Natur, die mächtige Mutter
- Sunrise 2/1981
Ich habe über die blauen Wasser des Pazifik geschaut und die Sonne beobachtet, wie sie über den Bergen aufging. Ich habe dem Gesang der Spottdrosseln gelauscht, und die Schönheit der erwachenden Welt erschien mir wie ein Wunder, weil alles auf die verborgenen Harmonien des Lebens hinwies. Dann dachte ich an die Menschen und fragte mich, was wohl geschehen würde, wenn der Schleier der äußeren Erscheinungen vor unseren Augen herabfiele und die Großartigkeit des Gesetzes offenbar würde. Wir würden bewegungslos stillstehen, im Innersten durchschauert von der Großartigkeit und der Fülle seines Mitleids.
In der fernen Vergangenheit gab es eine Zeit, in der die Menschen in Gedanken und Taten ein reines Leben führten und kaum Selbstsucht kannten. Sie machten die Erfahrungen in ihren Inkarnationen ohne durch Selbstsucht gefesselt oder beeinflußt zu sein, wie es heute der Fall ist. Sie verstanden es besser ihr Leben zu führen, als wir heute. Da gab es keinen Wirbel und keine Eile um nebensächliche Dinge. Sie lebten mehr im stillen und waren mit dem Besten und Edelsten verbunden. Die Erhabenheit des spirituellen Lebens war offenbar, und das menschliche Bewußtsein war von tiefer Verehrung für die Natur und für die Wahrheit erfüllt. Sie verstanden damals auch besser mit der Natur zu arbeiten und fanden in ihr etwas, das die modernen Menschen noch nicht erkannt haben.
Wie viele sind denn heute mit ihrem Leben zufrieden oder wissen, woher sie kamen als sie geboren wurden oder wohin sie nach dem Tod gehen. Und doch liegt in unserem Herzen und im göttlichen Gesetz eine Verheißung, daß die Menschen das, was sie gewesen sind, wieder sein werden, und daß wir alles wiederbekommen werden, was wir aufgegeben haben.
Vor langer Zeit verloren wir die Verbindung mit der Mächtigen Mutter Natur, und nun haben die meisten von uns das Bedürfnis, wieder zu ihr in ihre Wälder oder auf ihre Bergspitzen oder ans Meeresufer zurückzukehren, um an ihren stillen Plätzen unsere Seele wieder zu finden, und zu erfahren, daß die gesamte materielle Welt auf die spirituelle Berührung reagiert. Jenseits von Hören, Sehen und Denken gibt es allumfassende Gesetze, die unser Leben beherrschen. Göttliche Gesetze halten uns in ihrer Obhut, und unmittelbar hinter dem Schleier der sichtbaren Dinge, nur ein wenig hinter dem Bewußtsein unserer sterblichen Selbste, sind höhere Kräfte zu unserem Besten am Werke.
Sie sprechen zur Seele, um den Weg erkennbar und schön zu machen. Sie machen sich uns stets bemerkbar durch den strahlenden Sonnenhimmel und das Sternenlicht. Die wunderbare Stille der Natur verkündet uns jederzeit die Größe der Welt und den verborgenen Adel des Menschen, so daß derjenige, "der Ohren hat zu hören", nie allein ist, weder in der Wüste noch in den tiefsten Höhlen der Erde, auch nicht unter einer noch so schweren Bürde des Leides. Der Mensch ist niemals verloren, weder in weiten unbewohnten Gegenden oder in einem steuerlosen Boot auf offener See, noch am Ende der Welt aller erschaffenen Dinge und weit entfernt von anderen Menschen. Stets würde er das Himmelreich mit sich tragen und in seinem Herzen alle Offenbarungen finden können, nach denen sich die Menschen sehnen.
Es ist die spirituelle Botschaft, nach der die Welt ruft, eine Offenbarung des göttlichen Geistes im Menschen, durch die wir erkennen können, daß das Licht anbricht und neue Sterne strahlen, daß die Dinge, die wir nicht sehen, größer sind als die, die wir sehen, daß die Natur äußerst gerecht ist, und daß in diesem riesigen, alles umfassenden Plan des Seins kein einziger Gedanke, keine einzige Bemühung, nicht die kleinste Anstrengung verloren geht oder nutzlos ist.
Ihr, die ihr verzweifelt seid, die ihr wenig Glauben an euch selbst habt, oder wenig Hoffnung auf morgen und Vertrauen, daß ihr eure Verhältnisse meistern könnt, sucht Hilfe bei der Großen Mutter Natur. Schaut hinauf in den blauen Himmel oder zu den Sternen und holt euch aus dem Himmelsäther die Kraft ihres universalen Lebens, und dann prüft euch selbst und seht, daß ein Großteil eures Leides euch betroffen hat, weil ihr nicht bereit gewesen seid zu leiden. Im Leid erlangen wir die Schätze an Erfahrung. Jeder echte Gewinn muß durch Schulung gewonnen werden. Ganz gleich wie die äußeren Erscheinungen auch sein mögen, wir können sie willkommen heißen, weil sie die stärkere Seite in uns herausfordern.
Wir können niemals Erfolg haben, wenn wir nicht mit der Natur zusammenarbeiten, die halbherzige Dienste nicht annimmt. Wir bekommen keine Antwort, wenn wir sie nur in Augenblicken der Not oder der Enttäuschung anrufen und ihr dann wieder untreu werden und uns abwenden. Für jene, die es nicht wirklich ernst meinen oder die gleichgültig sind, hat sie nichts übrig. Sie reagiert nur auf diejenigen, deren Sinne für die höchsten Ziele aufgeschlossen sind.
Erst wenn sich unsere Gedanken dem Besten und Edelsten zuwenden, erhalten wir von ihr Antwort, und aus den großen, dunklen Begleiterscheinungen des Lebens dämmert die Erleuchtung des inneren Menschen, wenn die Seele sprechen wird. Und wir, die im Schatten unserer Angelegenheiten und unserer Schwierigkeiten stehen, werden erkennen, daß göttliche Gesetze regieren, und daß die Natur durchaus freundlich ist und die Menschen ebenso sein könnten, denn alles Streiten und Kämpfen und Zweifeln ist durchaus unnötig. Könnten wir uns selbst vertrauen, dann sollten wir unseren Nachbarn vertrauen; könnten wir unseren Nachbarn vertrauen, dann sollten wir auf das göttliche Gesetz bauen.
Das Geheimnis des Lebens ist unpersönliche Liebe. Unpersönlichkeit brauchen wir heute dringend. Durch Unpersönlichkeit gelangen wir zu den Geheimnissen der Mystischen Mutter. Wenn wir den Gedanken an einen persönlichen Gott fallenlassen und unsere Persönlichkeit mit all ihren Beschränkungen und Zweifeln beiseite stellen, wenn wir unsere Gedanken über uns selbst hinaus in die universale Ordnung erheben und aus der innersten Tiefe unseres Bewußtseins das Universum in all seiner Erhabenheit betrachten, wenn wir uns selbst emporheben, dann erkennen wir in uns größere Dinge als wir uns je träumen ließen und nähern uns unendlich schönen und reichen Inspirationen. Dann stellen wir Fragen über ihre Bedeutung und den Sinn all dieser grenzenlosen Rhythmen von Gesetz und Ordnung, die die Unendlichkeit des Raumes erfüllen. Wir werden ihre Antwort erhalten, und wir werden das Universum als die natürliche Entwicklung, als den Ausdruck eines gewaltigen, allumfassenden Planes sehen, der von einer inneren Quelle ausgeht, die unser Verständnis übersteigt - dem Urquell, dem Zentrum, dem unerkennbaren absoluten Licht, von dem wir ausströmen. Dem Plan des Evolutionsgesetzes folgend gehen wir durch die vielen Leben, die für unser Wachstum bis zur Vollkommenheit bestimmt sind, und wir werden erkennen, daß wir hier sind, um den Zweck des Daseins zu erfüllen.
Es gibt keine Grenze für die Entwicklungsmöglichkeit des menschlichen Lebens und für das Wachstum der Seele - hier auf dieser Erde. Die Natur ist durch und durch gütig, die universalen Gesetze, denen wir unterstehen, sind unbedingt zuverlässig. Der Gott in uns ist immer bemüht, uns zu einem höheren Leben zu veranlassen, das nur zum Wohle der Menschheit gelebt wird. Die menschliche Seele fordert den menschlichen Geist fortwährend auf, zu hören, zu gehorchen und frei zu sein!
Man kann die Seele nicht wie einen Gegenstand beiseite legen, um sie sozusagen eine Zeitlang einzuschließen und dann gelegentlich wieder hervorzuholen. Sie ist der edlere Teil unserer Natur, der jeder Situation gewachsen ist und ihr mit Geduld und Mut begegnet. Die Seele ist die Macht, die oft unvorhergesehen in das Leben des Menschen einbricht und ihn gegen alles Vernunftdenken auf die große breite Straße des Dienens führt. Der Seele muß man Platz und Bewegungsfreiheit geben und die große Entfaltungsmöglichkeit, die sie braucht.
Die Kenntnisse über die Seele erlangt man nicht durch welterschütternde Taten oder auf Zauberwegen. Man kann sie nicht anders erwerben als durch die Hingabe der niederen Natur an den inneren Gott. Es ist ein Wissen, das uns heimlich in der Stille der Nacht und in all den friedvollen Augenblicken erwächst, wenn wir unseren Gefährten dienen und keinen anderen Lohn begehren als den Glanz, der durch die Stille auf den scheint, der sein Bestes getan hat, und den Frieden der Seele, der denen bestimmt ist, die sich abmühen. Es kann durch eine unbedeutende Handlung eintreten, wenn wir unser Bestes tun und uns dem Wahrsten und Edelsten in Liebe öffnen, aber auch, wenn wir verzweifelt sind und uns dennoch an unsere höchsten Ideale und Träume klammern. Etwas überkommt uns und wir sagen: "Mein Wille, der eben noch schwankte, eingeengt und bedrückt war, ist nun frei. Ich kann mit vollständigem Vertrauen dem Morgen und der Ewigkeit entgegensehen."
Dieses Wissen muß im Innersten erweckt werden. Jeder muß es durch eigene Anstrengungen erwerben; es kann nicht durch Worte vermittelt werden. Die größten Seher könnten es nicht erklären, und auch die besten Redner können es nicht verständlich machen. Jeder muß in sich selbst das Licht und den Schlüssel, das Feuer und den erlösenden Impuls finden, die seinen Geist frei und aufnahmebereit machen, so wie die Blumen sich für das Sonnenlicht öffnen.
Wenn jemand jedoch dieses Wissen für sich selbst sucht, dann werden alle seine Anstrengungen umsonst sein. Seine Anstrengung muß für die Errettung aller sein. Er muß sich bewußt sein, daß es auf den inneren Ebenen nichts Getrenntes gibt, daß wir alle Brüder sind, und daß wir unsere Mitmenschen, die anderen Selbste, erst dann verstehen können, wenn wir wirkliches Wissen über unser eigenes inneres Selbst erlangt haben. Wir müssen die feinen und komplizierten Beziehungen und Wechselwirkungen der verschiedenen Teile unseres eigenen Wesens verstehen, bevor wir erwarten können, die Gesetze des universalen Lebens zu begreifen.
In jedem Augenblick eines jeden Lebens kann die Stunde der Offenbarung nahe sein. Dazu ist kein besonderer Zeitabschnitt und keine besondere Jahreszeit nötig; auch nicht der Anfang oder das Ende eines äußeren Zyklus. In den Bereichen unseres Innern, wo der Intellekt keinen Raum hat, wo nur die Imagination ein Wirkungsfeld für ihre Größe hat, berühren wir das Unendliche und stehen am Rande großer Möglichkeiten und Wahrheiten. In den stillen Zeiten unseres Lebens, in den Augenblicken, in denen wir die Erhabenheit ahnen, wenn in uns ein überwältigendes Bewußtsein von der Universalität des göttlichen Lebens und von den göttlichen Möglichkeiten, die im Menschen latent vorhanden sind, wach wird, wenn die große Natur uns Botschaften unseres inneren Gottes zuruft, dann spüren wir die Nähe, die Gemeinschaft mit IHM (THAT), was zu erklären anmaßend wäre, aber in dessen universaler Gegenwart wir unser Denken und Fühlen mit einer gewissen Feierlichkeit, dem Geheimnis und der Größe anpassen müssen.