Der stille, schmale Pfad
- Sunrise 2/1983 Sonderheft: Der stille, schmale Pfad
Alle esoterischen Schulen lehrten als die wahre Grundlage ihrer Existenz: "Mensch erkenne dich selbst!" Das war immer schon so gewesen, und der Schlüssel dazu liegt in vielen Dingen. Er liegt im Studium der Leiden, die die komplexe Persönlichkeit durchmachen muß, bevor ihr verschlungenes Labyrinth der Selbstsucht überwunden ist, und er liegt auch auf einer mehr exoterischen Ebene, im sorgfältigen Studium der erhabenen Schriften vergangener Zeitalter: in der Verstandesarbeit, in der Herzensarbeit, in der Arbeit der Seele, und in der Arbeit der Seher und Weisen aller Zeiten. Den wichtigsten Schlüssel von allem findet man aber in der Bemühung der Liebe für andere, im äußersten Vergessen des eigenen Ich. Darin liegt das Mysterium der Buddhaschaft, das Geheimnis der Sendung Christi: Sich selbst vergessen, Aufgehen in allumfassender, selbstloser, grenzenloser Liebe für alles, was ist.
Manche Menschen glauben, der Pfad auf dem man das spirituelle Ziel erreicht, sei weit weg hinter den Bergen der Zukunft, fast unerreichbar, während in Wirklichkeit eine verhältnismäßig schmale Grenze das gewöhnliche Leben von dem Leben trennt, das der Neophyt oder Chela lebt. Der wesentliche Unterschied liegt in der Lebenseinstellung, und nicht im metaphysischen Abstand. Es ist derselbe Unterschied, der zwischen dem Menschen besteht, der dem Einfluß der Versuchung unterliegt und ihr Sklave wird und jenem Menschen, der der Versuchung erfolgreich widersteht und ihr Meister wird.
Jeder kann den Pfad betreten, wenn sein Wille, seine Hingabe und sein Streben darauf gerichtet sind, für andere eine größere Hilfe zu sein. Das einzige, was ihn daran hindert, den wunderbarsten Schritt zu tun, sind seine Überzeugungen, seine psychologischen und mentalen Vorurteile, die ihm ein verzerrtes Bild vermitteln. Wir alle sind Lernende, wir alle haben Illusionen. Selbst die Mahatmas und Adepten haben Illusionen, wenn auch von außerordentlich subtiler und erhabener Art, die sie daran hindern, noch höher zu steigen - und das ist einer der Gründe, warum sie so mitleidsvoll zu jenen sind, die sich bemühen, denselben erhabenen Pfad zu beschreiten, den sie in früheren Zeiten erfolgreich vorangegangen sind.
Der schnellste Weg, diese Illusionen zu überwinden, ist, sie an der Wurzel zu packen, und diese Wurzel ist Selbstsucht in ihren tausendfachen Formen. Sogar das Verlangen nach Fortschritt, wenn es nur das eigene Ich betrifft, beruht auf Selbstsucht, und diese bringt wiederum ihre eigenen feinen und mächtigen Mâyâs hervor. Daher wird jeder Ehrgeiz, Erfolg zu haben, unvermeidlich zur Niederlage führen, wenn das Streben nicht von allem Persönlichen gereinigt ist, denn der Weg zum inneren Wachstum ist Selbstvergessen und besteht darin, jeden persönlichen Ehrgeiz und alle persönlichen Ambitionen aufzugeben und ein unpersönlicher Diener für alles, was lebt, zu werden.
Selbstüberwindung ist der Weg des Wachstums. Die ganze Wahrheit ist in diesen einfachen Worten enthalten. Es ist ein langsames Wachstum, wie bei allen großen Dingen, und wenn es Erfolg haben soll, muß der Mensch sich selbst entfalten. Es gibt keinen anderen Weg als den der inneren Entwicklung. Das ist kein leichter Weg. Wenn jemand sich in den alltäglichen Dingen des Lebens nicht beherrschen kann und nicht weiß, wer oder was er ist, dann kann er auch die Ereignisse und Erfahrungen nicht beherrschen, die unweigerlich auf jeden zukommen, der vorwärtsgeht, wenn auch in geringem Maße, und sich dem "engsten aller Tore" nähert.
Es liegt ein seltsamer Widerspruch darin, daß jemand, der Herr seiner selbst werden möchte, äußerst selbstlos werden muß, und doch durchaus er selbst sein muß. Das niedere Selbst muß ausgelöscht werden - nicht getötet, sondern ausgelöscht, was bedeutet, von dem Höheren Selbst eingesogen und absorbiert zu werden, denn das Höhere Selbst ist unser essentielles oder wirkliches Wesen, und das niedere Selbst ist nur ein Strahl davon - sozusagen besudelt, verunreinigt, denn es wird von dieser Welt der tausendfachen Illusionen angezogen.
Wir dürfen jedoch nicht annehmen, daß Entsagung und Opfer - weil diese Worte so oft gebraucht werden - den Verlust von etwas Wertvollem bedeuten. Im Gegenteil, es ist kein Verlust, sondern ein unbeschreiblicher Gewinn. Die Dinge aufzugeben, die uns herabwürdigen, die einen Menschen erniedrigen, unbedeutend und kleinlich machen, bedeutet, daß wir unsere Fesseln abwerfen, frei werden, und den Reichtum des inneren Lebens gewinnen, daß wir vor allem selbstbewußt unsere essentielle Einheit mit dem All erkennen.
Bei keinem Schritt auf diesem erhabenen Pfad gibt es irgendeinen äußeren Zwang. Es gibt nur den edlen Zwang, der aus der sehnsuchtsvollen Seele des Aspiranten kommt, immer weiter und weiter nach innen und nach oben zu gehen. Am Anfang wird jeder Schritt dadurch gekennzeichnet, daß man etwas überwunden hat, daß man einen Teil der persönlichen Fesseln und Unvollkommenheiten, die uns an diese materiellen Bereiche ketten, fallengelassen hat. Immer wieder wird uns mit Nachdruck gesagt, daß die erhabenste Lebensregel darin besteht, in uns selbst unsterbliches Mitleid mit allem, was ist, zu hegen. Dadurch wird man selbstlos, und die wandernde Monade ist schließlich imstande, das Selbst des kosmischen Geistes zu werden, ohne daß die Monade ihre Individualität verliert.
In dem soeben Dargestellten liegt das Geheimnis des Fortschritts: Um größer zu sein, muß man größer werden; um größer zu werden, muß man das Geringere aufgeben; um ein Sonnensystem im eigenen Denken und Leben zu umfassen, muß man die Grenzen der Persönlichkeit, das, was nur menschlich ist, aufgeben, was heißt, sie zu überwinden und darüber hinauszuwachsen. Indem man die Bereiche des niederen Selbst aufgibt, geht man in die Bereiche des größeren Selbst, in die Selbstlosigkeit ein. Niemand wird einen einzigen Schritt dem größeren Selbst, das bereits seine eigene höhere Natur ist, entgegengehen, ehe er nicht lernt, daß "für sich selbst zu leben" das Hinabgehen in noch dichtere und begrenztere Sphären bedeutet, und daß "zu leben für alles, was ist", bedeutet, daß sich die eigene Seele für dieses größere Leben erweitert. Alle Mysterien des Universums liegen latent in uns, alle seine Geheimnisse sind dort zu finden, und jeder Fortschritt in esoterischer Erkenntnis und Weisheit ist nur ein Entfalten dessen, was schon im Inneren vorhanden ist.