Ist Reinkarnation ein feststehender Begriff?
- Sunrise 5/1961
Allem voran: Sei dir selber treu; und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage, du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.
- Hamlet I/III
Ich möchte Ihnen gern einen Gedanken vorbringen, der mein Gemüt seit langer Zeit beschäftigt.1 Es betrifft die Reinkarnation. Ich spreche über Reinkarnation nicht deshalb, weil ich sie für eine interessante Theorie halte, sondern weil ich glaube, daß sie von weltweiter Bedeutung für die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts ist. Ich glaube, daß sie eine wiederentdeckte Wahrheit ist, notwendig für uns alle, damit es uns möglich ist die spirituellen Gesetze, die sich auf die Entwicklung der menschlichen Seele beziehen, wieder erkennen zu können, und daß sie die Möglichkeit gibt, die Grundlage für philosophische, wissenschaftliche und religiöse Integration und Zusammenarbeit zu werden.
Reinkarnation ist die Art und Weise, durch die der spirituelle Teil von uns in aufeinanderfolgenden Leben zur Erde zurückkehrt, um einen menschlichen Körper zu bewohnen. Das bedeutet, daß wir viele Male vor unserem gegenwärtigen Leben gelebt haben, und in kommenden Jahren, lange nachdem unsere jetzige Form vergangen sein wird, der unsterbliche Teil des Menschen wieder eine andere Wohnung aus menschlichem Fleisch bewohnen wird. Beim Tode gibt das, was die physische Form zusammenhält, seine Wohnung auf, und der Körper wird nun den physikalischen Kräften des Zerfalls überlassen. Aber die Seele ist nicht gestorben, denn sie nimmt im Augenblick des großen Überganges das Panorama ihres vergangenen Lebens wahr. (Zeugnis eines Ertrinkenden und anderer, die dem Tode nahe waren, und die übereinstimmende Erfahrungen berichtet haben.) Sie erkennt und erfährt nicht nur ihre eigenen Handlungen und Empfindungen, sondern erkennt und erfährt auch die Folgen ihres Handelns an anderen. Im Lichte des innewohnenden Christus erleidet die Seele Gewissensbisse für die vergangenen Missetaten, (in der christlichen Terminologie wird es die Zeit des Fegefeuers genannt) und durch die Seele fließt ein tiefes brennendes Verlangen die Fehler der Vergangenheit gut zu machen. Es ist die Seele, die sich selbst richtet; durch ihr Urteil wird die Saat für ihre zukünftige Geburt gelegt, denn der Mensch ist ein Pilger der Ewigkeit, in der seine Seele das Überdauernde vieler Erdenleben ist.
Im Lichte des Christusselbstes hat sich der Mensch selbst abgeurteilt, und er weiß, daß dieses Urteil zu Recht besteht. Durch Gnade oder das große Gesetz des Mitleids ist ihm die Kraft gegeben worden freiwillig zurückzukehren, nicht nur um seine Missetaten zu bereinigen, sondern auch um die Entwicklung der Menschheit, von der er ein Teil ist, voranzubringen. Wenn wir den ganzen Vorgang der Inkarnation eines Menschenwesens betrachten, so können wir nur in Ehrfurcht und Bewunderung dastehen - als Zuschauer des seltsamen Mysteriums, in welchem mächtige geistige Kräfte tätig sind.
Die inkarnierende Seele sucht die irdischen Verhältnisse, in denen sie am besten den Hindernissen begegnen kann, die sie zu überwinden hat. Die Umgebung wird gewählt, die erblichen charakterlichen Merkmale der Eltern werden ausgesucht, während die Seele ihre eigenen, ihr anhaftenden Fähigkeiten mitbringt. Die so ausgewählte wunderbare Wohnung ist somit in Übereinstimmung mit der kosmischen Aktivität vorbereitet. Wordsworth sagt in seiner "Ode an die Unsterblichkeit":
Unsere Geburt ist nur Schlaf und Vergessen,
Die Seele, die mit uns erwacht, unseres Lebens Stern,
Hat irgendwo ein Heim besessen
Und kommt von fern:
Nicht in völliger Vergessenheit
Und nicht ganz bloß,
Denn Wolken der Glorie,
Die von Gott kommen, der unsere Heimat ist,
Folgen uns nach:
Der Himmel umgibt uns in unserer Kindheit.
Wenn wir uns jedoch auf den Gedanken der Rückkehr der Seele beziehen, so könnte man vielleicht einwenden: Da ich ja keine Erinnerung an ein früheres Leben habe, so kann ich auch vorher nicht existiert haben. Aber das ist kein stichhaltiges Argument, denn wir haben auch keine bewußte Erinnerung an unsere früheste Kindheit, und dennoch tragen wir, wie es die moderne Psychologie bestätigt, das, was wir in unserem Unterbewußtsein in unserer Kindheit und den frühesten Lebensjahren erfahren haben, unser ganzes Leben hindurch in uns, und diese Erfahrungen beeinflussen unsere dreifache Tätigkeit des Denkens, Fühlens und Wollens.
Wenn man die großen Unzulänglichkeiten im Leben betrachtet, den mißgestalteten Idioten, das mongoloide Kind, den Geistesschwachen, das Kind, dessen Leben kurz nach der Geburt endet - was wird aus diesen Seelen? Die übliche Antwort darauf lautet, daß ihr Schicksal - einer besonderen Vorsehung entsprechend - in der Gnade Gottes ruht. Wenn dem so wäre, dann wäre die Erfahrung eines auf Erden gelebten Lebens nicht von so einzigartiger Bedeutung. Aber in der wiederholten Wiedergeburt der menschlichen Seele beginnen wir zu erkennen, daß das Leben letzten Endes doch gerecht ist, was das Christentum ebenfalls behauptet.
Die Evolution der physischen Form wird allgemein angenommen; das Prinzip der individuellen 'Evolution der Seele' liegt im Zyklus der Reinkarnation begründet. Wenn auch des Menschen physischer Körper sich zum Instrument unabhängigen Denkens entwickelt hat, so ist er dennoch für Krankheit offen. Wenn auch des Menschen Seele viele höhere Eigenschaften entfaltet hat, so ist sie dennoch offen für das Üble. Wir sind geneigt, die historische Evolution zu wenig zu beachten. Der Wechsel der menschlichen Form erfordert Tausende von Jahren. Es wird behauptet, daß die Spanne zwischen zwei aufeinanderfolgenden Leben 1000-1500 Jahre, vielleicht auch mehr beträgt, währenddessen neue Möglichkeiten der Erfahrung entwickelt worden sind. Wenn während einer Epoche irdischer menschlicher Geschichte eine Seele die besondere Aufgabe dieser Periode, in der sie inkarniert ist, versäumt, dann bedeutet das einen Verlust, der schwerlich wieder ausgeglichen werden kann. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, macht die Idee der Wiedergeburt den Menschen in diesem Leben in keiner Weise sorglos, besonders, wenn es auf die größere Bestimmung der Seele bezogen wird.
Wenn wir uns die Mühe machen die Lehre Gautama Buddhas unvoreingenommen zu prüfen, so können wir nur in Ehrfurcht vor seiner erhabenen Demut und Hingebung für einen vorchristlichen Pfad spiritueller Erkenntnis stehen. In seiner Lehre über den achtfachen Pfad bekennt er, daß der Mensch viele Male in die Welt hineingeboren wird. Er schaut zurück und erinnert sich seiner eigenen vergangenen Leben und sieht diese an sich vorüberziehen. Wir können die Gedanken eines solch' großen Lehrers nicht zurückweisen ohne darüber nachzudenken. Mann könnte noch andere, wie Plato und Goethe, Origenes und Clemens von Alexandrien erwähnen, die alle ohne Zweifel an die Wiedergeburt der Seele glaubten.
Wie steht es nun um die Betrachtung der Reinkarnation vom Standpunkt der Bibel aus? Dazu möchte ich zunächst sagen, daß, obgleich es keine biblische Lehre ist, sie meines Wissens doch nirgendwo in der Bibel abgeleugnet wird. Reverend Dr. Leslie Weatherhead, England, ein Überzeugter Anhänger der Reinkarnationslehre, sagt in einem 1953 erschienenen Artikel in der britischen Presse:
Soweit ich unterrichtet bin, leugnet die christliche Lehre die Reinkarnation nicht. In den Evangelien sind tatsächlich einige Stellen, die klingen, als sei der Glaube aus der Zeit unseres Herrn von seinen Jüngern aufrecht erhalten worden...
Vielleicht noch bedeutungsvoller ist aber, daß das Christentum behauptet, daß das Leben letzten Endes gerecht ist, und es erscheint schwierig, eine solche Gerechtigkeit zu erkennen, wenn man nur die Abschnitte des Lebens auf Erden mit 70 Jahren rechnet.
Zu sagen, daß die Ungerechtigkeiten dieses Lebens in einem Leben nach dem Tode ausgeglichen würden, scheint mir nicht das Richtige zu sein die Dinge zu ordnen. Nebenbei bemerkt, weshalb glauben wir, daß das menschliche Leben nach dem Tode weiter besteht, andererseits aber vor der Geburt keinen Bestand gehabt haben sollte? Einige Kinder werden mit gesundem Körper und guten Verstandesanlagen geboren, andere aber werden vom ersten Tage ihres Lebens an durch Krankheit und mangelnde Intelligenz gehemmt.
- Sunday Chronicle, 29. November 1953
Dr. Weatherhead sagt weiter, daß das Wissen über Reinkarnation für die Christenheit sehr wichtig ist. Die vielleicht besten Hinweise, die letzten Endes darauf hindeuten, daß die Idee der Reinkarnation wohl bekannt und angenommen worden war, sind jene, die sich auf Johannes den Täufer beziehen:
Maleachi III/23
Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt.
Matthäus XI/13-15
Denn alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis auf Johannes.
Und so Ihr's wollt annehmen, er ist Elias, der da soll zukünftig sein.
Wer Ohren hat zu hören, der höre.
Matthäus XVII/10-13
Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Was sagen denn die Schriftgelehrten, Elia müsse zuvor kommen?
Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Elia soll ja zuvor kommen und alles zurechtbringen.
Doch ich sage euch: Es ist Elia schon gekommen und sie haben ihn nicht erkannt, sondern haben an ihm getan, was sie wollten. Also wird auch des Menschen Sohn leiden müssen von ihnen.
Da verstanden die Jünger, daß er von Johannes dem Täufer zu ihnen geredet hatte.
Offensichtlich ist jedoch, daß Johannes selbst seine vorherige Inkarnation unbekannt war.
Die Jünger müssen ebenfalls Kenntnis von der Lehre der Reinkarnation gehabt haben:
Johannes IX/1-3
Und Jesus ging vorüber und sah einen, der blind geboren war.
Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er ist blind geboren?
Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern daß die Werke Gottes offenbar würden an ihm.
Folgendes deutet schließlich auf die Präexistenz der Seele hin:
Jeremia I/5
Ehe ich dich im Mutterleibe bildete, habe ich dich gekannt, und ehe du aus dem Mutterschoße hervorkamst, habe ich dich geheiligt, ...
Sogar in der Offenbarung des Johannes III/12 ist ein schwacher Hinweis zu finden:
Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen; ...
was sich auf die "vollkommene" Seele, die nicht mehr auf die Erde zurückkehrt, beziehen könnte.
Damit soll nicht gesagt sein, daß die hier ausgewählten Zitate die Idee der Reinkarnation beweisen, aber sie zeigen letzten Endes, daß der Begriff nicht fremdartig oder entgegengesetzt zur Bibellehre steht. Bei Christus weist die Bibel definitiv auf eine Präexistenz in der spirituellen Welt hin.
Entweder man glaubt, daß jede Seele eine "besondere Schöpfung" ist, die nur einmal in diese Welt gebracht wird und dann wieder verschwindet - nicht von Gott, sondern durch den Willen der Eltern erschaffen - und daß von dieser einmaligen Lebensdauer eine Ewigkeit unverdienter Wonne oder unverdienten Leides abhängen soll - oder man kann die Worte des Meisters Jesu "Ich und der Vater sind eins" verstehen und sich die Lehre von der Reinkarnation oder der aufeinanderfolgenden Wiedergeburten der menschlichen Seele zu eigen machen, daß eines Tages die Vereinigung mit dem Vater in uns erreicht wird.
Fußnoten
1. Aus einem Vortrag, der kürzlich vor der Gruppe für Männer der unabhängigen Kirche in Penarth, Wales, gehalten wurde. [back]