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Der stille, schmale Pfad

Alle esoterischen Schulen haben als Hauptgrundlage ihres Vorhandenseins gelehrt: "Mensch, erkenne dich selbst!" So ist es immer gewesen, und den Schlüssel dazu findet man in vielen Dingen. Man findet ihn im Studium des Leidens, das der Knoten der Persönlichkeit erlebt, ehe sein verwickeltes Labyrinth der Selbstsucht überwunden ist; man findet ihn auf einer exoterischeren Ebene auch beim Prüfen der erhabenen Literaturen vergangener Zeitalter: in der Verstandes-, Herzens- und Seelenarbeit der Seher und Weisen jeden Zeitalters. Mehr als anderswo findet man diesen Schlüssel aber beim Erlernen der Nächstenliebe und höchster Selbstvergessenheit. Darin liegt das Mysterium der Buddhaschaft, der Christusschaft: im Selbstvergessen und im Aufgehen in allumfassender, unbeschränkter, grenzenloser Liebe für alles Seiende.

Manche Menschen stellen sich vor, dieser Pfad der spirituellen Erfüllung liege weit über den Bergen der Zukunft und sei fast unerreichbar. In Wirklichkeit liegt zwischen dem gewöhnlichen Leben und dem Leben eines Neophyten oder Chelas jedoch nur eine relativ schmale Grenze. Der wesentliche Unterschied besteht in der inneren Einstellung und nicht in der metaphysischen Entfernung. Es ist der gleiche Unterschied wie zwischen einem Menschen, der dem Sog der Versuchung unterliegt und danach zu ihrem Sklaven wird, und einem anderen, der der Versuchung erfolgreich widersteht und danach zu ihrem Meister wird.

Jeder kann den Pfad betreten, wenn sein Wille, seine Hingabe und sein Streben darauf gerichtet sind, anderen in größerem Maße zu dienen. Das einzige, was ihn von diesem höchst wunderbaren Schritt abhält, sind seine Überzeugungen, seine psychologischen und mentalen Vorurteile, die seine Perspektive verzerren. Wir sind alle Lernende, wir alle haben Illusionen. Selbst die Mahatmas und Adepten haben Illusionen, wenn auch von einer extrem feinen und erhabenen Art, die sie daran hindern, noch höher zu gehen - und das ist einer der Gründe dafür, daß sie so mitleidsvoll mit jenen sind, die den genau gleichen Pfad zu beschreiten versuchen, auf dem sie selbst in früheren Zeiten erfolgreich vorangeschritten sind.

Der schnellste Weg zur Überwindung dieser Illusionen ist die Durchtrennung ihrer Wurzel. Diese Wurzel ist die Selbstsucht in ihren tausendfältigen Formen. Selbst das Streben nach eigenem, nur für sich bestimmten Fortschritt beruht auf Selbstsucht, die ihrerseits eigene feine und mächtige Mâyâs erzeugt. Daher wird jedes Erfolgsstreben, wenn es nicht von allem Persönlichen reingewaschen ist, sich unvermeidlich selbst zunichte machen, denn der Weg des inneren Wachstums ist Selbstvergessen, das Aufgeben jedes persönlichen Ehrgeizes und jedweder Wünsche und die Entwicklung zu einem unpersönlichen Diener allen Lebens.

Es muß hier jedoch erwähnt werden, daß der Zweck des echten Okkultismus nicht darin besteht, "Jünger zu produzieren" oder aus widerspenstigem Menschenmaterial Menschen zu machen, die lediglich nach Selbstfortschritt streben. Der Zweck besteht vielmehr darin, unsere unvollständige menschliche Natur zuerst zu einem edlen Menschen zu veredeln und schließlich gottähnlich zu machen - und zwar nach den archaischen und traditionellen Regeln der Belehrung und Schulung, die seit Jahrtausenden anerkannt und befolgt wurden.

Chelaschaft ist eine innere Vorstellung, die zur Überzeugung und entschlossenen Handlung führt. Alle Regeln für eine ethische Lebensweise, die man in den großen Literaturen der alten Philosophien und in den theosophischen Schriften nachlesen kann, sind ganz große Hilfen für den Anwärter, sich von Selbstsucht zu befreien. Der wahre Sittenkodex ist ungeschrieben und daher keinem Dogmatismus unterworfen. Er läßt sich nicht durch konventionelle Vorstellungen einfangen oder durch Gemüter verdrehen, die nur über Worte debattieren und streiten. Sein Kern ist von größter Einfachheit, denn die schönsten und umfassendsten Wahrheiten sind immer die einfachsten Wahrheiten. Es gibt Zeiten, wo ich meinen Füllfederhalter beiseite werfe und mir sage: "Halten wir uns doch an die einfachen Wahrheiten, die die Kinder mit ihren unverdorbenen Naturen und ihrer direkten und schnellen Auffassungsgabe begreifen!" Es ist schwierig, ein Kind dauernd zu täuschen. Wenn gesagt wird, der Neophyt müsse den Zustand des Kindes wiedergewinnen, dann ist damit nicht kindisches Benehmen oder Dummheit gemeint! Wir brauchen einfach das kindliche Herz, das so vertrauensvoll, intuitiv und aufmerksam ist.

Intellektuelle Schulung ist sehr wertvoll und eine große Hilfe, aber wie ein "Kind" zu werden, ist für die Menschen die schwierigste Lektion. Der Gehirnverstand ist ein gutes Instrument, wenn er gelenkt und geschult wird; er ist aber ein Tyrann, wenn er seinen eigenen Bestrebungen und Impulsen überlassen bleibt, da er immer selbstisch ist. Sein Blick ist zwangsläufig auf den Wirbel des niederen und begrenzten Bewußtseinsfeldes des mânasischen Knotens der Persönlichkeit gerichtet. Das höhere Verständnis liegt in der höheren Natur. Allein dieses Verständnis vermag die innere Bedeutung der Lehren zu verstehen. Der niedere Verstand kann von den Lehren einiges verstandesmäßig erfassen, jedoch nur dann, wenn er vom inneren Verständnis unterstützt wird. Es kann jemand völlig aufrichtig sein, den festen Willen nach Erkenntnis haben, bereit sein, zu prüfen und zu forschen, dennoch kann der buddhische Glanz vollständig fehlen. Die einzige Eignungsprüfung liegt im Individuum selbst. Wenn das buddhische Licht auch nur wie ein flüchtiger Schimmer glimmt, reicht dies aus. Der betreffende Mensch besitzt dann das esoterische Recht zu dem Wissen.

Selbstüberwindung ist der Pfad des Wachstums. Die ganze Wahrheit ist in diesen wenigen einfachen Worten enthalten. Es ist ein langsames Wachsen, wie bei allen großen Dingen, und wenn man es gewinnen will, muß der Mensch sich selbst entfalten. Es gibt keinen anderen Pfad, als den der inneren Entwicklung; es ist kein leichter Weg. Wer sich in den täglichen Lebensangelegenheiten nicht beherrschen kann und nicht weiß, wer oder was er ist, kann die Ereignisse und Erfahrungen nicht bewältigen, die sich unweigerlich um denjenigen ansammeln, der diesem "schmalsten aller Tore" auch nur geringfügig näherkommt.

Hier liegt ein seltsames Paradoxon: Wenn jemand Selbstbemeisterung ausüben will, muß er völlig selbstlos und doch völlig er selbst sein. Das geringere Selbst muß ausgelöscht werden - nicht abgetötet, sondern aufgelöst, das heißt, nach innen zurückgezogen und von dem höheren Selbst absorbiert werden, da das höhere Selbst unser wesentliches oder wirkliches Wesen ist, und das niedere Selbst nur ein Strahl aus diesem ist - beschmutzt und sozusagen verunreinigt, weil es sich mit der Welt der unzähligen Illusionen verbindet.

Der Mensch, der am leichtesten getäuscht werden kann, ist derjenige, der am stärksten mit Mâyâ verhaftet ist, und dies sind oft die sogenannten Weltklugen. Einen Adepten kann man nicht täuschen, da er den Täuschungsversuch sofort erkennen würde. Daß man ihn nicht täuschen kann, ist darin begründet, daß man sozusagen keine persönlichen Hafthaken in seinem Wesen anbringen kann. Nichts, was man auch tun oder sagen mag, wird ihn berühren oder Ihrer Vorstellung näherbringen, wenn diese auch nur im geringsten selbstisch oder nicht universal ist. Er steht über diesen Illusionen, er hat sich durch sie hindurchgekämpft, sie erkannt und zurückgewiesen. Die Meister nehmen jedoch die geringste Regung des echten Chelageistes wahr, selbst ehe wir sie erkennen. Die Wirkung auf sie ist ungeheuer, und eine schnelle magnetische Sympathie wird daraufhin hergestellt.

Lassen Sie uns diesen Gedanken etwas weiterführen: Wenn ein Neophyt mit der ganzen Kraft seines Wesens eine bewußte und wirkliche Entscheidung beschließt, entzündet er ein Licht in sich, und dieses Licht ist der buddhische Glanz. Und dieses Licht wird, wie gesagt, von den Lehrern verständnisvoll wahrgenommen, beobachtet und behütet, und damit ist der Betreffende ein "angenommener Chela". Wie lange bleibt er ein solcher? Niemand wird durch umherreisende Magier, die durch die Welt wandern, ausgewählt, wobei etwa diejenigen ausgewählt werden, die sie für geeignet halten - keineswegs. Die Wahl liegt in dem Individuum selbst: Dieses wählt seinen Pfad, dieses faßt seinen Entschluß, und wenn das buddhische Licht sichtbar wird, und sei es auch nur ein Funke, dann ist es angenommen, auch wenn ihm diese Tatsache während dieser Zeit unbekannt sein mag. Danach hängt alles von ihm selbst ab, ob es Erfolg hat oder auf dem Wege liegen bleibt.

Nur in den seltensten Fällen weiß jemand sofort, daß er angenommen worden ist, denn die normale Regel ist, daß er auf hunderttausendfach verschiedene Weise geprüft wird, wobei sich diese Prüfungen aus den gewöhnlichen Lebensereignissen und den Reaktionen des Aspiranten auf diese Ereignisse ergeben. Sobald er jedoch seinen Lehrer erkannt hat, wird der Pfad sowohl leichter als auch schwieriger - leichter wegen der neugewonnenen Überzeugung, daß wenigstens ein gewisser Erfolg erreicht worden ist, und auch wegen des Mutes und Selbstvertrauens, die aus dieser Tatsache geschöpft werden; ungeheuer schwieriger jedoch, weil er von jetzt an unter einer direkteren Schulung und Führung steht, und kleine Fehler und geringfügige Rückfälle, die anfangs mit großer Nachsicht behandelt wurden, von jetzt an sehr ernste Folgen haben.

Außerdem gibt sich kein Lehrer seinem Schüler zu erkennen, ohne daß letzterem vorher viele instruktive Warnungen aus dessen eigenem inneren Selbst zugegangen sind. Der Grund dafür ist klar: Niemand wird angenommen, ehe er nicht von seiner eigenen inneren Göttlichkeit wirklich angenommen worden ist, das heißt, ehe er sich nicht des wunderbaren Mysteriums, das in ihm vorgeht, mehr oder weniger bewußt geworden ist.

Ehe eine solche Wahl erfolgen kann, ist natürlich eine gewisse Stufe des Fortschritts erforderlich. Aber jeder normale Mensch kann eine solche Entscheidung treffen, weil Geist und Materie ein mehr oder minder stabiles Gleichgewicht in ihm erreicht haben. Mit anderen Worten, die Chelaschaft kann in jedem Stadium von jedem begonnen werden, der in seiner Seele und in seinem Herzen das Christoslicht erwecken kann. Die Opferung seiner niederen Persönlichkeit auf dem Altar ist das Entscheidende. Kein menschlicher Schrei nach Hilfe verhallt ungehört, wenn dieser Schrei nach mehr Licht unpersönlich ist. Der Prüfstein ist Unpersönlichkeit.

Wenn die Worte Opfer und Verzicht oft verwendet werden, dürfen wir uns jedoch nicht vorstellen, daß hiermit etwas Wertvolles verlorengehen soll. Im Gegenteil, es ist ein unbeschreiblicher Gewinn und kein Verlust. Die Dinge aufzugeben, die uns schmälern, gering, kleinlich und gewöhnlich machen bedeutet Ablegung unserer Fesseln, Gewinn der Freiheit und des Reichtums des inneren Lebens und vor allem der bewußten Erkenntnis unserer grundlegenden Einheit mit dem All.

Es sollte klar verstanden werden, daß diese Schulung, die ihren Ursprung in den spirituellen und intellektuellen Regungen der eigenen Seele des Höherstrebenden hat und aus Studium und Disziplin besteht, nie mit seinen familiären Rechten oder Pflichten kollidiert oder durch diese beeinträchtigt wird. Chelaschaft ist nichts Absonderliches, nichts Merkwürdiges oder Exzentrisches. Wenn dem so wäre, wäre es nicht Chelaschaft. Sie ist der natürlichste und erstrebenswerteste Pfad für uns; denn wenn wir uns mit dem Edelsten in uns vereinen, vereinen wir uns mit den spirituellen Kräften, die das Universum leiten und regieren. Dieser Gedanke ist inspirierend.

Das Leben des Neophyten ist sehr schön. Es entwickelt sich ständig zu immer größerer Blüte, je mehr Selbstlosigkeit das Leben erfüllt. Manchmal ist dieses Leben auch sehr traurig, und diese Traurigkeit stammt aus der Unfähigkeit des Neophyten, sich selbst zu vergessen. Er erkennt, daß er sehr, sehr einsam ist, daß sein Herz nach gleichgesinnten Gefährten verlangt. Mit anderen Worten, sein menschlicher Teil sehnt sich nach Anlehnung. Aber gerade das Fehlen dieser Schwächen kennzeichnet den Meister des Lebens: die Fähigkeit, auf eigenen Füßen zu stehen und unter allen Umständen aufrecht und stark zu sein. Man sollte aber nie annehmen, die Mahatmas seien vertrocknete Exemplare der Gattung Mensch, ohne menschliche Gefühle oder menschliche Sympathie. Das Gegenteil ist der Fall. In ihnen ist ein weitaus wacheres Leben als in uns, ein stärkerer und pulsierenderer Lebensfluß. Ihre Sympathien sind so stark erweitert, daß wir sie heute noch gar nicht begreifen können, obgleich wir es eines Tages tun werden. Ihre Liebe umfaßt alles. Sie sind unpersönlich und werden daher universal.

Chelaschaft bedeutet den Versuch, den Meister hervorzubringen, der in unserem Wesen lebt, denn er ist schon jetzt vorhanden.

Es wird jedoch eine Zeit kommen, wenn man weit genug fortgeschritten ist, wo auch die Familienpflichten aufgegeben werden müssen, aber die Umstände werden dann so sein, daß diese Aufgabe sowohl für den Betreffenden wie auch für den, dem die Pflicht früher galt, eine wirkliche Wohltat ist. Niemand sollte sich jedoch durch die gefährliche Lehre täuschen lassen, daß der Mensch umso weniger durch das Moralgesetz gebunden sei, je höher er steigt. Die Wahrheit ist genau umgekehrt. Einem anderen Unrecht tun, ist nie recht.

Bei keinem Schritt auf diesem erhabenen Pfad ist je irgendein äußerer Zwang vorhanden, außer dem edlen Antrieb aus der strebenden Seele des Aspiranten selbst, immer weiter und weiter nach innen und oben fortzuschreiten. Während der anfänglichen Stufen ist jeder Schritt dadurch gekennzeichnet, daß etwas von den persönlichen Fesseln und Unvollkommenheiten fallen gelassen wird, die uns an die materiellen Bereiche ketten. Immer wieder wird uns eindringlich gesagt, die höchste Lebensregel bestehe darin, in unserem eigenen Wesen ein unendliches Mitleid für alles Seiende zu hegen, wodurch Selbstlosigkeit gewonnen würde, die ihrerseits die umherwandernde Monade schließlich dazu befähige, zum Selbst des kosmischen Geistes zu werden, ohne die Individualität zu verlieren.

In dem soeben Gesagten liegt das Geheimnis des Fortschritts: Um größer zu sein, muß man größer werden, um größer zu werden, muß man das Geringere aufgeben; um ein Sonnensystem in das Verständnis und Leben mit einbeziehen zu können, muß man aufgeben, das heißt, man muß über die Grenzen der Persönlichkeit, des nur Menschlichen hinauswachsen und sie überwinden. Durch das Aufgeben der niederen Selbstheiten gelangen wir in die größeren Selbstheiten der Selbstlosigkeit. Niemand wird auch nur einen einzigen Schritt zur erweiterten Selbstheit voranschreiten, die seine eigene höhere Natur bereits ist, ehe er nicht lernt, daß "für sich selbst leben" ein Abstieg in noch dichtere und begrenztere Sphären ist und daß "für alle leben" eine Erweiterung seiner eigenen Seele zum größeren Leben hin ist. Alle Geheimnisse des Universums liegen latent in uns verborgen, alle seine Geheimnisse sind dort vorhanden, und jeder Fortschritt in esoterischem Wissen und esoterischer Weisheit ist nur eine Entfaltung dessen, was bereits im Inneren vorhanden ist.

Wie gering erscheinen unsere menschlichen Kümmernisse - die uns als traurige Last so sehr bedrücken -, wenn wir unseren Geist auf diese unendlich tröstlichen Tatsachen lenken. Kein Wunder, daß der christliche Schreiber erklärte, daß kein Spatz vom Himmel falle, ohne daß es dem Göttlichen bekannt sei, und daß selbst jedes Haar auf unserem Haupt gezählt sei und behütet würde. Wieviel mehr gilt dies dann für uns selbst. Diese illusorische und schattenhafte Welt ist ein wesentlicher und untrennbarer Teil des Grenzenlosen, aus dem wir hervorgegangen sind und zu dessen göttlichem Herzen wir eines Tages auf den Schwingen unserer Erfahrungen zurückkehren werden, Schwingen, die uns über die Täler zu den fernen Bergesspitzen des Geistes tragen werden.

 

Fountain-Source of Occultism, Seite 14-19