Der Lehrer vor der Tür
- Sunrise Sommer 2007
Ich habe mir Bodhisattvas immer als freundliche, mitleidsvolle Unterweiser vorgestellt, die die Tore zu spirituellem Wachstum zieren und uns inspirieren und ermutigen. Man sagt, sie seien verpflichtet, auf ihrem Posten auszuharren, bis wir, ihre Schüler, so vollständig wie möglich gereift und entwickelt sind. In meiner Imagination sehe ich Tausende von ihnen – Bodhisattvas aller Abstufungen und Ebenen, die uns helfen, uns zu verfeinern, indem sie uns beistehen, die geschlossenen Tore unseres Denkvermögens zu öffnen.
Es scheint aber auch so zu sein, dass Bodhisattvas eine Kreuzung aus Leuchtturm-Wächtern und Torhütern sind, die uns helfen, wichtige Zugänge zu finden, die vielleicht zunächst unserem Blick verborgen scheinen. Gibt es ein einladenderes Bild als das eines offenen Tors? Schulen und Bibliotheken sind auch offene Portale zu neuen Welten, die uns einladen, ihre Schwellen zu überschreiten, um unsere Reisen der Suche und des Forschens fortzusetzen. Bis zum kürzlichen Blutbad an der Virginia Tech Hochschule, bei dem ein Student 32 Menschen und sich selbst tötete, hatte ich noch nie darüber nachgedacht, wie wertvoll es sein kann, wenn gewisse Tore geschlossen bleiben.
Die theosophische Philosophie diskutiert oft die Wichtigkeit, spirituelle Studien auf eine nicht phänomenale Weise anzugehen. Die Kultivierung psychischer Entwicklung führt allzu oft auf die Pfade der Macht; und mächtig zu werden, bevor wir mitleidsvoll sind, ist gefährlich. Macht ohne Weisheit, Stärke ohne Mitleid – machen uns arrogant und führen uns dazu, für andere Verachtung zu empfinden. Reinheit ist ein Teil unseres spirituellen Weges; hatte ich bislang angenommen, dass Lehrer bisweilen Pforten versperren, so erkannte ich, dass sie das nur tun um uns davon abzuhalten, innere Tore zu öffnen, die für unsere Entwicklung ungeeignet sind. Dieser Gedanke über 4 Sunrise Bodhisattva-Lehrer war mir neu – sie halten Gefahren ab von uns und bewahren uns damit davor, dass wir uns selbst verletzen.
Der Tod von Professor Librescu in Virginia Tech, der durch die geschlossene Tür hindurch erschossen wurde, als er den Eingang mit seinem Körper blockierte, hat für mich Kultsymbolcharakter in Bezug auf den Bodhisattva- Lehrer. Sein Körper und Wesen wurden zu einem buchstäblichen Bollwerk gegen die Gewalt mörderischer Wut – die sich explosionsartig auf die Studenten zu entladen suchte. Er blieb stehen, so dass sie sich in Sicherheit bringen konnten. In der Stimme der Stille erzählt H. P. Blavatsky über einen „Schutzwall“ (S. 127), der erschaffen wurde durch „die angesammelten Anstrengungen von langen Generationen von Yogis, Heiligen und Adepten“, um die Menschheit zu umgeben und zu schützen. Sicherlich hat dieser in Rumänien geborene Holocaust Überlebende geholfen, diesen inneren Wall zu stärken. Sein Opfer erinnert mich an den Mut und die Opfer all der Mitleidsvollen und ich frage mich auch, welche Rolle ich spiele und wie auch ich helfen kann.
In den USA werden täglich mehr als 400 Menschen ermordet – in einem Jahr, in dem die Kriminalitätsrate so niedrig gewesen ist wie in letzter Zeit. Zum Schrecken und der Verzweiflung ihrer Familien und Freunde werden mehr als 400 Seelen unverhofft und schmerzlich aus den irdischen Toren vertrieben. Die Nachrichten sind erfüllt von Kriegen, Gewalttaten und Völkermord, aber ihr Umfang macht es schwierig für uns, sie zu verstehen und uns damit zu identifizieren. Es ist schwierig, unseren Emotionen nicht freien Lauf zu lassen, wenn wir die schrecklichen Ereignisse im Fernsehen betrachten; aber sie könnten uns auch daran erinnern, wie kostbar das Leben ist, und dankbar für seine vielen wunderbaren Ausdrucksformen zu sein.
Im Fall von Virginia Tech ist es einfach, Mitleid mit den Freunden und Familien der Verstorbenen zu empfinden; aber irgendwie müssen wir auch einen Weg finden, den Schützen zu lieben. Es ist schwierig daran zu denken, aber eindeutig sind diejenigen, die schreckliche Taten begehen, selbst in schrecklichen Nöten. Obwohl wir ihre Handlungen verachten und verdammen können, müssen wir eine Methode finden, sie nicht zu hassen, oder wir helfen mit bei der endlosen Fortsetzung des Alptraums, in dem sie gefangen sind. Welche Art von spirituellem Verhungern müssen Killer erleiden, um solche Taten zu verüben? Und nach welcher Antwort wird jetzt verlangt? Hätte der Schütze sich nicht selbst getötet, hätte das zweifellos die Regierung für ihn erledigt. Und was sagt das aus? Was kann die Hingabe des Bodhisattva in solchen Zeiten bedeuten? Vielleicht dass der Schutz des Lebens – sogar das eines Mörders – immer eine heilige Tat ist und dass wir alle als Hüter an vielen Türschwellen stehen.