Eine verlorene Kunst
- Sunrise 3/1981
Wie wenig beobachten wir doch die Einzigartigkeit der Natur. Unserer Aufmerksamkeit, die von einem Gegenstand zum anderen springt, gelingt es nicht, die Gesetzmäßigkeit und die ineinandergreifenden Beziehungen zu erfassen, die zusammenwirken, um unsere große Mutter zu gestalten. Ein Baum, eine Wasserwelle oder ein Insekt sehen für uns aus, wie unzählige andere auch. Nur wer bereit ist, sich gänzlich zu versenken, wird in ihre Geheimnisse eingeweiht und erkennt nach und nach deutlich ihre besonderen inneren und äußeren Merkmale.
Ein Gespräch mit einem der wenigen noch lebenden Navigatoren der Marshall-Inseln, das am 3. Februar 1977 veröffentlicht wurde, zeigt, daß zu allen Zeiten eine solche genaue Kenntnis irgendeiner bestimmten Seite der Natur stets der schwer errungene Preis für einige gut ausgebildete Auserwählte war. Die Marshall-Inseln, die 2200 Meilen westlich von Hawaii liegen, besaßen die besten Seefahrer des Pazifischen Ozeans. Es waren Männer, die mit riesigen Auslegerbooten manchmal tage- und wochenlang ohne Navigationshilfe über die offene See segelten. Tarkwon, 78 Jahre alt, gehört zu den letzten, die ohne Kompaß oder Sextanten segelten. "Es waren hauptsächlich die Wellen - aber auch die Sterne, die Wolken, die Strömung, die Winde, die Vögel, die Götter und die Magie", so berichtete er Charles Hillinger von der Los Angeles Times. Jede Welle, "Ost, West, Süd, Nord", hatte einen Namen, und Seefahrer wie Tarkwon konnten sie lesen, wie wir eine Straßenkarte lesen würden. Er sagte:
Jede Insel schickt unterschiedliche Wellen von unterschiedlicher Höhe zurück. Wellen, die sich um die Inseln und Atolle legen, wie die Linien der Fingerabdrücke. Wellen, die in einer ganz bestimmten Art an Land prallen und zurückkommen. Wir Steuermänner kennen jedes Wellenmuster, erkennen jede einzelne Insel an ihren Wellen. Setzen Sie mich irgendwo aus, in irgendeinem Ozean, so weit vom Lande entfernt, wie es Ihnen möglich ist, und ich werde auf dem schnellsten und kürzesten Wege Land finden.
Schon mein ganzes Leben lang spüre ich die Wellen in meinem Körper. Hier fühle ich die Wellen mit jedem Atemzug, den ich mache. Ich nehme die Wellen in meinen Träumen wahr.
Wir Seeleute bauten unsere Boote selbst und überwachten die Konstruktion der Auslegerboote, die dreißig - vierzig Fuß lang waren. Vor [meiner] Zeit hatte mein Volk Kanus, die mehr als 100 Fuß lang waren.
Man braucht über ein Jahr, um ein Boot zu bauen. Meine Werkzeuge zum Aushöhlen der Stämme des Brotfruchtbaumes waren die scharfkantigen Mundöffnungen der riesigen Venusmuscheln, die an den Felsen in der Brandung geschärft waren. ...
Das Wissen der Seefahrer wurde von einer Generation zur anderen an ein paar Auserwählte weitergegeben. Diese Geheimnisse behielten wir für uns. Wir Seefahrer standen bei den anderen Inselbewohnern in hohem Ansehen, denn wir allein kannten die See.
Wir schafften es immer, von einer Insel zur anderen. Die Wellen ließen uns nie im Stich, wir waren niemals hilflos auf dem Meer. ...
Es ist wirklich traurig, die Schiffahrt auf alte Weise, das Segeln mit Hilfe der Wellen, ist eine verlorene Kunst.
Es brauchte Jahre, um unser Können als Seefahrer zu erlernen. Die älteren Seeleute suchten sorgfältig und lange - manchmal jahrelang -, um ihren Nachfolger zu finden, einen Jungen, der auf See die Wellen kennenlernen sollte, dem sie die Geheimnisse des Meeres anvertrauen wollten.
Man braucht Jahre, um die Wellenformen zu erkennen, zu lernen wie man die richtige Welle findet, die einen dahin bringen soll, wohin man fahren will.
Nach meiner Generation wurde es durch den Gebrauch des Kompasses und des Sextanten viel einfacher. Niemand wollte sich mehr die Zeit nehmen, das Meer so kennenzulernen, wie ich es in meiner Jugend getan habe, und wie alle anderen Seefahrer vor mir es taten.
So geschieht es oft mit dem traditionellen Wissen. Es wurde vom Meister an den Schüler weitergegeben, bis keine geeigneten Schüler mehr gefunden wurden, die bereit waren, das Wissen eines Lebens, vieler Leben, weiterzutragen. Wenn dereinst dieses zarte Gewebe aus Lernen und Erfahrung verschwunden ist, können wir nur noch mit Staunen auf die Leistungen jener, dann schweigenden Kulturen blicken, ohne zu verstehen, welche Wege sie einschlugen, um zu ihrem Erfolg zu gelangen. Wir fragen uns, ob derartige Leistungen vielleicht doch nur als Stoff für eine Legende dienten, oder wir stellen fest, wie unwahrscheinlich es ist, daß auf solche Weise derartige Ergebnisse erzielt wurden. Mit jeder neuen Erkenntnis werden jedoch neue Fenster zur Welt geöffnet, so daß durch menschliches Forschen und Suchen die feine Schrift der Natur erkannt und gelesen werden kann. Allein zu wissen, was erreicht werden kann, wird uns vielleicht dabei helfen, die richtige Welle zu finden, die uns dahin bringt, wohin wir wollen.