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Gespräche am runden Tisch: Unser Erbe des Mitleids

Vorsitzender: Wir beginnen heute Abend mit Kapitel IV, jñâna-yoga genannt - jñâna bedeutet sowohl 'Weisheit' oder höhere 'Erkenntnis' als auch intellektueller Weg der Disziplin und Ergebenheit, und ermöglicht es uns, zu unterscheiden zwischen dem, was wirklich ist und dem, was nur so zu sein scheint, zwischen der Wirklichkeit eines Dinges und seiner mâyâ oder 'Erscheinungsform'. Es ist einer von den verschiedenen 'Wegen' oder mârgas, auf denen die Wahrheit gesucht werden kann, und Krishnas Anstrengung war bis jetzt darauf gerichtet, in Arjuna ein bewußteres Wahrnehmen seines "innewohnenden Geistes" zu erwecken, den weder Geburt noch Tod berühren können. Welchen 'Weg' er auch wählen mag, Arjuna muß sich "erheben und kämpfen" und mit ganzem Herzen an dem seit Zeitaltern bestehenden Kampf der Selbstbesiegung teilnehmen. Im dritten Kapitel betonte Krishna den Weg des Handelns, Karma-yoga. Alle Wesen sind fortwährend in Tätigkeit und erzeugen Karma, denn das ist die Art des Wachstums; "Tätigkeit steht über Untätigkeit". Aber er erinnert ihn daran, daß, wenn er sich von den bindenden Ketten des selbstsüchtigen Motivs befreien möchte, er jeden Gedanken und jede Handlung als ein "Opfer" darbringen muß. Damit er das mit Verstand und mit Freude tun kann, weist Krishna auf die mitleidsvolle Struktur der Natur hin und auf das göttliche 'Opfer', das er, als das Höchste, beständig darbringt: "Wenn ich nicht unermüdlich tätig wäre", würde die Welt und alle Geschöpfe darin, die Menschen eingeschlossen, umkommen.

Hier, in dieser vierten Unterredung, wird deutlich der Ton des Mitleids angeschlagen und Krishna enthüllt einige der schönsten und bedeutungsvollsten Seiten dieser heiligen und unvergänglichen Lehre, die er einst der Sonne mitteilte und die er nun, während der achtzehn Tage auf der Ebene der Kurus seinem "Verehrer und Freund" übergibt. Louise, möchten Sie den ersten Abschnitt vorlesen? Quälen Sie sich nicht mit den schwierigen Namen ab, wir werden uns später mit ihnen beschäftigen.

 

Louise: Ich werde mein Bestes tun, aber ich weiß, ich kann sie nicht richtig aussprechen.

Diese unerschöpfliche Yoga-Lehre verkündete ich einst Vivasvat; Vivasvat gab sie Manu und Manu machte Ikshvâku damit bekannt. Durch diese beständige Weitergabe lernten sie auch die Râjarshis kennen, bis schließlich im Laufe der Zeit diese mächtige Kunst verloren ging, o Bedränger deiner Feinde!

Es ist aber dieselbe unerschöpfliche, geheime, ewige Lehre, die ich dir heute mitgeteilt habe, weil du mir ergeben und mein Freund bist.

In den Fußnoten wird erklärt, Vivasvat sei "die Sonne, die erste Manifestation der göttlichen Weisheit am Anfang der Evolution"; Manu ist "ein Gattungsname für den herrschenden Geist des empfindenden Universums; derzeit ist es Vaivasvata Manu"; Ikshvâku ist der Begründer der indischen Sonnendynastie; während Râjarshis "königliche Weise" bedeutet.

Vorsitzender: Mit anderen Worten, Vivasvat bedeutet der 'Leuchtende oder der Strahlende' und war einer der vielen Namen, die der Sonnengottheit gegeben wurden, deren vitale Energien unser Sonnensystem in der ihm bestimmten Bahn halten. Manu Vaivasvata (wörtlich übersetzt 'Sohn des Vivasvat' oder Manu, Sohn der Sonne) war der siebente von den vierzehn mythologischen Ahnen oder 'Vätern' des Menschengeschlechtes und als solcher der besondere Beschützer und Hüter unserer Menschheit. Von jedem dieser Manus wird gesagt, daß er vom Anfang bis zum Ende seines Zyklus oder manvantara (manuantara) regiert; während Ikshvâku, Manus 'Sohn', der Gründer der indischen Sonnendynastie der Könige wurde, die während des zweiten yuga oder Zeitalters der Erde regierten. Die Râjarshis oder königlichen Weisen waren jene weisen und edlen Fürsten in archaischen Zeiten, die das höchste jñâna oder die höchste 'Weisheit' verkörperten und auf diese Weise lehrten.

Soviel in Kürze. Die Namen an sich sind nicht so wichtig, um sich ihrer beständig zu erinnern, aber wir sollten im Gedächtnis behalten, daß alle alten Völker, die Hindus eingeschlossen, das Universum als einen lebendigen und intelligent geleiteten Organismus ansahen. Sie betrachteten die Sonne, den Mond und die Sterne als Götter - göttliche Wesen, die ihre entsprechenden himmlischen Rollen ausübten, und dennoch eng mit der Erde und ihren Bewohnern verbunden blieben. Die Menschen waren tatsächlich die Abkömmlinge von "Himmel und Erde" und die Götter ihre Wohltäter. Daher glaubten sie an einen beständigen Austausch spiritueller und physischer Lebenskraft zwischen dem Menschen und der Sonne und der ganzen Natur überhaupt.

 

Tom: Das ist ein begeisternder Gedanke und er erinnert mich an die griechische Mythologie, die in sich eine Art Stufenleiter von Göttern, Halbgöttern und Heroen einschließt, die unter den ersten Rassen lebten und ihnen die Wege zu richtiger Lebensführung zeigten und den zahlreichen Göttinnen der Fruchtbarkeit nach zu urteilen, wann sie ihren Weizen zu säen und zu ernten hatten, etc.

Stephen: Irgendwo habe ich eine wunderbare Stelle darüber gelesen, daß es einst tatsächlich Planetengeister gab, wie sie, glaube ich, genannt wurden, die am Anfang eines jeden Manvantaras erschienen. Wie gesagt wird, war ihr Ziel, so lange bei der unerfahrenen Menschheit zu verweilen, bis ihr gewisse grundlegende Ideen so fest eingeprägt waren, daß zukünftige Rassen sie nie gänzlich vergessen konnten.

Hazel: Ist das nicht das, was Plato meint, wenn er von in der Seele wohnender göttlicher Ideen spricht?

Frank: Nun, Sokrates benützt den Ausdruck "Ich erkenne mit meiner Seele" und meinte damit, daß etwas in uns eine "gewisse Erkenntnis" sowohl von dem, was wahr als auch vom Gegenteil besitzt, und daß es nutzlos ist eine solche Erkenntnis abzustreiten. Ich glaube in Meno bezieht er sich auf seine "Lieblingslehre der Rückerinnerung" mit der er erklärt, daß die Seele selbst jetzt noch die Macht hat bewußt die Erkenntnis, die sie besitzt, wachzurufen.

Vorsitzender: Das ist alles ausgezeichnet, denn wenn wir es zur Gîtâ in Beziehung bringen finden wir, daß Krishnas ganzes Bemühen darauf gerichtet ist, in Arjuna eine bessere Erinnerung an sein angeborenes Wissen zu erwecken, das er in seinem früheren Dasein erlangt und sich zu eigen gemacht hat, was er aber in diesem Leben überdeckt vom Zweifel über sich selbst, anscheinend vergessen hat. Jetzt appelliert Krishna an Arjunas edelstes intuitives Gefühl. Er verfolgt den spirituellen Abstieg dieser "unerschöpflichen Lehre" von der Sonne über den planetarischen Wächter der Erde und ihrer Menschheit, hinab durch eine Reihe königlicher Weiser, und dabei bestätigt er, daß eine Nachfolge der Gottmenschen bestand, die unter den ersten Rassen lebten und wirkten, um dem menschlichen Bewußtsein ein bleibendes Wissen über diese heiligen Wahrheiten tief einzupflanzen. Ohne Übermittler konnte es keine Überlieferung des Wortes geben. Diese "mächtige Kunst" ging jedoch nach vielen Zyklen verloren. Aber gerade diese Lehre, die er vor Zeitaltern Vivasvat verkündete, teilt er nun Arjuna mit.

 

Louise: Arjuna stellt dann genau die Frage, die auch mir in den Sinn kam: wieso konnte Krishna, der offensichtlich Tausende, ja wahrscheinlich Millionen Jahre später geboren wurde als die Sonne, von Anfang an "der Verkünder dieser Lehre" gewesen sein?

Ellen: Das dachte ich auch, da man annimmt, daß Krishnas Tod unser gegenwärtiges dunkles Zeitalter oder unser Kali-yuga einleitete, das der Berechnung der Hindus nach erst vor etwa 5000 Jahren begann und noch eine ganze Weile dauern wird. Wie gesagt wird, dauert es im ganzen ungefähr 432 000 Jahre.

Louise: Aber Krishna hat die richtige Antwort. Beide, er und Arjuna, hatten schon viele vorangegangene Geburten: "Meine sind mir bekannt, aber du weißt nichts von den deinen." Und er fährt fort...

Vorsitzender: Erinnern Sie sich der von Jesus gegebenen Antwort - "Ehe denn Abraham ward, bin ich"? Sie findet sich im Johannesevangelium, wo Jesus jene ziemlich lange Unterredung mit den Juden hatte, in der er ihnen unter anderem sagte, jene, die seiner Lehre folgen, "werden den Tod nicht schmecken". Sie fragten, wie ist das möglich, wenn doch "unser Vater Abraham" und die Propheten alle tot sind? Beansprucht Jesus größer zu sein, als sie? Und Jesus sagte, daß der Vater, den sie verehrten, ihr Gott sei, obgleich sie ihn nicht kennen, aber "ich kenne ihn und bewahre seine Worte", sie entgegneten, Jesus sei noch keine fünfzig Jahre alt, wie konnte er da Abraham gesehen haben! Und dann jene dunkle Erwiderung: Ehe denn Abraham ward, bin ich. Diese besagt im Wesentlichen genau das, was Krishna sagte, nämlich, daß ihm seine früheren Leben bekannt waren, aber Arjuna sich an die seinen nicht erinnere.

 

Dan: Daran hätte ich nie gedacht, aber jetzt kann ich daraus ersehen, daß beide, Jesus und Krishna, hierbei von Reinkarnation sprechen. Nur spricht Krishna deutlicher darüber.

Marie: Nun, das war weder für die Juden noch für Arjuna eine neue Idee, da die östlichen Völker immer an irgendeine Art Wiedergeburt glaubten.

Ben: Ich glaube es ist wichtig, zu erklären, was mit diesem Wort gemeint ist, weil viele Menschen denken, die Hindus glauben an Seelenwanderung in der Art, daß wir als Tiere zurückkommen. Das ist natürlich eine lächerliche Idee, aber wir stoßen immer wieder darauf.

Vorsitzender: Das ist wohl wahr, Ben, obgleich es sehr erfreulich ist, zu beobachten, daß sich neben diesem verzerrten Begriff ein reiferes Verständnis für diese archaische Lehre immer mehr ausbreitet. Es werden ernsthafte Bücher darüber veröffentlicht, die alte und neue Quellen dafür anführen, daß es für den Menschen eine zyklische Notwendigkeit ist als menschliches Wesen wiedergeboren zu werden, bis er sich hier auf Erden vervollkommnet hat.

 

Louise: Soll ich Krishnas Antwort noch einmal vorlesen und dann weiterfahren?

Wir beide, sowohl ich als auch du, sind schon durch viele Inkarnationen gegangen. Die Meinen sind mir bekannt, aber du weißt nichts von den deinen.

Wenn ich auch selbst ungeboren, von unveränderlichem Wesen und der Herr alles Bestehenden bin, so werde ich doch zufolge meiner Herrschaft über die Natur - welche mein ist - durch meine eigene mâyâ (die mystische Kraft der Selbsterzeugung, den ewigen Gedanken im ewigen Gemüt) verkörpert.

O Sohn Bharatas, so oft ein Verfall der Tugend und ein Überhandnehmen der Ungerechtigkeit und des Lasters in der Welt stattfindet, erzeuge ich mich selbst unter den Geschöpfen. Ich verkörpere mich von Zeitalter zu Zeitalter für die Erhaltung der Gerechten, die Vernichtung der Boshaften und die Aufrichtung der Gerechtigkeit.

Wer meine göttliche Geburt und mein Wirken wirklich als solches erkennt, o Arjuna, der geht nach Verlassen seiner sterblichen Hülle in keine neue mehr ein, denn er kommt zu mir.

Vorsitzender: Hier ist in Krishnas Hinweis auf die schöne Lehre über die Avatâras deutlich der Ton des Mitleids angeschlagen - jene periodischen "Abstiege" eines göttlichen Einflusses auf Erden, um das Böse zu zerstören und die alten spirituellen Werte wieder einzusetzen. "So oft ein Niedergang von dharma und ein Überhandnehmen von a-dharma eintritt, erzeuge ich ein Selbst" - ein zeitweiliges Vehikel für einen besonderen Zweck. "Ich bin geboren, jedoch durch meine eigene mâyâ - mâyâ bedeutet 'Illusion', wobei hier der Schleier oder die Schleier illusorischer Materie, die die Gottheit für ihr Wirken in der Welt benützt, gemeint ist.

Diese wenigen Verse sind voller Bedeutung, die wir zum großen Teil nicht verstehen. Das allgemeine Prinzip ist jedoch nicht so schwierig; es ist sogar unserer eigenen christlichen Überlieferung ganz und gar nicht fremd, denn es besteht eine wirkliche Identität mit...

 

Jack: Das kann ich begreifen, denn sowohl Christus als auch Krishna sind eine Inkarnation der Gottheit.

Vorsitzender: Ganz recht, und...

 

Dan: Aber von Christus wird angenommen, daß er eine einmalige Manifestation der Gottheit, der 'eingeborene Sohn' sei, während Krishna ganz klar sagt, daß er sich "von Zeitalter zu Zeitalter verkörpert".

Vorsitzender: Die richtigen Worte sind von yuga zu yuga. Aber fahren Sie fort, ich will Sie nicht unterbrechen.

 

Paul: Wollen Sie damit sagen, daß Christus ein Avatar war?

Marie: Aber wenn Jesus, wie in den Evangelien gesagt wird, der einzige Sohn Gottes war, wie können wir das mit der Idee mehrer göttlicher Inkarnationen in Einklang bringen?

Wilbur: Ich habe unlängst ein paar neue Bücher über Tibet gelesen. Die Buddhisten dort haben eine ähnliche Überlieferung in ihrer Folge der Lebenden Buddhas. Sie glauben, daß sich ein Strahl vom höchsten Buddha mit der Seele eines bestimmten Kindes in seinen ersten Jahren oder vielleicht von frühester Kindheit an verbindet und dieser Auserwählte, diese Person, wird mehr oder weniger eine Verkörperung der von der höchsten Quelle der Weisheit und des Lichtes ausgehenden göttlichen Energie.

Vorsitzender: Für viele ist es tatsächlich eine Überraschung, zu entdecken, daß vor Tausenden von Jahren, bevor Jesus erschien, Völker lebten, die den inspirierenden Gedanken hegten, daß sich in der menschlichen Geschichte in regelmäßigen Abständen göttliche Inkarnationen zu manifestieren pflegen. Aber das ist eine feststehende Tatsache. Bei dem heutigen wachsenden Interesse an den verschiedenen lebenden Religionen der Welt, tun wir gut, uns mit den spirituellen Idealen anderer vertraut zu machen. Ich glaube, wenn wir diese mannigfaltigen Überlieferungen mit den Evangelien zu verbinden verstehen, werden wir sehen, daß die eine Weisheitslehre in allen enthalten ist.

 

Elmer: Es tut mir leid, aber das verwirrt mich. Vorhin fragte jemand, ob Jesus ein Avatâra war. Ich habe das Gefühl, wenn ich eine einfache Erklärung dieses Ausdrucks bekommen würde, könnte ich sie vielleicht mit dem vergleichen, was wir über Christus wissen.

Vorsitzender: Gut, Elmer. Gerade das brauchen wir, um unser Denken auf einen Punkt zu konzentrieren. Vor allem, Avatâra ist ein Sanskritwort und bedeutet "Abstieg", von ava, hinab und trî, überschreiten, d. h. "absteigen". Nebenbei gesagt, in seiner anglisierten Form als Avatar wird es in Websters Dictionär wie folgt erklärt: "in der Religion der Hindus, die Inkarnation einer Gottheit - hauptsächlich verbunden mit Vishnu; auch Verkörperung, Manifestation." Wie einige von Ihnen vielleicht wissen, ist Vishnu die zweite Gottheit der Hindu Trinität, die von Brahmâ, Vishnu und Siva1 gebildet wird. Doch wollen wir das augenblicklich übergehen und nur sagen, daß im Mahâbhârata davon gesprochen wird, daß von dem Gott Vishun zehn Avatâras ausgesandt wurden.

Wir wollen doch sehen, ob wir das nicht noch besser zur Geschichte Christi in Beziehung bringen können. Nehmen wir vergleichsweise das Johannes Evangelium: "Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott; und Gott war das Wort" - das Wort, das das Licht war, von dem Jesus Zeugnis ablegte, "das wahre Licht, das jedem Menschen leuchtet, der in die Welt kommt." "Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns." Genau wie das Höchste Arjuna durch Krishna die gleichen unvergänglichen Wahrheiten enthüllte. Wir könnten Abschnitt um Abschnitt des dritten Kapitels hernehmen, aber es ist wirklich nicht notwendig, weil die Rolle des Avatâra wunderbar geschildert wird, da Jesus die gleiche Saite des Mitleids für das Geschick des Menschen anschlägt, wie Krishna:

Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, ... daß die Welt durch ihn erlöst werde.

Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet. ...

Das ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht. ...

 

Elmer: Das finde ich sehr hilfreich. Ich sehe jetzt, daß Johannes auf seine Weise dasselbe sagt, wie Krishna, nämlich, daß Gott durch Christus in Jesus "herabstieg" - und das verstehen Sie unter einem Avatâra. Es ist zu bedauerlich, daß uns darüber eine so geringe Aufklärung gegeben wurde, wie wir sie haben.

Vorsitzender: Einige der erleuchtetsten Theologen beginnen darauf hinzuweisen, daß Krishna ein Christus der Hindus sei, aber wenige sind bereit, Christus als einen westlichen Krishna zu betrachten! Dessenungeachtet arbeitet der Sauerteig des Verstehens, und ich wage zu sagen daß wir erstaunt sein werden, wie viele theologische Schranken gegen Ende des Jahrhunderts niedergerissen sein werden. Laßt uns sorgfältig darauf bedacht sein, daß wir uns nicht zu starr an irgendein neues Licht klammern, das wir entdecken mögen, damit wir nicht neue Schranken errichten, die künftige Generationen niederreissen müssen! Wir können sehen, daß ganz besonders diese Stelle, wenn man sie richtig auslegt, und überhaupt die ganze Geschichte über Christus, ein erhabenes Beispiel einer Gottheit ist, die einen Teil ihrer Essenz zum selben barmherzigen Zweck verkörpert, wie Krishna ihn beschreibt: um der Menschheit wieder einmal das erlösende Licht der Wahrheit zu bringen.

 

Paul: Im Neuen Testament gibt es mehrere Stellen, die auf ein "zweites Kommen" von Christus hinweisen, wenn auch bei dem Versuch, das Ende der Welt und den Jüngsten Tag etc. vorauszusagen, viel Unsinn geschrieben wurde. Einer der Briefe Petrus' enthält auch eine Prophezeihung, dahingehend, daß "die Himmel werden vergehen mit großem Lärm" und wir werden nach neuen Himmeln und nach einer neuen Erde ausschauen müssen, in welchen Gerechtigkeit wohnet.

Martha: Das erinnert an die Offenbarung, wo Johannes den Himmel sich öffnen und auf einem weißen Pferd die Gestalt Treu und Wahrhaftig sieht, die die Nationen richten wird, so daß jedermann "seinen Werken entsprechend" gerichtet werde. Ich finde diesen letzten Satz höchst bedeutungsvoll.

Hazel: Die Überlieferung der Parsen, die bis zur Zeit Zoroasters zurückgeht, besagt, daß irgendwann in der Zukunft ein weiterer Erlöser, den sie Sosiosh nennen, erscheinen würde, auch auf einem weissen Pferd, und zu Segen verheißendem Zwecke.

Ernest: Das erinnert mich an die Zeit als ich vor vielen Jahren in Birma lebte. Ich nahm diese Gelegenheit war, um in die buddhistische Gedankenwelt Einblick zu nehmen, besonders in ihre Kunst, und da entdeckte ich, daß unter dem Volke die Meinung kursierte, daß in Zukunft ein weiterer Buddha kommen würde. Sie nannten ihn Maitreya und hatten ihm zu Ehren zahlreiche Statuen errichtet, da sie ihn für einen besonderen Freund der Menschen hielten.

Ellen: Könnten wir jetzt zu den Avatâras des Vishnu und seinen zehn oder mehr Inkarnationen zurückkehren? Ich denke das ist sehr interessant. Ich erinnere mich nicht an alle, aber ich glaube er erschien als ein Fisch und als eine Schildkröte und nahm erst später verschiedene menschliche Formen an. Seine achte Verkörperung war, glaube ich, Krishna und die neunte Gautama Buddha.

Tom: Das erscheint ziemlich sonderbar, nicht nur wegen des Widerspruches, den er bei manchen Brahmanen erweckte, weil er einige ihrer Lehren offen verkündete, sondern weil ich, was das anbetrifft, an Buddha nie als an eine avatârische Inkarnation Vishnus oder irgendeines anderen Gottes gedacht habe. Buddha war eine historische Persönlichkeit, die wichtigsten Ereignisse seines Lebens sind hinlänglich bewiesen, und die Tatsache, daß er seine erhabene spirituelle Stellung durch eigene Anstrengung erlangte, finde ich sehr inspirierend. Doch die meisten dieser Geschichten sind wohl, wie ich annehme, nur Halbwahrheiten.

Vorsitzender: In all diesen Dingen müssen wir hinter die farbenfreudigen Ausschmückungen sehen, wenn wir zur Wahrheit gelangen wollen. Wenn wir zum Beispiel die Jâtaka-Erzählungen, die Buddhas "frühere Geburten" beschreiben, annehmen, so würden wir finden, daß er vor verhältnismäßig sehr kurzer Zeit als ein Tier geboren wurde! Das ist natürlich widersinnig, denn es erfordert Zeitalter um Zeitalter, bis ein menschliches Wesen fähig wird, "Erleuchtung" oder Buddhaschaft zu erlangen! Alle diese Geschichten sind, wenn nicht reine Phantasie, offensichtlich Symbole und enthalten als solche Spuren der Wahrheit.

Sie haben recht, Gautama war in dem Sinne, wie Krishna und Christus, kein richtiger Avatâra. Soweit ich dem schwer zu verstehenden Thema folgen konnte, ist also ein wahrer Avatâra der "Abstieg" einer Gottheit in Jesus oder Krishna, und ein Einswerden mit ihm, während ein Bodhisattva oder ein Buddha, wie Gautama, das Ergebnis eines "Aufstieges" des Selbstbewußtseins einer erleuchteten und gestärkten menschlichen Seele zur Vereinigung mit ihrer eigenen inneren Göttlichkeit ist. Dessenungeachtet, und hier können wir Mut fassen und Stärke gewinnen: jedes Menschenwesen stellt auf Grund seiner Verbindung mit seinem unsterblichen Selbst einen kleineren avatârischen "Abstieg" dar, weil sich das Göttliche im Innern trotz unserer menschlichen Fehler durch uns periodisch verkörpern kann. Und wenn wir dem Höchsten, das wir uns vorstellen können, zustreben, vollführen wir Schritt um Schritt den "Aufstieg", von dem Gautamas Sieg unter dem Bodhi-Baum den Gipfelpunkt darstellt. Wir werden viele, viele Leben brauchen, um alles damit zusammenhängende zu begreifen, aber sogar jetzt ist unsere Seele wissend, wie Sokrates sagen würde.

 

Betty: Ich möchte wissen, wer der zehnte Avatâra war, wenn Buddha der neunte war.

Ellen: Er ist noch nicht gekommen, aber er wird der Kalki-avatâra genannt. Auch er wird mit flammendem Schwert auf einem weissen Pferd erscheinen, um die Zerstörung der Welt und ihre Erneuerung zu bewirken.

Vorsitzender: Unter den alten Völkern scheint tatsächlich allgemein die Annahme verbreitet gewesen zu sein, daß am Ende unseres gegenwärtigen Zeitalters ein weiterer Halbgott oder Erlöser erscheinen wird. Frank, haben Sie die Stelle aus einer der Purânas feststellen können, wo das Kommen des am Ende des Kali-yugas fälligen Avatâras erwähnt wird? Gut. Ehe Sie sie vorlesen möchte ich erklären, daß die Brahmanen die Zyklen der Erfahrung für den Menschen in vier Hauptperioden oder yugas einteilen. Die erste Periode ist die spirituellste. Sie dauert am längsten und jedes nachfolgende yuga nimmt an Spiritualität und an Dauer um ein Viertel ab, bis zu unserem gegenwärtigen Kali-yuga oder dem "schwarzen Zeitalter". Sie werden bemerken, daß diese yugas, wenn auch nicht genau nach Jahren, so doch zumindest hinsichtlich ihrer Qualität ziemlich genau den vier Zeitaltern der Menschheit entsprechen, die der griechische Dichter Hesiod als das goldene, das silberne, das bronzene und das eiserne beschrieb.

 

Martha: Das regt sehr zum Nachdenken an. Ich glaube im Alten Testament finden wir eine ähnliche anschauliche Darstellung. Daniel schildert dort die Vision, die er in der Nacht hatte, "als das Licht" bei ihm verweilte. Er sah ein großes Bildnis, dessen Kopf aus reinem Gold, die Brust und die Arme aus Silber, Bauch und Lenden aus Bronze und die Beine aus Eisen, die Füsse aber aus einer Mischung von Eisen und Lehm bestanden! Es scheint, als würde das denselben Abstieg eines inneren Einflusses andeuten.

Vorsitzender: Vielen Dank, Martha. Gut, Frank, lesen Sie uns jetzt die Stelle über den Kalki-avatâra vor.

 

Frank: Sie ist dem vierten Buch der Vishnu-Purâna entnommen:

Wenn die in den Veden und den Gesetzesbüchern gelehrten Praktiken nicht mehr richtig befolgt werden und das Ende des Kali-yuga nahe sein wird, dann wird ein Teil der Gottheit, die in ihrer eigenen spirituellen Natur im Brahmanzustand lebt, und die der Anfang und das Ende (aller Dinge) ist und alles umschließt, auf Erden erscheinen und wird in der Familie eines erhabenen Brahmanen in Shambala, genannt Vishnu Vasas, als der Kalki-avatâra geboren werden. ...

Durch seine unwiderstehliche Macht wird er überwinden ... alle, die boshaften Gemütes sind. Dann wird er auf Erden rechtes Handeln wieder einführen; und die Gemüter jener, die am Ende des Kali-yuga leben, werden so rein sein wie Kristall. Die durch die Einflüsse jener ungewöhnlichen Zeit so veränderten Menschen werden die Saat der kommenden Menschen sein und zu einer Rasse heranwachsen, die die Pflichten und Gesetze des Krita-yuga (des ersten yuga oder des Zeitalters der Reinheit) befolgen wird.

Betty: Das ist eine höchst interessante Voraussage. Wenn man das gehört hat, erscheint es noch eigentümlicher, daß man uns glauben machte, daß Jesus die einzige und alleinige Manifestation der Gottheit war, oder daß er zumindest viel spiritueller war, als alle früheren Weltlehrer.

Dick: Ich glaube nicht, daß Jesus selbst je so dachte, obgleich ihn die Evangelien sagen lassen, er sei der "eingeborene Sohn". Ich glaube jedoch, daß es irgendeine Erklärung dafür gibt, die wir nicht kennen. In gewisser Hinsicht ist jeder Mensch einmalig, denn jeder von uns muß auf seine eigene Weise wachsen, selbst wenn das eine Menge Leid bedeutet; wir müssen im Innern verspüren, was wir in unserem eigenen Bewußtsein als wahr erkennen und nicht nur die Behauptung irgendeines anderen annehmen.

Vorsitzender: Wir können nicht sagen, warum unsere Theologie, die die reine Botschaft des Christus so verhüllte, beständig mehr die Einmaligkeit als den universellen Aspekt seines Kommens zu betonen pflegte. Eines aber wissen wir: genauso wie die Fälschung das Vorhandensein der echten Münze bezeugt, so enthält jedes Dogma eine ihm zugrunde liegende Wahrheit. Dick, ich habe den Eindruck, daß sie uns hier tatsächlich einen Schlüssel gegeben haben. Wenn wir unser Denken soweit ausdehnen könnten, daß es das ganze Wesen der Gottheit umfassen könnte, würden wir wahrnehmen, daß jede "Inkarnation" oder jeder "Abstieg" eines göttlichen Einflusses "eingeboren", "jungfräulich geboren" ist und in der Tat sein muss, weil das eine einmalige Verschmelzung gewisser Facetten des Bewußtseins ist, die zu einem bestimmten Zweck zusammengezogen wurden und in dieser speziellen Art wahrscheinlich nie wieder verschmolzen werden!

Das ist es, was die Manifestation der Christusse und der Avatâras so wunderbar macht. Wir haben dieses wirklich heilige Mysterium noch nicht annähernd zu verstehen begonnen - das Mysterium der Gottheit, die transzendent, "ungeboren, von wechselfreier Essenz" bleibt und doch aus Liebe zur Menschheit einen Teil von sich selbst emaniert, damit er sich in einem edlen Menschen verkörpern kann, der sich der Aufgabe weiht, den göttlichen Samen des höchsten Sehnens in erwartungsvollen Herzen zu erwecken. Kein Wunder, daß ein solches Ereignis als eine "heilige Geburt" gefeiert wird - es ist tatsächlich eine solche und sie läßt ahnen, was im Verlauf der Zeit mit jedem Mann und mit jeder Frau geschehen kann, die bereit sind, dem "stillen, schmalen Pfad" zu folgen.

Es ist spät geworden, aber laßt uns unter all den Einzelheiten, die wir berührten, den einen erhabenen Gedanken festhalten: es gibt ein System von Wahrheiten, dessen Wächter die Buddhas und Erlöser, die Avatâras und Christusse aller Zeitalter waren und noch sind; eine "unvergängliche Lehre". Jeder Mensch, ohne Einschränkung, hat auf Grund seines göttlichen Ursprungs die Kraft und die Verpflichtung, sich das Wissen darüber ins Bewußtsein zurückzurufen.

Wenn die Not am größten ist und Männer und Frauen spirituelle Führung mehr als alles andere nötig haben, ist wieder eine Inkarnation verhießen, denn das Mitleid hat, wie das Gesetz der Harmonie und der Gerechtigkeit, seine Wurzeln in der Gottheit.

Fußnoten

1. Vielleicht hilft es eine kurze Erklärung über die Trinität oder Trimûrti - wörtlich "drei Gesichter" der Hindus zu geben:

Brahmâ, die Personifikation Brahmans oder dem Höchsten, dessen 'Ausatmen' und 'Einatmen' seine 'Tage' und 'Nächte' sind, wird als der Schöpfer und Ahne des Universums und aller darin lebenden Wesen betrachtet.

Vishnu ist der Erhalter oder Ordner, der Harmonie und kosmische Ordnung aufrecht erhält. Von ihm wird gesagt, daß er von Zeit zu Zeit gewisse göttliche Energien aussendet, die sich auf Erden als Avatâras verkörpern. Und Siva, das dritte Glied in der Trinität, ist der Zerstörer, aber nur insofern, als er nur das zerstört, was unbrauchbar geworden ist, damit Brahma, der immer in Bewegung ist, um zu schaffen und neu zu schaffen, einen neuen Impuls zum Wachstum ins Leben rufen kann. Siva wird auch als eine wohltätige Kraft betrachtet und der "Erneuerer" genannt. - der Herausgeber [back]