Der Lehrer, die Lehren und die Brüder
- Sunrise 2/1983 Sonderheft: Der stille, schmale Pfad
Als ich das buddhistische Glaubensbekenntnis, die "Drei Juwelen" genannt, zum erstenmal las, erkannte ich, daß es die wahre Quelle meines eigenen Glaubens war:
Ich nehme meine Zuflucht zum Buddha;
Ich nehme meine Zuflucht zum Dharma;
Ich nehme meine Zuflucht zum Sangha.
Meine "Zuflucht" war nicht ein äußerer Zufluchtsort oder Schutz, sondern ein inneres Heiligtum, ein heiliger Ort in mir selbst. "Buddha" war nicht eine einzelne Person, sondern ein Vorbild all jener, die ihr Leben dem Ziel widmen, den menschlichen Zustand zu verbessern. Und "Dharma" war nicht eine besondere Lehre, sondern die sich immer mehr erweiternde Vergegenwärtigung, daß alles im Leben, jeder Augenblick, von der Wahrheit durchdrungen ist. Am meisten fand ich meine Zuflucht im "Sangha", in der Vorstellung, daß sich die Menschen, die Menschheit, zu einer bewußten eng zusammenhängenden Einheit gegenseitiger Hilfe entwickelt.
Diese "Juwelen" blieben für mich verhältnismäßig unverändert, bis ich hörte, daß sie moralische Verpflichtungen genannt werden: Pflicht gegenüber dem Lehrer, Pflicht in bezug auf die Lehren und Pflicht gegenüber den Brüdern. Diese vereinfachte Auslegung führt jedoch oft dazu, daß eine der drei Lehren auf Kosten der anderen beiden zu stark betont wird.
Es gibt viele Menschen, für die die Pflicht dem Lehrer gegenüber so wichtig wird, daß sie ihn vergöttern. Einige versuchen, sich sein Gesicht vorzustellen, sie versuchen, seine Stimme zu hören, ihn tatsächlich manifestiert vor sich zu haben; andere trachten danach, daß der Lehrer durch sie spricht oder durch sie handelt.
Dann gibt es diejenigen, die sich ausschließlich den Lehren widmen. Sie werden oft dogmatisch und zitieren Kapitel und Verse, um unnachgiebig die verfochtenen Auslegungen zu verteidigen. Wenn dann die Lehren noch äußere Übungen oder ein Ritual einschließen, kann alles zur bloßen Zeremonie werden, während die eigentliche Bedeutung vergessen wird. Alles, was dann noch übrigbleibt, ist die äußere Form.
Schließlich gibt es noch diejenigen, die kein besonderes Interesse für irgendwelche Lehrer oder Lehren haben. Sie glauben einfach an die universelle Bruderschaft, an die Einheit des Lebens. Sie haben ein aufrichtiges Interesse für andere Menschen, und bemühen sich stets um Gemeinsamkeit, indem sie ihnen ihre Anteilnahme schenken.
Nachdem ich dies alles bedacht hatte, fragte ich mich: Manifestiert sich nicht die wahre Essenz jedes Lehrers in seinen Lehren? Und welchen Zweck hätten die Lehren, wenn nicht den, zu führen, die Richtung zu weisen, den Weg zu zeigen, die Schlüssel zu liefern, durch die jeder von uns die Wahrheit in sich selbst entdecken und mit den anderen teilen kann?
Der Buddha oder ein anderer Lehrer manifestiert sich im Dharma, in den universalen Gedanken, die die Einheit des Lebens und die Würde der Menschheit beschreiben. Sie sind die Prüfsteine, durch die jedermann die Wahrheit in sich selbst erkennen, und anderen helfen kann, dasselbe zu tun. Beide, der Buddha und der Dharma, der Lehrer und die Lehren nehmen in vollem Umfang in unserer aufrechten, bedachtsamen Sorge füreinander Gestalt an.