenden läßt. Hatte er irgendwelche frühere Existenzen?

Vorsitzender: Als ein Avatâra nein, als eine erleuchtete menschliche Seele ja.

 

Janet: Lassen Sie es bitte nicht nur dabei bewenden, - könnten Sie nicht alles, worüber wir gesprochen haben, ich meine über Avatâras und wie Jesus in das Bild paßt, zusammenfassen? Meinem Gefühl nach widerspricht die Idee von Christus als einem Avatâra nicht dem, was ich immer glaubte, doch die Terminologie ist neu, und ich finde sie ziemlich verwirrend. Was mir helfen würde, wäre eine einfache Erklärung, was ein Avatâra ist.

Vorsitzender: Ich wollte nicht zu weit gehen und zu technisch werden, aber ich will sehen, ob ich die Sache auf folgende Weise klären kann: Der Avatâra ist eine besondere Art "Inkarnation" oder göttlicher Manifestation, die manchmal als eine messianische Verkörperung bezeichnet wird. Im Falle Jesu kommen drei verschiedene Elemente in Betracht: 1) der physische Körper, der, wie die Geschichte erzählt, von Maria und Joseph in derselben Weise gezeugt und geboren wurde, wie alle Kinder geboren werden; 2) die menschliche Seele, die im Verlauf vieler Leben, in denen sie sich der Wahrheit und als Ziel dem Altruismus weihte, erzogen, gereinigt und selbsterleuchtet wurde, so daß sie der Kelch oder Behälter von 3) einer "von Gott gesandten" göttlichen Macht wurde.

Wenn wir an Jesus als an eine menschliche Seele denken, können wir sagen, daß er das Endresultat oder die Frucht vieler, vieler Erfahrungen auf Erden ist. Aber in seiner transzendenten Rolle als ein Avatâra oder ein göttlich ausgewähltes Vehikel betrachtet, das einzig für die augenblickliche Notwendigkeit gebildet wurde, würden wir ihn als den 'eingeborenen' Sohn Gottes betrachten, der als solcher weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft hat. Wird der Schlüssel dazu nicht im Matthäus, XVI in der Unterredung zwischen Jesus und seinen Jüngern gegeben?

Wer sagen die Leute, daß der Menschen Sohn sei?

Sie sprachen: Etliche sagen, du seiest Johannes der Täufer; die anderen, du seiest Elias; etliche, du seiest Jeremias oder der Propheten einer.

Er sprach zu ihnen: Wer sagt denn ihr, daß ich sei?

Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!

 

Dan: Das ist sehr gut. Der erste Teil bezieht sich vermutlich auf Jesus als Menschensohn, als eine Reinkarnation des Elias oder einem der Propheten, oder von irgendeinem Menschen, der zu einer früheren Zeit lebte, während Petrus in seiner Antwort vom transzendenten Aspekt als ein Christus oder Avatâra spricht. Ich hatte den Unterschied nie begriffen.

Janet: Jetzt ist alles sehr viel klarer, und ich bin sehr froh darüber. Soweit ich es verstehen kann war Jesus in seiner Rolle als Erlöser der als ein Werkzeug für unsere Erlösung gesandte Sohn Gottes. Ich sehe hier keinen wirklichen Unterschied vom christlichen Glauben, und ich wundere mich, warum, wie der Brief aus Holland erwähnt, auf Seiten jener, die nicht an den christlichen Begriff der Transzendenz glauben, so viel Kritik bestand und noch besteht.

Vorsitzender: Ich glaube, die Schwierigkeit entstand aus der Tatsache, daß die reine Botschaft von Jesus, die Jahrhunderte hindurch aus einer Anzahl Ursachen so buchstäblich ausgelegt wurde, daß der immanente Aspekt - daß in jedem von uns ein Funke der Gottheit wohnt mit derselben Möglichkeit eines Tages wie Jesus ein "Sohn Gottes" zu werden - durch die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer vollkommen verdunkelt wurde, die die Bedeutung erlangte, daß sich der Mensch nicht durch eigene Macht selbst erlösen kann, sondern auf göttliche Vermittlung bauen muß. Das ist natürlich eine vollkommen falsche Auffassung der dem Sühneopfer zugrunde liegenden ursprünglichen Wahrheit.

 

Dan: Mir hat der Gedanke nie gefallen, daß Jesus meine Fehler auf sich nehmen soll. Er steht nicht nur jedem Gefühl der Selbstachtung entgegen, sondern kann von mir auch nicht eingesehen werden, daß er vernünftig ist. Wenn angenommen wird, daß wir im Verlauf der Zeit wie Christus werden, wie können wir da spirituell und auch in anderer Hinsicht reif werden, wenn jemand anders unsere Bürde trägt?

George: Ich glaube nicht, daß der ursprüngliche Begriff vom stellvertretenden Sühneopfer - daß Jesus seine Göttlichkeit opferte, um des Menschen wegen das Kreuz irdischer Erfahrung auf sich zu nehmen - so verzerrt worden wäre, wenn auf dem zweiten Konzil in Konstantinopel im sechsten Jahrhundert nicht die Lehre der Reinkarnation und verschiedene andere wichtige Lehren des Origenes aus dem Kanon der Kirche gestrichen worden wären.

Tom: Das ist eines der Beispiele, wie eine Wahrheit in ein Dogma umgewandelt wurde. Was ein erhebender Einfluß sein sollte, ist zu einem schwächenden geworden, weil die individuelle Verantwortlichkeit auf die Schultern von Jesus übertragen wurde, statt sie dort zu lassen, wo sie hingehört - in den Bereich jedes einzelnen Menschen.

George: Wenn ich zu dem, was Dan sagte, einige Bemerkungen machen darf: Ich denke, wenn wir die Evangelien lesen, müssen wir im Gedächtnis behalten, daß es sehr wenig historischen Beweis dafür gibt, daß die Jesus zugeschriebenen Worte tatsächlich von ihm gesprochen wurden; oder daß selbst die Ereignisse wie die Kreuzigung und die Auferstehung, und so weiter, je stattfanden. Ich sage das nicht, um irgend jemandens Glauben zu untergraben, sondern vielmehr, um diese Dinge perspektivisch zu zeigen. Es gibt eine Anzahl westlicher Denker, die die Berichte der Evangelien und besonders das vierte Evangelium immer mehr als einen Versuch betrachten, die von der menschlichen Seele vor dem Erreichen der "Vereinigung" oder des "Einsseins" mit dem inneren Gott oder Christus durchzumachenden Einweihungsprüfungen in der Form der Parabel zu bewahren.

Janet: Glauben Sie dann wirklich, daß Jesus nicht gekreuzigt wurde? Ich weiß, das ist ein schrecklicher Tod, aber da er, wie ich dachte, damals wirklich gebräuchlich war, fühlte ich mich nie recht schockiert. Für mich enthält die Kreuzigungserfahrung etwas Schönes - die furchtbare Verlassenheit, die Jesus in seiner Menschlichkeit fühlte und dann sein Sicherheben zu jenem herrlichen Augenblick der höchsten Steigerung, wo Sie empfinden, daß der Christus in ihm die Herrschaft übernommen hat: "Vater wenn du willst, so nehme diesen Kelch von mir: doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe." Wenn Sie das von der christlichen Religion wegnehmen, was bleibt dann übrig?

Vorsitzender: Es handelt sich hier nicht darum, etwas hinweg zu nehmen, sondern vielmehr unseren Gesichtskreis genügend zu erweitern, damit wir erkennen, daß der wichtige Faktor nicht der ist, ob Jesus gekreuzigt wurde oder auf irgendeine andere Weise starb, sondern daß sein Kommen überhaupt ein lebendiges Symbol des mitleidsvollen Herzen des Höchsten darstellt. Den Christus auf den inneren Erlöser, auf den Christos in der Brust eines jeden Menschen zu beschränken, heißt nur die halbe Geschichte erzählen - wie bedeutsam und wirksam diese auch hinsichtlich des Versprechens unseres schließlichen 'Einsseins' mit Gott sein mag. Sich andererseits Christus nur transzendent vorzustellen ist ebenfalls zu begrenzt. Wie können wir dann diese anscheinend ungleichartigen Gesichtspunkte miteinander in Einklang bringen, außer durch eine Ausweitung unseres Verständnisses, so daß wir sie als sich gegenseitig ergänzend und deshalb als wesentliche Teile eines vollständigen Bildes erkennen.

Wir müssen jetzt schließen, und ich bedaure das wirklich, denn ich hoffte, einen sehr interessanten Brief eines englischen Abonnenten vorzulegen, aber wir werden das für eine andere Gelegenheit zurückstellen müssen. Ich glaube, wir können mit unserem holländischen Freund übereinstimmen, daß wir mit Problemen gerungen haben, die ohne Zweifel schon vor vielen Jahrhunderten gelöst wurden. Aber jede Generation muß die Lösung von neuem finden, sonst sagt sie den Menschen nichts. Wenn wir die heiligen Bücher der Welt studieren finden wir, daß tatsächlich alle alten Völker ihre Erlöser oder Heilande, ihre Lehrer der Gerechtigkeit, ihre Avatâras hatten - jeder erschien zu seiner festgelegten Zeit einer besonderen Rasse, um "die in Ketten liegenden Geister zu befreien." Welche Schande, daß wir die Botschaft Christi in dem Sinne mißverstanden haben sollten, daß er der eine und alleinige Messias gewesen sei, den die Welt je kannte, und daß die Millionen Menschen vor ihm fast jeder spirituellen Führung beraubt waren.

In jedem Dogma steckt ein Kern Wahrheit. Aus diesem Grunde suchen die erleuchteten Denker des Ostens und des Westens hinter die Worte der Bibeln aller Rassen zu dringen und in dieselben einzudringen. Wenn wir das selbst mit nur bescheidener Unparteilichkeit tun können, werden wir das Gold einer allgemeinen Weisheit finden - einer Weisheit des Altertums, die das Erbe aller Menschen war und ist.

Fußnoten

1. Siehe Gespräche am runden Tisch: "Unser Erbe des Mitleids," Sunrise-Artikelserie, Heft 3/1962. [back]