Das Feuer des Geistes
- Sunrise 1/1981 Sonderheft: Das Denkvermögen - in Mensch und Kosmos
Unter den Völkern der Welt gibt es scheinbar keine Rasse, die nicht eine Mythologie geschaffen hat, als die Welt noch jung war. In der Literaturgeschichte jeder Zivilisation findet sich ein Echo dieser Themen aus der Frühzeit. Geschichten aus den Mythen und Legenden des alten Griechenlands gehören zum Schulwissen der westlichen Nationen, und in Worten unserer Alltagssprache, wie "herkulisch" und "titanisch", können wir ihren Einfluß erkennen.
Die Geschichten, die uns in unserer Jugend unterhalten, bilden für die Soziologen und Anthropologen ein Definitionsproblem. Keine einzige Definition darüber, was eine Geschichte zu einer Mythe macht, wird im allgemeinen von den Fachleuten dieses Gebietes akzeptiert. Eine Autorität weist darauf hin, daß ein Mythos sehr vielschichtig sei, da er verschiedene Funktionen im Leben der Gesellschaft, in der er entstand, ausübt. Zumindest befasse er sich mit Anschauungen und Ängsten über die Toten, mit dem Übernatürlichen, mit der Fruchtbarkeit und den Jahreszeiten, mit Besitznahmen und Nahrungsmittelerzeugung, mit der Erklärung natürlicher Phänomene und dem Lösen anscheinender Widersprüche, wie zum Beispiel alt/jung oder Tod/Verjüngung.
Ein interessanter Aspekt ist in den Themen zu finden, die in verschiedenen Kulturen mit nur geringen Abweichungen vorliegen. Feuermythen ähneln sich in ihren Grundzügen bemerkenswert. In der griechischen Mythe stahl Prometheus das Feuer von Zeus, dem mächtigsten Gott im Himmel, um es der Menschheit zu geben. Ein Stamm im nördlichen Territorium Australiens soll behauptet haben, daß nur Koimul, der Starke und Mürrische, das Geheimnis des Feuers besaß und er es nie preisgeben würde. Sein Geheimnis lag in den zwei Stöcken, die er in seinen Achselhöhlen festhielt. Nur der Regenbogen-Vogel war imstande, diese wegzuschnappen, wenn er vorbeiflog und unvermutet auf Koimul herabstieß. Wirritt-Wirritt, der Regenbogen-Vogel übergab die Feuerstöcke einem alten Mann, der imstande war, das spitze Ende des einen Stocks in dem Einschnitt des anderen herumzuwirbeln. Durch diese Reibung wurde in dem Holzstab ein Funke erzeugt, aus dem bald ein Feuer entstand. In einem anderen Land, in einer anderen Kultur, erhebt sich auf dieselbe Weise Agni mit wilden Haaren und schneller Flammenzunge im vedischen Indien. So gehen diese Mythen weiter - ein Halbgott einer Kultur oder ein freundliches Tier gelangt in jedem Kontinent in der grauen Vorzeit dieser Welt in den Besitz des Feuers.
Man ist leicht versucht, in diesen Mythen lediglich Geschichten zu sehen, die vom Ursprung des Feuers berichten. Wenn wir uns jedoch daran erinnern, daß die Mythe aus mehreren Teilen zusammengesetzt ist, hilft es, diese Mythen auch unter einem anderen Aspekt zu betrachten, bei dem das Wort "Feuer" nicht nur das physische Feuer bedeutet. Wir neigen zu der Ansicht, daß der Frühmensch oder der Mensch der Mythen keine Kenntnis von natürlich entstehendem Feuer hatte, daß er in Dunkelheit lebte bis er die Feuerstöcke erfand. Dies erscheint unwahrscheinlich. Blitzeinschläge sind in der ganzen Welt üblich, vulkanische Feuer sind nicht unbekannt. Brände entstehen auch anderweitig, wie z. B. in Australien. Wenn dort an sehr heißen und trockenen Tagen die Temperatur über 55 Grad Celsius ansteigt, können durch Sonnenstrahlen, die auf Quarzstücke treffen, kleine Feuer entstehen. Feuer war nicht unbekannt. Auf einer weniger materiellen Stufe geben somit Mythen, die im Feuer ein lebenerhaltendes Element sehen, Zeugnis für einen unabhängig denkenden Verstand und für das Erwachen der Aufmerksamkeit und Sorge für andere Menschen. Ein Fragment einer tasmanischen Mythe berichtet von einem Feuerhelden, der zwei Frauen dem Leben wiedergibt. Prometheus lehrte die Menschen, die medizinische Kraft der Pflanzen zu nutzen. Agni will die unsterbliche Seele der Toten wärmen und führt sie in die Welt der Gerechten. Auf dieser Ebene stellen die Feuer-Mythen symbolhaft das Entfachen des Feuer des Geistes dar.