Der Spielmann Gottes
- Sunrise 2/1963
Da kam er langsam näher ... mit seinem Ledersack unter dem Arm. Wir - Einar, Ville und ich - entschieden sofort, daß wir ihn dazu bringen wollten, uns etwas vorzuspielen. Wir kannten ihn gut. Er streifte schon viele Jahre mit seiner Violine in der Gegend umher, aber aus irgendeinem unbekannten Grunde spielten wir ihm nie einen Streich, obgleich wir den Älteren gegenüber sicherlich keine Engel waren. Und in unserer Stadt gab es viele alte Leute. Sie wurden Sonderlinge genannt, und die Leute lächelten überlegen über sie - und sie waren gewiß sonderlich. Wo sind alle diese seltsamen alten Männer heute, die frei wie die Vögel unter dem Himmel umherwanderten?
Nein, Maikula wollte uns nichts vorspielen. Aber wir gaben so leicht nicht nach - und nach viel Überredung und dem Versprechen, daß er etwas zu trinken bekäme und über den Fluß gebracht werden würde, setzte sich der alte Bursche an den Wegrand, holte seine Violine aus dem Sack und stimmte sie. Nach einem großen Krug dünnen Bieres, den Einar zu Hause in der Hütte bei der Fähre geholt hatte, spielte Maikula. Wir lauschten, ohne etwas zu verstehen, außer daß es gut klang. Dann kamen zwei Männer von der Handolinbrücke her. Maikula saß mit dem Rücken zur Straße und sah sie nicht. Die Männer blieben stehen und horchten. Als er aufhörte zu spielen, sagte der eine von ihnen:
"Wer bist du?"
Maikula erhob sich mit einem Ruck. "Ich bin nur Maikula und habe den Knaben etwas vorgespielt." Er war augenscheinlich verlegen.
"Ich hörte dich spielen", sagte der Mann. "Spiele noch etwas".
"Nein, nein!" sagte Maikula. "Nichts mehr - ich bin müde, und ich hörte heute Abend solch wunderbare Musik." "Wo".
"Im Hotel... Irgend jemand spielte dort, und das Cello sang so schön." Maikula verbeugte sich.
"Warst du in dem Konzert?"
"Oh nein; ich saß außen auf einer Bank und horchte."
"Der Cellospieler war ich" sagte der Mann. Maikula war lange unschlüssig... Schließlich reichte er ihm die Violine.
"Das ist ein gutes Instrument. Wo hast du es her?"
"Es wurde mir vor langer Zeit vom Kaiser geschenkt."
"Vom Kaiser?"
"Ja, von Zar Nikolaus... Ich spielte einst im Staatsorchester die erste Geige und nach einem Konzert wurde mir die Violine überreicht."
"Und nun wanderst du so umher!" fuhr der Mann fort. "Weißt du nicht, daß diese Violine Tausende, wahrscheinlich Zehntausende wert ist? Kann ich die Violine kaufen?"
"Nein, nein, bedaure", antwortete Maikula. "Sie ist nicht käuflich. Keinesfalls!"
Es folgte eine lange Unterhaltung. Der Mann - einer unserer großen, berühmten Musiker - versuchte Maikula zu überreden, mit ihm zu gehen und möglicherweise wieder vor Kaisern zu spielen, aber Maikula sagte dazu und zu dem Anerbieten finanzieller Unterstützung "nein, ich danke Ihnen."
"Ich möchte unabhängig sein - und ich habe alles, was ich brauche." Doch schließlich nahm er einen neuen Bogen als Geschenk an; aber als es darum ging, ihn im Hotel abzuholen, weigerte sich Maikula hinzugehen. Er sagte "gehe du" und deutete auf mich als dem jüngsten. Ich ging in das Hotel und erhielt den Bogen, über den sich Maikula heftig freute. Zum Dank gab er uns den alten Bogen, so daß wir für lange Zeit wunderbare aus den Pferdehaaren gemachte Angelschnüre hatten. Einar und ich ruderten ihn dann über den Fluß. Auf dem Rückweg sah ich, wie er seinen Rock zu einem Kissen zusammenlegte und sich unter einem blühenden Vogelbeerbaum niederlegte. Es war nicht mehr lange bis Sonnenaufgang.
Ein und ein halbes Jahr später: Silvesterabend, an dem ein Jahrhundert in das andere überging. Es war Mitternacht und die Glocken läuteten - wir hatten drei in unserer guten kleinen Stadt. Mein Vater, mein älterer Bruder und ich gingen hinaus auf die Heide. In der Stadt war jedes Fenster beleuchtet und über uns stand ein tiefblauer Himmel mit Millionen Sternen, während im Norden ein schwacher Bogen des Nordlichtes farbige Flammen malte. Plötzlich kam Maikula mit schnellen Schritten daher, mit der Geige unter dem Arm. Mein Vater grüßte ihn und fragte, wo er hin gehe. Zur finnischen Kirche in Niedertornea, wo er versprochen hatte am Morgen zu spielen. Mein Vater überredete ihn, mit uns in die warme Hütte zurückzukehren, denn draußen war es bitterkalt. Maikula verbrachte die Nacht bei uns, aber erst nachdem sich mein Bruder, der ein Pferd besaß, bereit erklärte, ihn früh genug über den Fluß zu fahren, damit er rechtzeitig zum Frühgottesdienst kam. Ich wollte natürlich mitfahren und nach langem Hin und Her wurde mir versprochen, daß ich mitfahren könnte. Wir fuhren um fünf Uhr los und waren rechtzeitig an der Kirche. Maikula betrat das erleuchtete Pfarrhaus, während mein Bruder das Pferd in den Stall brachte. Es hatte mindestens dreißig Grad Kälte, aber aus der ganzen Umgegend kamen Pferde und Schlitten zur Kirche. Mit ihren brennenden Fackeln in dem dunklen Wintermorgen sah es wie bei einem Mitternachtsgottesdienst zu Weihnachten aus. Bald war die Kirche voll. Zuerst spielte der Pfarrer Cello - er war sehr begabt - und dann spielten Maikula und der Organist. Was sie spielten weiß ich nicht; ich war nie sehr musikalisch. Zum Schluß spielte Maikula ein Solo, "Ave Maria." Ich habe seitdem niemals etwas derartiges gehört. Es war eine unvergeßliche Erinnerung, denn diese Musik erhob mich vollständig über diese Welt.
Jahre später erkundigte ich mich nach dem Musiker meiner Kinderzeit, Maikula. Ich erfuhr nicht sehr viel - und das ist vielleicht ganz gut. Aber irgend jemand wußte, daß er im Pfarrhaus gestorben sei, wo er bei seinem guten Freund, dem Pfarrer, immer einen Unterschlupf fand, wenn er wollte. An seinem Grab sei ein kleiner Stein mit einer Inschrift, sagten die Leute.
Zur Sommersonnenwende 1959 besuchte ich meine Heimatstadt. Die Sonne ging genau an derselben Stelle unter wie damals, als Maikula vor langer Zeit für drei barfüßige Knaben spielte. Ich ging auf den Friedhof. Der Friedhofwärter wußte nicht genau, wo das Grab war, aber nach langem Suchen fanden wir es. Ein blühender Vogelbeerbaum überschattete es, und ein Dompfaff sang aus voller Kehle, aus Freude am Leben. Wir kratzten ein wenig von dem Moos weg und fanden die Inschrift - "Maikula, der Spielmann Gottes" - hieß sie in finnischer Sprache. Kein Geburtstag, kein Todestag. Nichts weiter. Er war es, Maikula, einer meiner besten Freunde aus glücklichen Tagen ... Auf dem Wege zur Kirche hatte ich einen Strauß der im Tale wachsenden Lilien gepflückt. Diese gab ich jetzt meinem Freund zum Dank für alles, was er mir einst gab.
"Sie sind wahrscheinlich mit ihm verwandt?" meinte der Wärter verwundert.
"Ja, sicherlich sind wir verwandt" erwiderte ich. Denn "Der Spielmann Gottes" ist etwas, das auch ich auf meine eigene Weise zu sein versucht habe, obgleich ich nicht auf einer vom Kaiser geschenkten Violine spielte. Und Maikula hat auf jeden Fall das Beste im Leben gewählt - die Freiheit.1
Fußnoten
1. Die obige wahre Geschichte wurde kürzlich von dem populären schwedischen Autor von Jugendbüchern und Reisebeschreibungen, Oscar Rönnbäck, in der wöchentlichen Sendung "Für uns ältere Leute" des schwedischen Rundfunks vorgelesen. - Herausgeber. [back]