Sieben Juwelen der Weisheit
- Sunrise 2/1983 Sonderheft: Der stille, schmale Pfad
Ein Mensch sitzt irgendwo allein und denkt nach. Die Szene vor ihm ist vertraut: Die Heimat, die Erde; doch die Gedanken haben Flügel! Sie tragen uns zum Universum des Atoms und zum Universum des Kosmos. Wir sehen uns als ein Universum, das in der Mitte seinen Platz hat. Suchen wir nach verschlossenen Türen, so können wir sie nirgends finden. Überall, wohin wir blicken, sehen wir Bewegung, Weisung, Wille und Intelligenz - also Leben.
Der Denker fragt sich: Warum bin ich hier? Ein Teil von ihm antwortet: Wo könntest du besser tätig sein? Betrachte alle Lebensformen auf Erden. Möchtest du lieber ein Adler sein?, ein Löwe?, ein Schmetterling? oder eine Amöbe? Lache nicht, Herr Denker. Was gibt dir das Recht, anzunehmen, du seiest für "Gott" wichtiger als eines von diesen Lebewesen? Jedes Geschöpf auf Erden nimmt seine Rolle ernst und erfüllt seine Aufgabe, so gut es kann, vom Spinnen eines Netzes bis zum Bau eines Nestes. Doch du möchtest deinen Platz mit keinem dieser niedrigeren Geschöpfe tauschen, nicht wahr?
Wir wollen in dieser Beziehung ehrlich sein und wollen annehmen, daß wir sind, was wir sind - nicht durch eine besondere Gunst des Schöpfers, sondern weil wir das Recht erworben haben, Mensch zu sein. Erworben? Wo fängt das an? Wir können sagen: "Am Anfang." Das bedeutet nur, daß wir auch nicht das Geringste wissen! Ein Sandkorn könnte uns in der Entwicklung voraus sein! Wenn das unserem Gerechtigkeitsempfinden entspricht, dann sollten wir zugeben, daß der Prozeß ein paar Milliarden Jahre dauern könnte, bis das Ziel erreicht ist. Warum nicht? Wir sollten die Zeitfrage nicht an das andere Ende verschieben. Wie wäre es, wenn wir auf dem Weg unseres gegenwärtigen Menschseins noch ein paar Kilometer weitergehen, so weit, bis wir Herr über unsere Probleme geworden sind und darauf warten, unsere Möglichkeiten ausschöpfen zu können, und dann käme jemand und würde sagen, die Straße sei nach der nächsten Biegung zu Ende? Wenn wir kein Ende unserer Zukunft wollen, dann kann auch unsere Vergangenheit keinen Anfang haben!
Natürlich sähe es dumm aus, wenn wir in unserem menschlichen Körper versuchen würden, ein Spinnennetz zu weben. Deshalb kann man annehmen, daß wir dann auch das richtige Werkzeug besäßen, diese Aufgabe zu erfüllen. Wir erwarten von einer Spinne auch nicht, daß sie auf dem Klavier Chopin spielt. Angenommen, wir spielen unser Spiel als Menschen richtig und vollenden diese Runde erfolgreich, wohin gehen wir dann? Die Schleier vor unseren Augen werden weggenommen - wiederum nur durch unsere eigenen Anstrengungen -, und wir werden uns unserer größeren Verantwortung, mit der Natur zu arbeiten, bewußt. Dieser Planet wird nicht für alle Zeit unsere Heimat sein. Warum sollte die Natur eine Unterbrechung in der endlosen Stufenleiter von Intelligenzen, von der Spitze bis zum tiefsten Punkt erlauben? Das ist der Grund, warum die Wahrheit, ein Teil des unendlichen Gedankengebäudes, so reichlich an diejenigen ausgegeben wird, die die Verpflichtung auf sich nehmen können, allen anderen Wesen zu dienen. Nur im Westen herrscht die Vorstellung, daß wir das Wissen auf einem unbeschriebenen Blatt neu aufnehmen. Im Osten ist das Licht des Kosmos und des Menschen für alle da - ausgenommen in jenen Bereichen der Unendlichkeit, in die keine Macht des menschlichen Geistes eindringen kann. Für die Göttlichkeit gibt es keine Begrenzung - nur für alles was jenseits liegt!
Die zeitlose Erfahrung unserer Älteren Brüder - unserer nächsten Glieder in der aufsteigenden intellektuellen und spirituellen Stufenleiter der Wesen - hat einen Schatz von sieben Juwelen gesammelt, Schlüssel, die die geheimen Türen der Natur öffnen und den Menschen in das Herz des Universums führen.
Das erste Juwel haben wir bereits betrachtet: Wiedergeburt. Es ist die Erkenntnis, daß unsere Unsterblichkeit im Selbst unseres Wesens wohnt, das ein Funke des göttlichen Geistes ist - ein Same, wenn man will -, voller göttlicher Möglichkeiten. Es ist unser eigener Same, der durch jede Lebensstufe gehen muß, bis der Mensch die Zügel für sein eigenes Wachstum ergreift und von nun an seine eigene Entwicklung lenkt. Als menschliches Wesen macht er die ersten bewußten Schritte zur Göttlichkeit hin und zum Selbstbewußtsein. Weil das "Denken" (mind) in ihm erweckt wurde, deshalb hat er die Kraft des Verstandes und die Möglichkeit der Wahl.
Das zweite der sieben Juwelen ist Karma, das Gesetz von Ursache und Wirkung. Es ist das Gesetz der Folgerungen genannt worden. Karma ist ein Sanskritwort, abgeleitet von der Wurzel kri, mit der Bedeutung "tun". Es ist einfach eine Tatsache, daß ein Lebewesen, das mit Verlangen, Wille und Verstand begabt ist, nichts tun kann ohne auf andere Lebewesen einzuwirken, die ihrerseits mit Verlangen, Wille und Verstand ausgestattet sind. So entsteht eine Störung, eine Rückwirkung, wenn man will. Die Reaktion, die die Menschen erfahren, nennen wir Freude oder Schmerz, Belohnung oder Strafe, gut oder böse. Wenn wir lernen, in Harmonie mit dem göttlichen Willen zu arbeiten, ist Karma nicht länger ein Hindernis.
Die Region, mit der wir vertraut sind, ist das, was wir durch unsere Sinne wahrnehmen, die physische Welt. In gewissem Sinne ist sie auch die Welt der Wirkungen, der Ergebnisse. Die Ursachen sind dem Blick verborgen, das ist eine Tatsache, die wir gut kennen. Nicht viel von dem, was wir sind, ist äußerlich sichtbar! Dasselbe gilt für die Natur. Sie hat ihre innere Seite. Höhere Wesen sind sehr real, und wir haben keine Vorstellung davon, was sie tun oder was wir ihnen zu verdanken haben. Da der Funke des göttlichen Geistes in allen Dingen vorhanden ist, haben alle Dinge einen gemeinsamen Ursprung. Daher ist es keine phantastische Idee, wenn wir sagen, daß Bruderschaft eine Tatsache in der Natur ist. Der als Gautama bekannte Buddha sagte: "Alle existierenden Phänomene haben ihren Ursprung im Geistigen (mind), Geist (mind) ist ihr oberster Führer, und aus Geist (mind) bestehen sie."
Das dritte Juwel sind die Hierarchien. Dieses Wort erklärt, daß der Kosmos auf jeder Ebene der sichtbaren und unsichtbaren Welten aus endlosen Leben und Bewußtseinspunkten besteht. Alles ist Ordnung, und alles hat seinen Zweck. Vergleicht man das Universum mit einem riesigen "Gewebe" - alle Teile sind gespannt und miteinander verbunden -, dann können wir gut verstehen, daß die geringste Bewegung eines einzigen Fadens von allen Fäden gespürt wird.
Das vierte Juwel ist Svabhâva - "Selbst-Sein" und "Selbst-Werden" -, das hat mit dem Teil von uns zu tun, den wir gern als einzigartig betrachten, unsere todlose Individualität. Man kann es Monade nennen (ein "Eines"), einen Samen, einen Funken oder eine Seele. Nennen wir es unsterbliches Ego. Wenn es uns einmal möglich sein wird, alles auszudrücken, was in diesem Samen eingepflanzt ist, werden wir universal, dann werden wir buddha, "erleuchtet".
Das fünfte Juwel bezieht sich auf die gleichzeitigen, sich ergänzenden, dualen Vorgänge, durch die alles Leben voranschreitet. Zwischen den Polen der Natur - Geist und Materie - besteht ein immerwährender Austausch. Die Evolution besteht darin, daß die niederen Elemente durch die höheren emporgehoben werden. Involution ist der umgekehrte Vorgang, durch den die geistigen Elemente, die in den materiellen Bereichen Erfahrung suchen, sich sozusagen in Materie "einwickeln". Nur durch eine derartige Erfahrung wird die Göttlichkeit erworben.
Das sechste Juwel betrifft den "Augenblick der Wahl" für die eben flügge gewordenen Götter in menschlicher Form. Wenn der Mensch einmal die Spitze der menschlichen Vollkommenheit erreicht hat, erwirbt er das Recht, zu Höhen von unaussprechlicher Seligkeit emporzusteigen. Die Wahl wird dann sein: Da er nun das Recht auf kosmischen Frieden und kosmische Glückseligkeit erworben hat - soll er diese für sich selbst annehmen oder soll er umkehren, sich die Belohnung versagen und als ein Leitstern für alle jene Menschen da sein, die sich noch auf dem dunklen und verschlungenen Pfad abplagen und bis zum letzten Augenblick nicht sicher sind, ob sie das Ziel erreichen können?
Das letzte Juwel der Weisheit, das nur genannt, jedoch nicht erklärt werden kann, ist das letzte Geheimnis: wie das geoffenbarte Universum mit einem goldenen Faden mit der Unendlichkeit verbunden ist; wie das Eine sich zu der Vielheit erweitert, ohne sich zu vermindern.
Es heißt, daß alles Wissen in diesen sieben Juwelen der Weisheit zusammengefaßt werden könne. Die Tatsache, daß wir uns dieses Wissen noch nicht angeeignet haben - und es ist kaum wahrscheinlich, daß das in kommenden Zeitaltern geschehen wird -, bedeutet nicht, daß es nicht vorhanden ist. Echtes Wissen entsteht nur, wenn der die Wahrheit Suchende das, was er sucht, wird. Wenn Wahrheit bedeutet, daß man die Dinge kennen muß, wie sie im Inneren sind, dann müssen wir die Tatsache ins Auge fassen, daß Wahrheit aus Wesen besteht, nicht aus Abstraktionen.
Diejenigen, die diese Lehren - diese geheime Lehre - zeitalterlang beschützt haben, waren immer bereit, sie den Menschen mitzuteilen, die gewillt waren, ihr Leben für die Erhebung der Menschheit zu widmen.
Der Denker überlegt: Wir müssen nur diese Lehren für uns studieren und darüber nachdenken, denn die Weisheit über den Menschen und den Kosmos ist im Universum, das der Mensch ist, enthalten.