Gebunden sein – frei sein
- Sunrise 1/1983
"Keine Religion ist höher als die Wahrheit", war ursprünglich das Motto des Maharadschas von Benares, und wurde vor mehr als hundert Jahren von den Gründern der Theosophischen Gesellschaft zum Leitspruch gewählt. Noch heute ist er so alarmierend und herausfordernd, wie er damals gewesen sein muß. Was bedeutet er? Nichts weiter, als daß beide, Religion und Wahrheit, den gleichen Wert besitzen? Oder bedeutet er mehr?
Im Wörterbuch steht, daß das Wort Religion vom lateinischen religare abgeleitet ist, das zurückhalten oder festbinden bedeutet und darauf hinweist, daß es etwas Formales, Vorgeschriebenes oder Geregeltes gibt, das wir beachten müssen. Religion bedeutet aber auch die Annahme eines Ideals und die Hingabe an ein Ideal als Lebensbasis. Die Hingabe an ein Ideal garantiert jedoch noch nicht, daß man dadurch irgendwelche Anzeichen von Heiligkeit aufweist oder über größere Kenntnisse der Wahrheit verfügt. Wir müssen wohl in zahllosen Leben darauf hinarbeiten und uns darum bemühen, wenn wir "wie die Wahrheit werden wollen."
Das alte Sprichwort: "Die Wahrheit wird euch freimachen", könnte sehr wohl ein Hinweis sein. Man könnte sich vorstellen, daß wir von einem Ideal, von einer Religion oder von einer Ethik "zurückgehalten" oder in Schach gehalten werden, bis wir dieses Ideal geworden sind und dadurch in Wahrheit frei werden; denn, wenn wir die Wahrheit sind, werden wir nicht länger von ihr gebunden. Wie geheimnisvoll ist diese großartige Wahrheit, die jedoch immer da ist und frei zur Verfügung steht. Man könnte sie als den Grundstoff der Natur betrachten, aus dem wir ein dauerhaftes Gefüge, unser eigenes Seelengebäude bauen können. Aus der Geschichte kennen wir einige Menschen, die, als sie wie die Wahrheit wurden, voller Mitleid, in rechtem Tun und mit spiritueller Weisheit lebten.
Mit der Wahrheit ist es wie mit einem Fluß, der fortwährend in Bewegung ist, man kann sie nicht in der hohlen Hand halten, und dennoch bleibt sie trotz ihrer flüchtigen Formen das dauerhafteste Prinzip, von dem wir nur hoffen können, daß wir es erkennen - eine universale Essenz, die in den Formen enthalten ist, wie der Sauerstoff, der alles Lebende durchdringt. Wenn wir der Wahrheit dienen wollen, ist es wichtig, daß wir die Fragen stellen, deren Beantwortung unsere Entscheidungen und Verpflichtungen bestimmen können. Tun wir das nicht, so bedeutet das, daß wir unser Recht auf Selbstbestimmung beim Suchen nach Erleuchtung aufgeben. Wenn wir dieses Recht und die Verantwortung selbst zu denken, Teilwahrheiten zu prüfen und kennen zu lernen, aufgeben, dann öffnen wir uns den Schmeicheleien oder Einflüssen irgendeiner "unfehlbaren" Autorität. An einem Altar, der nicht von unserer Seele geschaffen wurde, Zuflucht zu suchen, bedeutet, Echtes durch Autorität zu ersetzen, den Fortschritt der Seele zu blockieren und die menschliche Entwicklung zu verraten.
Die Aufforderung heißt: Herrschaft über uns zu gewinnen, so daß das Niedrigere in uns vom Höheren geführt wird. Da wir die Fähigkeit besitzen, Werte, Grundsätze und Vorgänge einzuschätzen, sind wir in der Lage, zu wählen. Der menschliche Geist ist beflügelt, fähig, hoch über das Irdische aufzusteigen. Aber wir müssen auch wachsam sein und eine richtige Einstellung zur Realität haben, sonst wird der Geist durch Blendwerk umnebelt und sein Höhenflug vereitelt.
Die Wahrheit muß stets höher bewertet werden als die Formen, die vorgeben, sie zu enthalten. Schon allein dieses Wissen ist ein Schutz gegen den Dogmatismus, der, auch wenn er ein Bruchstück der Wahrheit besitzt, den Anspruch erhebt, die ganze Wahrheit zu kennen. Es ist wie mit einem Blinden, der den Schwanz eines Elefanten anfaßt und behauptet, es sei eine Schlange. Jeden Tag gibt es Gelegenheiten, unsere Sicht zu erweitern, um in unserem Inneren ein immer größer werdendes Verständnis für die höhere Ordnung des menschlichen Geschicks zu errichten. Wir sind die Vermittler, die die Weisheit des grenzenlosen Kosmos von der Möglichkeit zur Verwirklichung bringen. Wir können, wenn wir wollen, uns in das Gewand der Göttlichkeit kleiden.