Tue es mit dem Herzen
- Sunrise 4/1980
Für mich galt stets die alte Forderung: "Tue es von ganzem Herzen." Es ist ganz gleich, welche Pflicht es sein mag, wir beeinträchtigen und schwächen uns selbst, wenn wir nicht unser Bestes geben. Haus- oder Büroarbeit sind oft unbedeutende Routine, und wir tun diese Dinge nur halbherzig. Für die meisten Arbeiten würden wir jedoch nicht viel mehr Zeit brauchen, um sie richtig zu verrichten, und hätten wir sie mit dieser Einstellung erledigt, dann würden wir uns wohler fühlen. Katherine Tingley hatte dafür einige schöne Worte: "Erledige die kleinste Pflicht gut, und wenn der Tag vorüber ist, wird nichts zu bedauern, keine Zeit vergeudet sein; Freude wird dich dann erfüllen." Wenn wir das Beste gegeben haben, so finde ich, daß diese innere Freude ein sicheres Zeichen dafür ist, daß wir auf dem richtigen Wege sind.
Natürlich gibt es im Leben eines jeden von uns besondere Umstände, bei denen wir fast augenblicklich mit etwas zurechtkommen müssen. Man kann die Angelegenheit nicht verschieben, hat keine Zeit, jeden einzelnen Vorgang sorgfältig zu erledigen. Hier müssen wir einen Überblick gewinnen und vernünftig entscheiden, was gründlich zu geschehen hat und was oberflächlich getan werden kann. Ich habe jedoch festgestellt, wenn man Tag für Tag das Beste getan hat, was möglich war, dann kommt es selten zu einem Berg von halberledigten Pflichten, und es gelingt uns besser, sich auf die Hauptsache zu konzentrieren. Ist die uns zur Verfügung stehende Zeit zu kurz, die Sache zu umfangreich, besteht keine Möglichkeit, sie aufzuschieben, und sind keine Helfer da, denen man einen Teil übertragen kann, dann können wir die Aufgabe immer noch grob bearbeiten und nur den wichtigeren Einzelteilen unsere gesammelte Aufmerksamkeit zuwenden. Mehr ist uns nicht möglich.
Sein Herz dahingeben, bedeutet auch Dinge mit ganzem Herzen tun. Nichts ist verwirrender, wenn wir mit anderen zu tun haben, als das Gefühl, daß der andere uns nur einen Teil seiner Aufmerksamkeit schenkt. Er scheint abwesend zu sein, während er unser Ansuchen zur Kenntnis nimmt, oder wir gewinnen den Eindruck, daß er wirklich ein vielbeschäftigter Mann ist, der sich herabgelassen hat, uns ein paar Augenblicke seiner kostbaren Zeit zu schenken. Es ist unbedingt erforderlich, daß wir der gerade vorliegenden Angelegenheit ungeteilte Aufmerksamkeit zuwenden, besonders wenn es um Menschen geht. Wir müssen uns darüber klar sein, daß es für einen anderen viel bedeuten kann, wenn er eine Bitte an uns heranträgt oder wenn wir um unsere Meinung oder um unseren Rat gefragt werden - und daß er Anspruch auf das Beste hat, was wir bieten können.
Es ist nicht Zufall, daß das Wort "Herz" in den Ausdrücken "warmherzig" oder "von ganzem Herzen" gebraucht wird. Wenn wir darüber nachdenken, erkennen wir, daß, wenn es um andere Menschen geht, wir unser Herz und unseren Verstand öffnen müssen, damit wir ihre Lage verstehen können. Wer weiß, wie wichtig auch nur ein beiläufiges Wort sein kann? Schließlich treffen wir jeden, der unseren Weg kreuzt, durch karmische Fügung. Es ist ein gegenseitiges Austauschen von Geben und Nehmen. Das Herz ist wahrhaftig das Organ des Verstehens. Dieses Verstehen kommt blitzartig und kann den oberflächlichen Eindruck durchdringen. Martin Buber sagte, daß die wichtigsten Fragen oft unausgesprochen bleiben oder hinter den anderen Fragen verborgen sind, die ein Mitmensch stellt. Ja, die wirkliche Frage braucht gar nicht im Zusammenhang mit der geführten Unterhaltung zu stehen. Wer mit ganzem Herzen dabei ist, fühlt oder spürt die eigentliche Situation, aber das kann man nur, weil das ganze Interesse wach ist - auf diese Weise kann man ausdrücken, daß einem wirklich am anderen etwas liegt, wer es auch sein mag.
"Das Herz hineinlegen" kann auch bedeuten, alles, was wir tun, mit dem Herzen tun, indem wir über unsere eigene Persönlichkeit mit ihrem oft vorherrschenden Eigeninteresse hinaussehen. Nur der Mensch, der am besten in der Lage ist jede Situation zu verstehen, kann die Höhle seiner eigenen Täuschungen verlassen und intuitiv die wirklichen Verhältnisse erfassen und hinter die Masken dringen. Er kann das, weil er Liebe und Interesse für alle empfindet. Natürlich fühlt er, daß einige von Selbstsucht oder Eigenliebe beherrscht werden, aber er muß sich darauf verlassen, was ihm in dieser Situation zu tun oder zu sagen - oder zu unterlassen - einfällt. Zweifellos haben wir alle schon beobachtet, wie die hochherzige und hilfreiche Haltung eines Menschen eine ähnliche innere Einstellung bei anderen hervorrufen kann. Wenn das nicht geschieht, auch wenn es ihm nicht möglich ist etwas zu sagen oder zu tun, dann hat er doch sein Bestes getan. Die Zeit allein, die auf unergründlichen Wegen dem Gesetz zur Geltung verhilft, kann bewirken, was menschliche Kräfte nicht vermögen.
Vermutlich ist die letzte Erklärung für "sein Herz in etwas hineinzulegen" oder "warmherzig zu sein", der Versuch, jederzeit und unter allen Umständen wirklich wir selbst zu sein. Wir alle haben Menschen gekannt, die gütig und bescheiden, "bei Sonne und Regen" sie selbst waren und deshalb von jedermann geliebt wurden. Diese Menschen können zu jenen gezählt werden, die selbstlos sind und ihr Bestes tun. Sie mögen Fehler machen, aber das sind ehrliche Fehler, die nicht aus Eigennutz entstanden sind. Es ist eine Freude, mit solchen Menschen zusammen zu sein.