Das Problem, ein unvollkommener Gott zu sein
- Sunrise 3/1981
Ein unvollkommener Gott - den Worten nach offensichtlich ein Gegensatz -, denn wenn man ein Gott ist, wie kann man dann unvollkommen sein, und wenn man unvollkommen ist, wie kann man dann ein Gott sein?
Dennoch ist jeder von uns in einem vorausahnenden Sinn eine Gottheit, und gewiß ist jeder von uns unvollkommen. Damit könnte man die Angelegenheit auf sich beruhen lassen, wenn sie nicht viel komplizierter wäre. Anscheinend sind wir in unserem Wachstumsprozeß nicht damit zufrieden, es dabei bewenden zu lassen und der Göttlichkeit zu erlauben, gerade das zu sein, was sie ist, in ihrer eigenen Größe und in ihrem Glanz sich selbst genügend. Wir verspüren vielmehr häufig einen unwiderstehlichen Drang, Einfluß und Kontrolle über das Leben anderer auszudehnen. Woher kommt das?
Wir alle bemühen uns mit Liebe, Fürsorge und Zuneigung um andere. Wir wünschen ihnen Gutes, es tut uns weh, wenn sie Schmerz empfinden, und wir versuchen, ihre Pein zu lindern. Diese Gefühle entstehen ganz natürlich aus unserer Liebe, unserem Pflichtgefühl und auf Grund unserer Menschenliebe. Derartige Reaktionen stärken den einzelnen und die gesamte menschliche Bruderschaft. Leider entwickelt sich das häufig zu einer übertriebenen Haltung und wird zum Protektionismus oder führt zur Übernahme der Verantwortlichkeiten oder der Gelegenheiten eines anderen, denn versteckt in den unerforschten Tiefen unserer Natur bestimmen andere Beweggründe unser Handeln oft unter dem Banner der Liebe, der Pflicht, der Fürsorge und der Zuneigung. Es kann sein, daß wir, wenn wir eine Schwierigkeit gemeistert haben, gern als Erretter ausgezeichnet werden möchten. Vielleicht schaffen wir sogar ab und zu Schwierigkeiten, nur, um der Held zu sein, der sie meistert. Vielleicht gefällt uns auch die Abhängigkeit, die entsteht, wenn wir einen anderen überwachen und ihn von unserer Unterstützung abhängig machen, indem wir ihm die Übung vorenthalten, die für ihn notwendig ist, wenn er die Stärke gewinnen soll, selbständig zu werden. Vielleicht schiebt sich das Ich geräuschlos dazwischen und sagt: "Nur ich kann es gut oder richtig tun"; dabei kann die Richtigkeit dieser Behauptung kaum jemals bewiesen werden.
Es scheint, als ob Macht und Herrschaft oft um ihrer selbst willen geschätzt und häufig mit Führerschaft verwechselt würden. Führerschaft schließt Gefolgschaft ein; und Gefolgschaft erfordert Nachfolge im Handeln. Wenn man die Pflicht eines anderen tut oder die Verantwortung eines anderen übernimmt, so beraubt man ihn der Möglichkeit, ein Gefolgsmann zu sein, weil für den Nachfolger keine Handlung mehr übrigbleibt, die er tun könnte. Wäre es möglich, daß einige von uns glauben, daß wir Liebe, Respekt, Bewunderung und Zuneigung kaufen können, indem wir so viel - zu viel - für andere tun? "Zuviel" bedeutet im Übermaß, und indem wir übertreiben, vermindern wir das Recht und das Vorrecht eines anderen, sich seinem Leben ganz zu stellen.
Es ist schwer, die Trennungslinie zwischen dem Richtigen und dem Falschen zu erkennen, wenn wir nur unvollkommene Götter sind, denn das ist ein Teil des Unvollkommenseins. Vielleicht besteht die Straße zur Vollkommenheit weniger darin, daß wir die Rolle Gottes spielen, als vielmehr darin, daß wir der Göttlichkeit anderer erlauben, ihrer eigenen Herausforderung zu begegnen. Dann wird unser echter Mut und unser echtes Mitleid geprüft werden, wenn wir - während alle unsere Liebe bereit zur Hilfe hervortritt - beiseite stehen und dem anderen die Möglichkeit geben, seiner eigenen Herausforderung und seiner eigenen Gelegenheit entgegenzutreten, seine eigenen Dämonen zu bekämpfen und dadurch stärker zu werden, weil er diese Gelegenheit hatte.