Erinnerung an eine Platane
- Sunrise 2/1981
Auf dem ausgetrockneten Boden eines verlassenen Grundstückes steht ein einsamer Baum - eine Platane mit einer weit überhängenden Krone aus goldenen und rotbraunen Blättern. Geht man nahe genug heran, so kann man voller Erstaunen feststellen, daß der alte Baum hohl ist. Er hat kein inneres Kernholz. Es wurde von Insekten weggefressen und durch die Unbilden der Winterstürme ausgewaschen. Seine knorrige braune Rinde bedeckt dreiviertel seines Umfangs und umgibt eine Leere. Von der Seite her kann man in die offene Umhüllung hineinschlüpfen und nach oben entlang der trichterförmigen Öffnung, die dadurch entstanden ist, weil der innere Kern fehlt, zum Blätterwald hinaufschauen.
Ein alter Bauer, der an der Nordseite dieses Grundstücks wohnte, sagte einmal, daß, soweit er sich erinnern könne, der alte Baum schon vor vierzig Jahren, als er diesen kleinen Acker gekauft hatte, dort stand.
"Es ist ein Wunderbaum", sagte er, "er wächst und entwickelt sich immer weiter, so wie ich, der ich beinahe dreiundachtzig Jahre alt bin. Auch in mir ist wenig von dem einstigen Menschen geblieben, aber wir beide machen immer weiter." Seine Augen strahlten und ein leises Lachen erschütterte seine schmalen Schultern.
Ein Wunderbaum - ein geheimnisvoller Baum. Wohin ist sein Lebensstoff gegangen, der Saft und sein Herz?
Die Gedanken kehren zur Leere im Herzen des Menschen zurück, die man empfindet, wenn man Schmerz, Enttäuschung, Zwecklosigkeit oder das Gefühl eines Verlustes erfährt - die innerliche Leere. Im Gegensatz zur Platane, die an ihrem Platz in der guten Erde verwurzelt bleiben muß, können wir versuchen, unsere Umgebung zu verändern, unserem Zustand und auch unserem Schmerz zu entrinnen. Können wir das jedoch wirklich?
Vielleicht sind auch wir für immer in der Erde unserer innersten Seele verwurzelt; verwurzelt mit dem Standort, den wir lange vorher zu einer Zeit erwählt hatten, an die wir uns nicht erinnern können und ehe unser Schmerz begann.
Diesen alten Baum kann man nicht vergessen. Anscheinend hat sich die Essenz des zugrundegegangenen Kernes nach außen verlegt, um dem Daseinszweck weiter zu dienen, damit sich sein Schicksal erfüllen kann, ohne durch das Stechen und Bohren der Insekten oder durch Blitzeinschläge beeinträchtigt zu werden.
Irgendwo in der Stille der unsichtbaren Natur drängt ihre unhörbare Stimme, das Versprechen, das latent im Samen verborgen lag, einzulösen, um dem Wunderbaum das zu geben, was er vom Leben forderte - die Gelegenheit, unter den gegebenen Voraussetzungen bis zum letzten Atemzug seine Möglichkeiten auszunützen.
Man wird ganz bescheiden, wenn man an den majestätischen Baum denkt, und hegt die Hoffnung, gleiches zu leisten, wenn die Prüfungen auf uns zukommen; denn auch wir stehen da wie ein großer Baum und sind in derselben Weise mit unseren Möglichkeiten ausgestattet, als Teil des gleichen Lebensmysteriums. Müssen wir daher nicht diese Kraft nach außen wirken lassen, durch Handlungen, die so edel sind wie unsere besten Gedanken, wobei wir uns daran erinnern, daß die Taten dieses Lebens das nächste bestimmen?