Was ist Okkultismus?
- Sunrise 4/1980
Es gibt keinen Unterschied zwischen altem und modernem Okkultismus. Meines Wissens beruht jeder echte "Okkultismus" auf denselben Grundsätzen, auch wenn die Worte, mit denen diese zum Ausdruck gebracht wurden, den Zeiten entsprechend wechselten.
Unter Okkultismus verstehe ich jene Wissenschaft oder vielmehr Weisheit, die eine echte und genaue Erklärung gibt, wie die Naturgesetze arbeiten und im gesamten Universum angewendet werden können.
Da es nur eine einzige Wahrheit gibt, müssen die Lehren des Okkultismus notwendigerweise mit allen erwiesenen Tatsachen der Wissenschaft - ob alt oder modern - übereinstimmen. Er muß außerdem alle historischen Tatsachen, alle Gesetze, die die Beziehungen der Menschen untereinander regeln, alle Mythologien und das Verhältnis, in dem der Mensch zum übrigen Universum steht, erklären.
Okkultismus ist in der Tat die Wissenschaft vom Ursprung, von der Bestimmung, von den Kräften des Universums und von allen darin befindlichen Dingen.
Der bedeutsamste Unterschied zwischen der okkulten und der modernen Wissenschaft besteht darin, daß die erstere mit den Kräften und Substanzen der Natur in ihren natürlichen Bedingungen arbeitet, während die letztere diese Kräfte in begrenztem Maße und nur unter bestimmten Voraussetzungen auf der untersten Ebene ihrer Manifestation anwendet.
Wenn der Okkultist Strömungen von Hitze, Elektrizität und ähnliches hervorrufen will, benützt er zum Beispiel die an sich unsichtbaren Kräfte der Natur als Elemente in ihren höheren und spirituelleren Formen, während der Wissenschaftler seine Zuflucht zu Stoffen wie Licht, Wasser usw. so nehmen muß, wie sie auf der niedersten materiellen Ebene existieren. Er muß sie zuerst in die sogenannten Primärsubstanzen zerlegen, bevor er seine Experimente ausführen kann.
Der Okkultist betrachtet die gesamte Natur als eine Einheit und schreibt jede Verschiedenheit der Tatsache zu, daß diese Einheit aus Manifestationen auf verschiedenen Ebenen zusammengesetzt ist. Die Wahrnehmung dieser Ebenen hängt vom Entwicklungsgrad des Betrachters ab.
Er glaubt, daß das eine Gesetz, das alle Dinge durchdringt, eine fast unbegrenzte Entwicklung durch Evolution ist, bis zur ursprünglichen Quelle aller Entwicklung - dem göttlichen Logos -, so daß also der Mensch, wie wir ihn kennen, zu einer fast unbegrenzten Entwicklung fähig ist.
Er glaubt auch an die absolute ursprüngliche Einheit aller Formen und Arten des Lebens, und daß alle Formen der stofflichen Welt einander abwechseln, so wie Eis in Wasser verwandelt werden kann und umgekehrt. Während er die Vorstellung vom Wunder verächtlich zurückweist, glaubt er, daß der entwickelte Mensch zusätzliche Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Handelns erreichen kann und dadurch imstande ist, die Elemente zu beherrschen...
Da der Okkultist glaubt, daß die Natur und ihre Gesetze eins sind, weiß er, daß alles Handeln gegen diese Gesetze auf gegnerische Kräfte stößt und zerstören würde. Daher muß der sich entwickelnde Mensch, wenn er Göttlichkeit erreichen will, ein Mitarbeiter der Natur werden. Dazu gehört, daß er sich darin üben muß, mit der Natur eins zu werden. Diese Übereinstimmung mit der Natur veranlaßt ihn beständig Nächstenliebe auszuüben und unentwegt nach dem höchsten Guten zu streben, denn was gut genannt wird, bedeutet lediglich Handeln in Einklang mit dem Einen Gesetz. Deshalb gibt der Okkultismus die vernunftmäßige Bestätigung für rechtes Benehmen, wie es kein anderes System anbietet, denn er erhebt die Moral zum kosmischen Gesetz, anstatt sie auf Aberglauben aufzubauen. Die Vorstellung, daß die Natur eine Einheit ist, führt den Okkultisten weiterhin zu der Erkenntnis, daß dasselbe Leben, das alles durchdringt, auch in ihm wirkt, und somit sieht er im "Gewissen" nicht nur ein Unterscheidungsmittel für Gut und Böse, sondern den Keim einer höheren Wahrnehmungsfähigkeit, ein Licht, das ihn auf seinem Wege führt, während er im Willen eine Kraft erkennt, die unendlich erweitert und verstärkt werden kann.
Alle Mythologien sind bildliche Darstellungen der Gesetze und Kräfte der Natur; auch Glaubensbekenntnisse drücken nur Teile der universellen Wahrheit aus. Durch intuitives Studium der ältesten von ihnen kann okkultes Wissen erlangt werden. Dieses Wissen wurde in ungeschmälerter Reinheit seit unvordenklichen Zeiten vom Lehrer zum Schüler weitergereicht und vor Mißbrauch sorgfältig geschützt, indem es nicht eher mitgeteilt wurde, bevor der Bewerber sich selbst eingehend geprüft hatte, daß er unfähig ist, dieses Wissen zu mißbrauchen und mißzuverstehen, denn es ist klar, daß in den Händen eines böswilligen oder unwissenden Menschen durch dessen Anwendung unendliches Unglück entstehen könnte.
Die gegenwärtige Wichtigkeit von Experimenten wie Gedankenlesen, Psychometrie, Hellsehen, Mesmerismus, Spiritismus usw. zeigt, daß mit Recht geglaubt wird, daß Kräfte und Fähigkeiten latent im Menschen vorhanden sind, die man bisher nicht vermutete.
Die "Wunder" des Okkultisten sind das Ergebnis der wissenschaftlichen Ausbildung dieser Kräfte und der Fähigkeit ihrer vollständigen Beherrschung. ...
Dieses geheime Wissen ist die Grundlage aller antiken Philosophien und Religionen, der indischen, ägyptischen, chaldäischen, zoroastrischen, griechischen usw. Die Spuren dieses Wissens sind in jedem Zeitalter und in jedem Land zu finden. Es gibt keinen größeren Irrtum als zu glauben, daß sein Vorhandensein nur auf eine einzige Autorität beschränkt sei. Seit dem ersten Erscheinen des Menschen auf diesem Planeten bilden seine Eingeweihten und Adepten eine ununterbrochene Reihe. Ihre Organisation ist heute noch immer dieselbe wie vor Jahrtausenden und wird es in Jahrtausenden immer noch sein. Gegenwärtig verursacht dieses Wissen im allgemeinen Denken den größten Wirbel seit einigen Jahrhunderten, und viele bilden sich ein, es sei etwas Neues. Doch das stimmt nicht, denn so wie das Tageslicht während einiger Jahreszeiten länger scheint als in anderen, so wird das Licht der göttlichen Weisheit in einigen Zyklen reichlicher ausgegossen als in anderen.
Für diejenigen, die Augen haben zu sehen, ist ein helleres Licht aufgegangen; aber das Licht wird nicht aufhören zu scheinen, weil nur wenige es beachten und viele es sogar verachten, während andere es wiederum verdrehen und versuchen, sich und anderen einzureden, daß überall Finsternis herrscht.
Aus The Word, I, 4. Januar 1905. T. Subba Row (1856-1890) war ein bekannter brahmanischer Gelehrter und Theosoph, Autor von Notes on the Bhagavad-Gita (Erläuterungen zur Bhagavad-Gita) und weiteren Schriften.