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Eine andere Gelegenheit

Ein Junge, der um die Jahrhundertwende in der 'christlichen Gegend' des mittleren Westens Amerikas aufwuchs, konnte nicht aus einer übermäßigen Fülle religiöser Ideen wählen. Und selbst wenn eine solche Fülle bestanden hätte, so hätte er doch nicht wählen können. In jenen Tagen war man entweder "für Gott oder gegen ihn", und es gab nichts zu staunen, zu fragen und zu zweifeln. Wenn man auch nur nach einem Schimmer Aufklärung über die seltsamen Verwicklungen des Lebens verlangte, so empfing man nur die tauben Hülsen des blinden Glaubens. "Niemand weiß"; "Es ist der Wille des Herrn"; oder "An der Weisheit oder Gerechtigkeit Gottes darfst du nicht zweifeln." Blinder Glaube beantwortet nie etwas. Er ist nicht der Atem des spirituellen oder intellektuellen Lebens, sondern nur ein geistliches Beruhigungsmittel, das die Intuition betäubt.

Der Gedanke, daß die christliche Theologie überhaupt nicht fähig sei, die offensichtlichen Ungerechtigkeiten im Leben in verständlicher Weise zu erklären, griff immer mehr um sich: Warum die eine menschliche Seele in Schmutz und Armut geboren wurde und die andere in Vornehmheit und Luxus; warum einige die intellektuelle Fähigkeit eines Plato oder eines Einstein besitzen, während Millionen von uns nur über eine mittelmäßige Mentalität verfügen und manche kaum genug haben, um sich über das Tier zu erheben. Dann gab es das Problem von Gut und Böse und von Gott und dem Teufel. Und das verwirrendste von allem, wie konnte man die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer mit dem klar umrissenen Standpunkt von Paulus "Gott läßt sich nicht spotten" und, daß wir ernten, was wir säten, in Einklang bringen? Wenn die Antworten der Religion die Probleme und Erlebnisse dieser kleinen Welt, die nebenbei gesagt ein kosmisches Staubkorn ist, nicht erklären können, durch welche Kunst besitzt sie dann so viel Wissen über das nächste Leben und über die gewaltigen spirituellen Kräfte, die die Uhr des Milchstraßensystems in Gang hält?

Wann und wo ich das erste Mal von Reinkarnation hörte, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht vor sechzig Jahren in der Sonntagsschule. Ich glaube, ich wurde das erste Mal in einer kleinen Abhandlung, Licht auf den Weg genannt, darauf hingewiesen, an einer Stelle, die beschrieb, wie die Seele oder der Geist des Menschen schließlich nur erblühen konnte, nachdem sie Erfahrungen "unzähliger Leben nach Leben" auf Erden selbst angesammelt hatten und als Menschen (niemals als ein Tier, wie manche Menschen dachten) immer wieder zurückkehren, bis alle Lektionen auf diesem Planeten gelernt worden sind!

Einer solchen Idee war ich vorher nie begegnet, aber sie war vollkommen logisch. Sie paßte zu jeder Erfahrung, die ich bisher im Leben gemacht hatte, und am meisten zu dem grundlegenden Gesetz der Natur - Wiederholung - durch Prüfungen und Fehler, durch Begehen von Irrtümern und deren Berichtigung zu lernen, bis Vollkommenheit erlangt ist! Damals begriff ich, daß es in meiner Natur viel mehr 'Unebenheiten' gab, als in einem kurzen Leben ausgeglichen werden konnten. Und hier wurden mir die Hoffnung und der Glaube "einer anderen Gelegenheit" und in der Tat vieler Gelegenheiten geboten - ein auf Vernunft, gesundem Menschenverstand und auf das Gesetz der Analogie begründeter Glaube. Schließlich begann ich zu verstehen, warum die Menschen so sind, wie sie eben sind, und daß wir alle entweder in diesem oder in einem früheren Leben gerade hier auf Erden unsere eigenen, privaten, kleinen Höllen geschaffen haben. Doch das Wichtigste war, ich erkannte damals, daß niemand, nicht einmal ein Gott eine Zauberformel kannte, durch deren Anwendung ich mich der Verantwortlichkeit für meine Handlungen entziehen, keine List, die die Gesetze der Natur täuschen oder ablenken konnte.

So fing ich denn an, die heiligen Schriften anderer Religionen zu studieren und entdeckte, daß wir im Westen, uns aus irgendeinem seltsamen Grunde selbst abgesondert haben, mit unserem Glauben an ein einziges kurzes Leben, in dem des Menschen tiefste Bestrebungen erfüllt werden, alles, was er gesät hat (selbst wenn er bis zu seinem letzten Atemzug sät) reift und gleichzeitig alles Leid wieder gut gemacht wird, das er anderen verursachte! Nein, das war einfach unvernünftig, besonders wenn die Gottlosen vielfach zollfrei ausgingen und zu viele Menschen unglaubliches Leid erdulden mußten.

Ich fand, daß die übrige alte Welt viele Jahrhunderte hindurch vor unserer Zeitrechnung - Chinesen, Hindus, Ägypter und Perser, Griechen und Römer und andere, einschließlich der semitischen Völker - in irgendeiner Form die Wiedergeburt lehrten. Und zwar in der Weise, daß sich das Göttliche im Verlaufe der Zeit in jedem Menschen in vollem Umfang offenbaren konnte, sowie in ihren eigenen Erlösern, wie Buddha und Krishna, Osiris und Zoroaster, Laotse, Orpheus und Moses und wahrscheinlich vielen anderen. Ich nahm an, daß ich in ganz geringem Umfang beim Suchen einige Krumen der Erleuchtung fand, wenn mich aber Freunde fragten, wieso ich wisse, daß alle diese Menschen an die Rückkehr der menschlichen Seele auf die Erde glaubten, so gebe ich zu, daß es mir schwierig war, die genauen Stellen in den entsprechenden heiligen Schriften anderer Völker anzugeben.

Man stelle sich daher meine Freude vor, als ich in einer der letzten Ausgaben der Freimaurerzeitschrift The New Age von einem Buch las mit dem Titel: Reincarnation: An East-West Anthology - das Zitate aus den Weltreligionen und von über 400 westlichen Denkern enthält.1 Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß ich mir das Buch sofort kaufte, Feuer machte, mich ein paar Stunden hinsetzte und den Schnee auf der Fahrstraße immer höher werden ließ, was er ausgiebig tat. Ohne es gewahr zu werden, geriet ich in eine wunderbare Stimmung. Nichts ist entspannender und gleichzeitig anregender, als verwandten Geistern zu begegnen, die unabhängig von uns genau dieselben Gedanken dachten, die jahrelang unser eigenes Gemüt beschäftigten.

Hunderte von Wissenschaftlern, Dichtern, Philosophen, Erziehern und Staatsmännern in Amerika und China, Europa und Indien und in der ganzen Welt gibt es da, die auf ihre eigene individuelle Weise bestätigen, daß Reinkarnation für sie eine Fortdauer des spirituellen Seins bedeutete, die die Kluft des Todes überspannte. Hier vereinen sich Buddhisten, Kabbalisten und ähnliche Richtungen mit den Transzendentalisten meines lieben New England, und jeder und alle bestätigen in Poesie oder Prosa die einfache aber packende Erklärung von Henry Ford, die schon 1928 in einem Presseinterview zu finden ist:

Ich nahm die Theorie der Reinkarnation an, als ich sechsundzwanzig Jahre alt war... Die Religion hatte in dieser Hinsicht nichts zu bieten. ... Selbst die Arbeit konnte mich nicht vollkommen befriedigen. Die Arbeit ist unnütz, wenn die in einem Leben gesammelte Erfahrung nicht im nächsten Leben nutzbar gemacht werden kann. Als ich die Reinkarnationslehre entdeckte, war es, als hätte ich einen universalen Plan gefunden. Ich begriff, daß hier eine Gelegenheit war, meine Ideen auszuarbeiten. Die Zeit war nicht mehr begrenzt. Ich war nicht mehr der Sklave des Uhrzeigers.

Wenn Sie einen Bericht über diese Unterredung schreiben, dann schreiben Sie ihn so, daß er die Gemüter der Menschen beruhigt. Ich möchte anderen gerne die Ruhe vermitteln, die uns die Aussicht auf weitere Leben gibt.

Genius ist Erfahrung. Manche scheinen zu denken, es sei ein Geschenk oder ein Talent, doch es ist die Frucht langer Erfahrung in vielen Leben. Die einen sind ältere Seelen als die anderen und wissen deshalb mehr.

Und so könnte man ins Unendliche fortfahren zu zitieren.

Wie aber steht es mit der christlichen Bewegung? Für jemanden wie den Schreiber dieses Artikels, der sich jahrelang bemühte in dem Irrgarten theologischer Behauptungen am Ariadnefaden der Wahrheit festzuhalten, sind die Zitate unschätzbar. Hier haben wir einen unwiderlegbaren Beweis, daß verschiedene der frühen Kirchenväter von Justin Martyr im zweiten Jahrhundert bis zu Synesius im fünften Jahrhundert an die "Präexistenz der Seelen" glaubten, was einen Glauben an Reinkarnation oder Metempsychose in irgendeiner Form einschloß. Natürlich nicht alle von ihnen, das ist offensichtlich, denn sonst wäre der selbsterlösende Begriff der Wiedergeburt ein lebendiger Einfluß im Christentum geblieben.

Ich mußte das Lesen unterbrechen und das Feuer nachschüren. Als ich las, was sie schrieben, bekam ich eine Gänsehaut, - selbst Augustinus sagte, "daß Plato in Plotinus wiedergeboren wurde" - besonders als ich den Anhang studierte und die "Fünfzehn Anathemas gegen Origenes" fand! Denn unter den christlichen Vätern leuchtet kein Name mehr, als der des Origenes von Alexandrien (A. D. 185-254), der die Tiefen und den Glanz der griechischen Philosophie mit den edelsten Idealen des frühzeitigen christlichen Denkens vorteilhaft verband. Seinen hinterlassenen Schriften nach kann nicht bezweifelt werden, daß er ein entschlossener Verfechter von der Lehre der Präexistenz und der Wiedergeburt war. In seiner Abhandlung Gegen Celsus erklärt er:

Ist es nicht vernunftgemäßer, daß jede Seele aus gewissen geheimnisvollen Gründen (ich spreche die Meinung von Pythagoras, Plato und Empedokles aus, die Celsus häufig erwähnt) in einen Körper hineingeführt wird, und zwar ihren Verdiensten und früheren Handlungen entsprechend? ...

Ist es nicht vernünftig, daß Seelen ihren Verdiensten und früheren Taten entsprechend in Körper eingeführt werden sollten, und daß jene, die ihren Körper dazu benutzt haben, um das größtmöglichst Gute zu tun, ein Recht auf Körper haben sollten, die mit überlegeneren Eigenschaften ausgestattet sind als die Körper anderer? ...

Die Seele, die ihrer Natur nach immateriell und unsichtbar ist, existiert an keinem materiellen Ort, ohne einen der Natur dieses Ortes angepaßten Körper zu besitzen; demgemäß legt sie einen Körper, der vorher notwendig war, jetzt aber in seinem veränderten Zustand nicht mehr tauglich ist, ab und tauscht ihn für einen anderen aus.

Doch dieser "Fürst christlicher Gelehrsamkeit", wie ihn St. Gregory von Nyssa genannt hat, und seine Lehren wurden 300 Jahre nach seinem Tode - im sechsten Jahrhundert, als religiöser Fanatismus bemüht war, jede Spur alter Kultur und alten Wissens gänzlich auszurotten - "mit dem Kirchenbann belegt." Dieser Entscheid wurde 553 unter Kaiser Justinian auf dem fünften ökumenischen Konzil, dem zweiten von Konstantinopel, getroffen. Ob das ausschließlich durch die östliche orthodoxe Kirche geschah und die Kirche von Rom nicht daran beteiligt war, wurde umstritten, aber das ist jetzt nicht wichtig. Es verbleibt die Tatsache, daß es innerhalb der christlichen Bewegung geschah, so daß bis heute weder ein Zweig des orthodoxen Christentums die Reinkarnation lehrt noch ist sie in ihren Glaubensbekenntnissen zu finden.

Es ist leicht einzusehen, warum das so ist, denn die buchstäblich ausgelegte Lehre von dem stellvertretenden Sühneopfer ist auf die Annahme begründet, daß die menschliche Seele nur ein einziges kurzes Leben auf Erden zu leben hat. Wie konnte ein solches Dogma gegen die klare Lehre von Origenes bestehen, daß "jede Seele einen ihren Verdiensten und früheren Handlungen entsprechenden" Körper finden wird? Hier haben wir in der Tat eine Bestätigung des Hinweises von Paulus an die Galater, daß wir ernten werden, was wir säen - durch die Wiedergeburt in einem unseren "Verdiensten und früheren Handlungen" entsprechenden Körper. Die befreienden Ideen des Origenes haben in den Jahrhunderten bis zu dem Konzil ohne Zweifel beständig das Bewußtsein zu vieler Menschen aufgewühlt, sonst würde es das Konzil nicht für nötig befunden haben, sie zu verdammen.

Das alles soll kein Tadel für das Christentum an sich noch gegen das Leben und die Botschaft des christlichen Meisters sein, eine avatârische Inkarnation, die - zur Erleuchtung der Menschen - kurze Zeit über die Seiten der Zeit und der Geschichte huschte.

Wäre die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer, eine arg verstümmelte Darstellung der Lehre aus der "Mysterienschule" über das Einssein oder die 'Vereinigung' des Neophyten mit seinem eigenen inneren Gott - mit Christus, Mithra, Osiris, Krishna oder unter welchen Namen er unter den verschiedenen Völkern zu verschiedenen Zeiten bekannt war, die aber alle die gleiche Bedeutung, das Göttliche im Menschen, hatten - wäre diese verzerrte, weil buchstäbliche Auslegung, nicht so frühzeitig kristallisiert, dann hätte sie nicht die "Verdammung" und Streichung der erlösenden Lehre von der Reinkarnation aus dem Kanon bewirken können. Das Christentum und die Geschichte des Westens hätten einen ganz anderen Lauf nehmen können. Das Mittelalter wäre vielleicht nicht so blutig oder so finster gewesen und die Renaissance wäre früher und mit größerer spiritueller Wirkung gekommen.

Doch wie dem auch sei, die Vergangenheit ist tot; uns bleibt nur die Zukunft, um mit ihr zu arbeiten, da uns die Gegenwart jeden Augenblick entschlüpft. Ich werde immer und ewig auf Seiten des Origenes sein.

Fußnoten

1. Gesammelt und herausgegeben von Joseph Head und S. L. Cranston. The Julian Press, Inc., New York, 1961. Index and Appendix, 341 pages, $ 6. 50. [back]