Geburt, das außergewöhnlichste Wunder
- Sunrise 2/1982 Sonderheft: Schlaf, Tod und Wiedergeburt: Pforten des Lebens
Wir wissen, daß überall im Universum der große Zyklus von Geburt, Reife, Alter, Tod und Wiedergeburt alle lebenden Dinge beherrscht, und daß alle Dinge leben. Wie können wir dann aber behaupten, die Geburt sei wunderbar oder außergewöhlich? Vielleicht sollten wir noch einmal die Bedeutung der beiden Wörter betrachten: Wunder oder Mirakel, abgeleitet von dem Verb mirare, "sich wundern", und definiert als ein Ereignis, das bekannten Ursachen nicht zugeschrieben werden kann; es ist ungewöhnlich, genaugesagt "einzigartig".
Ist es nicht etwas Wunderbares, wenn ein Kind geboren wird? Ist jedes Wiedereintreten in die Welt, um die Reise in einem physischen Körper wieder aufzunehmen und die Bestimmung für jenen Teil des großen Zyklus zu erfüllen, nicht einzigartig? Bestimmt muß jeder, der bei der Geburt eines Menschen miteinbezogen ist, tief im Innern empfinden, daß es ein Wunder ist.
Wenn wir über die Mysterien von Geburt und Tod mit offenen Herzen und Augen nachdenken, kommen wir den Wahrheiten über das Leben und über die Lebewesen näher, und zwar mehr intuitiv als intellektuell. Wer hat jemals ein neugeborenes Baby angeschaut, ohne überzeugt zu sein, daß mehr damit verbunden ist als nur der physische Vorgang der Fortpflanzung? Wenn man unmittelbar nach der Geburt in die Augen eines Kindes blickt, wird ein Kontakt hergestellt, das Kind sieht etwas - vielleicht mit dem geistigen Auge, aber auch mit der physischen Sehkraft. Da ist etwas vorhanden, das zu sagen scheint: "Ich bin so alt wie die Zeit, ich bin wieder da." Es geht zwar schnell vorüber, und in den Armen hält man einen kleinen, wehrlosen, kindlichen Körper; aber das, was für einen Augenblick vorhanden gewesen ist, war nicht schwach oder hilflos, oder blind. Es war es selbst.
Es trifft zu, daß die Wissenschaft so manche Information über den Formungs- und Entwicklungsprozeß des physischen Körpers gibt. Nicht unbedeutender ist die Tatsache, daß die Materie, die zur Bildung des Fötus benötigt wird, dem Universum entzogen wurde und das Vehikel eines bestimmten Typs aufbaut. Die besonderen charakteristischen Merkmale werden aus dem "Genvorrat" der Eltern ausgewählt. Die Wissenschaft kann uns aber nicht sagen, warum das hereinkommende Wesen gewisse Charakterzüge und Eigenschaften auswählt, die zur Erfüllung seiner Bestimmung in jenem besonderen Körper notwendig sind. Hier kommen wir in ein Gebiet, wo die Ursachen unbekannt sind, und daher folgerichtig in eine Aera des anscheinend Wunderbaren. Die Wissenschaft weiß nichts über den Geist, der in jenem Körper wohnen will. Hier spielen andere Ursachen eine Rolle, die für die materielle Analyse nicht zugänglich sind.
Wenn wir uns mit jenen "anderen Ursachen" beschäftigen, können wir uns dem alten wohlbekannten philosophischen Werk Indiens zuwenden, der Bhagavad-Gîtâ, in welcher der Unterschied zwischen dem Körper und seinem geistigen Bewohner sehr gut erklärt wird. Im 13. Kapitel spricht Krishna in seiner Eigenschaft als Lehrer über die Bedeutsamkeit der Unterscheidung zwischen den beiden als Basis weisen Handelns, indem er sagt:
Dieser vergängliche Körper, oh Sohn Kuntîs, wird Kshetra [Feld] genannt. Jene, welche mit der wahren Natur der Dinge vertraut sind, nennen die Seele, welche sie kennt, den Kshetrajna [Kenner des Feldes]. Wisse also, daß ich der Kenner in jedem sterblichen Körper bin. ...
Im 15. Kapitel spricht Krishna als der höchste Geist, von welchem jede Manifestation kommt und zu welchem diese wieder zurückkehren wird, von der Einheit, welche die Quelle und der Erhalter von allem ist:
Es ist immer ein Teil meiner selbst, welcher das Leben in dieser Welt der bedingten Existenz aufgenommen hat und die fünf Sinne und den Verstand hervorbrachte, damit sie einen Körper erhalten und ihn wieder verlassen können. Und jene werden von dem Höchsten Herrn zu dem Körper hin, oder von ihm zurückgebracht, den er betritt oder verläßt, so wie die Brise den Duft der Blume hinwegträgt.
"So wie die Brise den Duft hinwegträgt ..." - welch schöne und poetische Art, die besondere Essenz zu beschreiben, die jedes einzelne Wesen ins irdische Leben bringt, die alles zusammengetragen hat, was für seine Erfahrung in dieser "Welt der bedingten Existenz" notwendig ist. Die Ursachen, die die physische Geburt zur Folge haben, sind in der fernen Vergangenheit verwurzelt, Ursachen, die durch jenes Wesen selbst hervorgerufen wurden. Sie sind in seiner Geburt und in seinem gegenwärtigen Leben, wo es auf die Bedingungen trifft, die es für sich selbst geschaffen hat, zur Reife gekommen. Jedes Wesen kommt mit seinem eigenen karmischen Erbe, dem seltsamen Gewebe von Aktion und Reaktion, das es für sich selbst gewoben, selbst geschaffen hat, aber mit den Strömen von Egos und Lebewesen, die seine Gefährten sind, in gegenseitiger Beziehung stehend und aufeinander einwirkend.
Im allgemeinen denken wir, eine menschliche Geburt sei nur für eine kleine Familiengruppe von Bedeutung und berühre nur sie. Gelegentlich wird jedoch auch ein Kind geboren, das eine größere Wirkung auf seine Mitmenschen ausübt, das ein Führer, ein Schöpfer neuer Ideen, ein Lehrer sein wird. Doch was ist mit den anderen? Was ist mit jenen Kindern, die geboren werden, heranreifen, sterben und nur wenigen bekannt sind? Auch sie haben ihren Platz in dem überschäumenden Lebensfluß gehabt, den kein anderer hätte einnehmen können. Den Beweis kann man sogar in der physischen Welt erbringen. Wenn der Fötus durch die Vermittlung der Mutter die Substanz für seinen Körper den Sternen entzieht, wird da nicht etwas in den weiten Bereichen des Raumes beeinflußt? Diese Tatsache allein sollte zeigen, daß in einem Universum der Aktion, Reaktion und gegenseitigen Beeinflussung das Ereignis einer Geburt, ob groß oder klein, Kind oder Kosmos, das Ganze beeinflußt. Nichts ist belanglos, nichts ist ohne Beziehung, nichts ist allein oder abgesondert.
Ein Kind ist also beides, einzigartig und wunderbar, ein Kind seiner Eltern, ein Kind des Universums. Es ist Bruder oder Schwester für die Mitglieder seiner menschlichen Familie, in Wahrheit aber ist es Bruder und Schwester für alle Wesen. Es ist ein Ausdruck sowohl von der Einheit aller Dinge als auch von dem individuellen Teil - mit Krishnas Worten "Bewahre dieses mein göttliches Geheimnis ..."