Das Wunder der Atomwissenschaft
- Sunrise 4/1961
In unserer Juliausgabe veröffentlichten wir unter dem Titel "Die Wissenschaft von Morgen" den abschließenden Teil des Charles S. Redding-Vortrages, gehalten am 16. 12. 1959 von Dr. W. F. G. Swann, Pennsylvanien, als Erwiderung auf die ihm zuteil gewordenen Ehren für seine zweiunddreißigjährige Tätigkeit als Direktor der Barton Research Foundation of The Franklin Institute. Als Bahnbrecher in der Erforschung atomarer Struktur und der kosmischen Strahlen hat dieser alte Physiker die außerordentliche Fähigkeit die tiefsten Begriffe in einfacher allgemeinverständlicher Sprache darzulegen. Mit seiner gütigen Erlaubnis drucken wir einen weiteren Abschnitt aus diesem Vortrag ab.
- Der Herausgeber
Durch den großen Erfolg der klassischen Astronomie Newtons und die Entdeckung der atomistischen Natur der Materie und durch die Tatsache, daß die Atome selbst aus dem zusammengesetzt sind, was wir Partikel nennen, war es so gut wie unvermeidlich, daß der Mensch versuchte, die Atome und ihr Verhalten im großen und ganzen dadurch zu verstehen, daß er sie sich als Modelle des Sonnensystems in enorm verkleinertem Maßstab vorstellte; und so entstanden vor etwa einem Dreivierteljahrhundert die auf dieser Idee begründeten Atomtheorien und brachten somit im Prinzip die Gesetze der Vorherbestimmung mit sich. Ich sollte vielleicht einen Augenblick innehalten, um zu erklären, was durch die Annahme eines solchen Prinzips letzten Endes angedeutet wird. Die Sache wird durch die Geschichte, die von einem Mann und seinem Sklaven handelt, erläutert.
Es war einmal ein alter Edelmann, der fest an die Vorherbestimmung glaubte. Er hatte einen Sklaven, der manches aus dem Besitztum seines Herrn stahl. Der Edelmann traf Vorbereitungen, seinen Sklaven dafür zu züchtigen. Der Sklave jedoch, ein schlauer und freimütiger Bursche, sagte:
"Herr, Sie müssen wissen, daß ich für die von mir begangene Sünde nicht verantwortlich bin, denn nach der von Ihnen vertretenen Philosophie war es vorherbestimmt, daß ich dies aus Ihrem Besitztum stehlen sollte." Der Herr jedoch erwiderte: "Ja, mein Sklave, das ist tatsächlich wahr, aber eben deshalb war es auch vorherbestimmt, daß ich Dich für Dein Vergehen bestrafen würde." Ich empfehle diese Methode jenen, die über das Schicksal jugendlicher Delinquenten zu wachen haben.
Jedem, der dem Gesetze der Vorherbestimmung zustimmt und einer Situation gegenübersteht, in der ein System plötzlich von dem durch die aufgestellten Gesetze vorgezeichneten Weg abweicht, stünden doch zwei Ansichten über die Sache offen. Er könnte die Zuverlässigkeit der Gesetze leugnen... oder er könnte das Geschehen als ein Wunder betrachten. Das ist dann tatsächlich nichts anderes als eine Kristallisation der Bedeutung des Wortes "Wunder".
Als man die äußeren Hüllen entfernte (neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse), worüber ich schon sprach1, fand man, daß sich darin jene Dinge, die den Aufbau der Atome und Moleküle betrafen, nicht nach dem Prinzip der Vorherbestimmung verhalten. Sie verhalten sich nicht dem von der Wissenschaft zum Ideal erhobenen glatten Verlauf der Dinge entsprechend. Jede Veränderung, die das Atom erfährt, ist plötzlich, ohne klar ersichtliche Beziehung zum Vorhergegangenen und ohne Garantie für die Zukunft. Jede Veränderung ist ein Wunder in dem Sinne, in dem ich das Wort zu erklären versuchte. Außerdem meinten die meisten Physiker, daß es unmöglich sei, irgendwelche Gesetze zu erdenken, die mit den Tatsachen übereinstimmen und wonach sich Veränderungen in den Atomen und in den von den Atomen unmittelbar beherrschten Bereichen in irgendeiner genau vorher zu bestimmenden Weise ereignen. Das Beste, was man tun konnte, war, übliche Begriffe herzunehmen und Gesetze auszudenken, die die Wahrscheinlichkeit für irgendein besonderes Ereignis unter gewissen festgesetzten Bedingungen angeben. Die Gesetze entsprachen dann jenen, die der Versicherungsstatistiker benützt, wenn er den Bruchteil der, sagen wir, über 50 Jahre alten Leute errechnet, die im nächsten Jahr sterben werden. Er kann nicht voraussagen, was sich bei jedem einzelnen ereignen wird, aber er kann mit beachtlicher Sicherheit voraussagen, was mit einem Teil der Leute geschieht. In gewissem Sinne kann man sagen, daß die ganze Quantentheorie von heute eine Auskristallisation der besten Gesetze ist, die der Mensch ersinnen konnte, um die Natürlichkeit wunderbarer Ereignisse zu beschreiben.
Natürlich könnte man ganz richtig sagen, daß der Mann von der Versicherung mit ziemlicher Sicherheit zu genauen Voraussagen über die einzelnen Leute kommen würde, wenn er den Arzt jedes einzelnen zu Rate ziehen und laufende Untersuchungen von deren Gesundheitszustand verlangen würde. Man könnte sagen, daß an dieser Sache wirklich nichts Wunderbares sei. Seine Unsicherheit in bezug auf den einzelnen liegt einfach darin, daß er nicht alle Einzelheiten kennt und es für ihn unmöglich ist, sich darüber weiter zu vergewissern, um Voraussagen im einzelnen machen zu können. Und dasselbe, so könnte man sagen, gilt auch für das Atom. Wenn man nur lange genug daran arbeiten würde, um eine vollständigere Reihe von Gesetzen, die sein Verhalten beherrschen, zu entdecken, dann würde einem die vollständige Lebensgeschichte eines jeden Atoms bekannt werden und es bestünde keine Notwendigkeit von Wundern zu sprechen. Wie sehr auch die Physiker schwer daran gearbeitet haben, etwas derartiges zu vollbringen, es war ohne Erfolg. Viele von ihnen sind nach Lage der Dinge davon überzeugt, daß ein vollkommener Erfolg niemals erzielt werden kann und wir im Bereich der Atome immer mit Wundern rechnen müssen.
Und damit stehen wir einem merkwürdigen psychologischen Paradoxon gegenüber. Der Wissenschaftler schlechthin, der vollständig davon überzeugt ist, daß sich, was die Materie anbetrifft, im allgemeinen nichts Wunderbares ereignen kann, nimmt solche Ereignisse in der atomaren Welt als ganz selbstverständlich hin. Irgendwelche gleich großen Wunder, die wir sehen können, würde er mit Abscheu zurückweisen, aber Ereignisse, die er nicht sehen, über die nur das Gemüt nachdenken kann, von denen er aber glaubt, daß sie geschehen, findet er annehmbar. Er vermeidet jedoch mit seinem Gewissen in Konflikt zu geraten, indem er es unterläßt, diesen Ereignissen Namen zu geben. Noch merkwürdiger ist vielleicht, daß der Mensch mit Fortschreiten der Experimentierkunst tatsächlich gewisse Wunder des einzelnen Atoms beobachten kann, aber hier hat er das Gefühl, daß sein Tun von allem, was mit der Menschheit zu tun hat, soweit entfernt ist, daß sein philosophisches Gewissen wiederum keine Einwände macht.
Ich bin sicher, wenn ich einem intelligenten Laien, der nichts von mathematischer Physik versteht, die Prinzipien, nach denen die sogenannten Gesetze der atomistischen und der Kernstruktur wirken, beschreiben würde, und wenn ich das in kurzen Worten tun könnte, so daß der Laie nicht fortwährend dabei abgelenkt würde und bei jedem Schritt vorwärts nicht mehr schlucken müßte als sein philosophischer Verstand verdauen kann, ich glaube, wenn ich das könnte, dann müßte der Laie zugeben, daß die in der Kernphysik gültigen Geschehnisse nach normalem Urteil des gesunden Menschenverstandes abstrakter und bizarrer sind als okkulte Phänomene, von denen man spricht und die er unter dieser Bezeichnung wahrscheinlich sofort als einen Beweis der Geistesgestörtheit jener, die sie beschreiben, ablehnen würde.
In dem vergangenen Dreiviertel dieses Jahrhunderts brachte die Wissenschaft soviele wunderbare Dinge ans Licht, die heute Allgemeingut geworden zu sein scheinen und die die Menschheit in ihrer Entwicklung in keiner Weise mehr als üblich erregt haben, weil sie uns nach und nach nahe gebracht wurden. Wenn jemand vor hundert Jahren am Morgen erwacht wäre und einen Apparat vor sich gesehen hätte, mit dem es möglich ist, die Stimme eines in Paris sprechenden Menschen zu hören; wenn er, während er darauf lauschte, über sich ein Flugzeug gesehen hätte, und wenn er auf die Straße gegangen wäre und Wagen ohne Pferde durch die Straßen hätte rasen sehen, dann hätte er sicherlich gedacht, daß ein Zeitalter der Wunder angebrochen sei, das so merkwürdig ist wie etwas aus der Vergangenheit, von dem er gelesen hat. Doch heute sind diese Dinge keine Wunder mehr für ihn, weil die Wissenschaftler erklärt haben, daß sie wüßten, wie alles vor sich geht, obgleich das Wissen des Wissenschaftlers auch nur auf Vorgängen basiert, die, wenn er sie dem Laien mit einem Mal vermitteln könnte, von ihm in seiner Beurteilung vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes aus gesehen, als Wunder betrachtet werden müßten.
Die Wunder der atomistischen und unteratomistischen Welt bestimmen im größeren Maßstab das Verhalten der Dinge, auf dessen Wirken wir, symbolisch dargestellt durch den "Mann auf der Straße", aufmerksam werden. Dieser Mann hört von der Atombombe in ähnlicher Weise wie von einer erweiterten Darstellung einer der Urnen in Tausendundeine Nacht, Urnen, aus denen, bei richtiger Beschwörung, schreckliche Wesen hervorkamen. Er erfährt, daß zwei anscheinend unwirksame Stücke Uran gleicher Art, plötzlich in enge Berührung gebracht, auf eine Weise explodieren, als seien alle Furien der Hölle mobilisiert worden, um alle möglichen üblen Dinge in Form giftiger, radioaktiver Strahlungen und ähnlichem auszustreuen. Es ist als ob diese zwei Metallstücke dadurch, daß sie einander nahe gebracht werden, beide in Wut geraten würden und in ihrem Zorn alles Böse hervorbringen, das sie in sich hatten. Vom Standpunkt der allgemeinen Folgen aus gesehen übertrifft das von diesen zwei harmlosen Stücken Uran Vollbrachte tatsächlich in unermesslich größerem Maße die in dem unsterblichen Buch arabischer Märchen beschriebenen Geheimnisse. Und unser Mann von der Straße könnte beim Betrachten der Atombombe mit Recht sagen: "Hier sehe ich endlich ein wirkliches Wunder - ein Wunder, das nach Belieben wiederholt werden kann."
Doch die Männer der Wissenschaft sagen ihm, daß sie über all das, was sich ereignet hat, Bescheid wissen und es infolgedessen kein Wunder ist. Doch damit täuschen sie den Laien, denn, wenn sie ihm die damit verbundenen feineren atomistischen Vorgänge enthüllen könnten, würde er wahrscheinlich ausrufen: "Aber nach dem, wie Sie die Bombe erklären, sind diese Vorgänge an sich, meiner Ansicht nach, Wunder." Und wenn der Mann der Wissenschaft sich selbst gegenüber ehrlich ist, so wird ihm nichts weiter übrig bleiben, als zu erwidern: "Ja lieber Freund, von Ihrem Standpunkt aus gesehen, ist das tatsächlich wahr; aber für mich, der ich mich so lange mit diesen unteratomistischen Phänomenen beschäftige, haben die Phänomene aufgehört, mit dem Stigma des Wortes Wunder behaftet zu sein." ...
So lernt der Mann von der Straße mit der Zeit das Verhalten der Atombombe als etwas zu betrachten, über das man sich nicht zu sehr zu verwundern braucht und er nimmt es hin, wie er das Radio hingenommen hat oder wie er früher die alltägliche Erscheinung der Elektrizität, das Fahren der Straßenbahn als Resultat dessen hinnahm, was in den Kupferdrähten vor sich geht und von denen gesagt wird, daß sie auf geheimnisvolle Weise elektrische Kraft übertragen.
Trotz allem was ich sagte, um Sie davon zu überzeugen, daß wir in einer Welt von Wundern leben, werden Sie vielleicht mit meiner Definition dieses Ausdrucks nicht zufrieden sein. Vielleicht ist für Sie ein Wunder ein so ungewöhnliches Ereignis, daß die Tatsache, daß es stattfand, überhaupt zu bezweifeln ist. Sie können daher behaupten, daß atomistische Phänomene keine Wunder sind, weil sie sich beständig ereignen und ihr beständiges Sichereignen in seiner Gesamtheit für die um uns stattfindenden Ereignisse die Grundlage bilden. Wenn Sie dieser Meinung sind, so befürchte ich, daß Sie in meiner Hand sind, denn in diesem Sinne würden praktisch alle Phänomene der atomistischen Welt tatsächlich für jeden mutmaßlichen Bewohner des Atoms Wunder sein.
Betrachten Sie die Ausstrahlung eines X-Strahles aus einem Atom. Stellen wir uns in der Imagination vor, Sie lebten auf einem der Atome, die den Teil der Röntgenröhre zusammensetzen, aus der die X-Strahlen kommen, dann würde die Aussendung eines Strahles durch ein einzelnes Atom so selten stattfinden, daß Sie als Bewohner eines solchen Atoms in ein atomistisches Irrenhaus gesteckt werden würden, wenn Sie behaupten würden, daß sich irgendwelche Phänomene ereigneten. Der Physiker beobachtet nur deshalb eine starke Ausstrahlung von X-Strahlen aus einer Röntgenröhre, weil so viele Atome beisammen sind. Und auf diese Weise ist das, was für den Bewohner des Atoms ein Wunder ist, für den, der eine große Menge Atome beobachtet, kein Wunder mehr. Praktisch verhält es sich mit jeder Erscheinung in der Atomphysik ähnlich.
Ein durch diesen Raum gehender kosmischer Strahl macht hier und dort einem Atom ein Elektron abspenstig und durch die Beobachtung dieser Erscheinung erforschen und messen wir den Strahl. Doch für das einzelne Atom ist dieser Diebstahl eines Elektrons durch einen kosmischen Strahl ein so seltenes Ereignis, daß die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens für irgendein besonderes Atom in der Zeit von sagen wir einem Tag nicht größer ist, als daß jemand von Ihnen bei der gegenwärtigen Bevölkerungszahl der Erde an diesem Tag ermordet werden würde, wenn nur alle dreihundert Jahre ein Mord geschähe.
Und so ist es mit allen Erscheinungen in der Atomphysik. Und doch erzeugen diese wunderbaren Ereignisse in Ihrer Gesamtheit all diese interessanten Dinge, die unsere groben Sinne beobachten. Und für diese groben Sinne gibt es kein Wunder, alles geht glatt und anscheinend genau nach Vorherbestimmung vonstatten.