Das ist Leben
- Sunrise 4/1979
Nach großer Überwindung habe ich das anstößige Buch The Godfather (Der Gottvater) gelesen, nur weil so viele Leute es auch gelesen haben.
Es wird darin nicht über Karma und Reinkarnation diskutiert, es handelt mehr von menschlichen Werten, wie Ehrlichkeit, Mut, wieweit Familienbande gehen sollten, von der Aufrichtigkeit des Autors selbst usw. - Wenn ich mich recht erinnere, so spricht er von einem jener abscheulichen, brutalen Menschen, er sei wirklich ein sehr freundlicher und gutherziger Mensch gewesen, der niemals ein Kind oder eine Frau mißhandelt oder geschlagen hotte (ach wirklich!). Es geschah nur zufällig, daß er zum Mörder wurde. Dieses: "es geschah nur zufällig" ist eine sehr weit verbreitete Idee.
Nun, ich glaube, vor allem ist es eine Beleidigung für den intelligenten Leser, solchen Unsinn zu schreiben. Auf alle Fälle hatte ich durch dieses Buch Gelegenheit zu vielen interessanten Gesprächen. So erging es wohl auch Solschenizyn, denn ich halte den Mut und die persönliche Ehrlichkeit, die er besitzt und zeigt, für äußerst wertvoll. Ich glaube sogar, daß Mut die größte Tugend ist, die wir besitzen können. Wie kann man ohne Mut gut sein? Wie kann man jemals althergebrachte bequeme und in Ehren gehaltene Ideen aufgeben, wenn man keinen Mut hat? Ohne Mut keine Ehrlichkeit, ohne Ehrlichkeit keine Selbstachtung und ohne Selbstachtung keine Achtung vor anderen. Auch Solschenizyn erwähnt ganz unerschrocken, daß er die Existenz spiritueller Fähigkeiten zugibt. Das hat eine Menge Leute schockiert, weil sie nicht gewohnt sind, in diesen Dimensionen zu denken. Er spricht davon, was der einzelne tun kann und tun sollte, wenn er ein Mensch ist. Für mich ist das sehr wichtig. Eine Million Menschen mögen an etwas glauben und in einer bestimmten Weise handeln, aber sie sind nur 1 x 1 x 1, und in diesem Sinne sind sie nicht eine Million, sondern nur ein Mensch. Deshalb sprich frei heraus, sagt er, deine Stimme gilt ebensoviel wie ihre.
Darüber habe ich in Verbindung mit neuen Zyklen, mit neuen Epochen und mit der durch "neue Gedanken" erzeugten Unruhe nachgedacht. Gewiß, wir sind selbst ein Teil jener Zyklen, und Karma wirkt zweifellos durch uns. Wir können uns nicht hinsetzen und sagen: "Das wird sich alles von selbst auswirken, es sind eben jene Zyklen, die sich überschneiden; aus dem Durcheinander wird sich etwas Schönes entfalten." Verderbtheit und Dummheit lösen sich nicht von selbst auf, und es wird nichts Schönes entstehen, wenn wir es nicht selbst tun. Wir sollten wachsam sein und Stellung beziehen, denn es ist kein Zeichen von Weitherzigkeit und Toleranz, eine alte, abgelegte und beschränkte Idee unter dem Namen eines neuen Begriffes wieder aufleben zu lassen. Jede Art Gehirnwäsche, die versucht, den Leuten klarzumachen, daß sie nicht denken und nicht für sich selbst entscheiden können, sondern sich auf "Experten" verlassen sollten, ist, glaube ich, eine akutere Gefahr als hypnotische Experimente oder sonst etwas.
Wenn sich das Gespräch um ASW (außersinnliche Wahrnehmung) und um Yoga dreht, dann empfehle ich immer, daß die Leute das interessante Experiment ausprobieren sollen, ihre Gedanken zu beherrschen. Ich habe mich selbst ein wenig darin geschult, und ich glaube, ich habe etwas Erfolg gehabt. Das gibt mir die Möglichkeit, sie zu warnen. Ich frage sie: "Möchten Sie jenen flüchtigen Gedankenverbindungen und Impulsen wirklich mehr Stärke und Triebkraft verleihen? Wenn Sie bisher nicht versucht haben, Ihre Gedanken zu beherrschen (und sie taten es nie!), wie wird es Ihnen ergehen, wenn Sie es fertigbringen, andere Fähigkeiten zu entwickeln, die viel schwerer zu kontrollieren sind - und zwar viel schwerer zu beherrschen als zu entwickeln?"
Meine Bemühungen in der Gemütsbeherrschung beschränkten sich auf den Versuch, alle törichten, negativen und mürrischen Stimmungen abzulegen. Ich glaube nicht, daß ich unter heftigen Anfällen von Haß oder gar von Verzweiflung leide, aber ich kann mich elend genug fühlen, wenn ich über die Ungerechtigkeit im Leben (natürlich gegen mich) nachdenke und wie schlimm ich dann und wann behandelt werde. Es ist wahr, daß sich die Menschen uns gegenüber manchmal schlecht benehmen. Wir sollten etwas dagegen unternehmen oder es vergessen. Doch was andere Leute tun, ist schließlich deren Angelegenheit, nicht unsere. Eine solche Haltung könnte vielleicht für jene von Hilfe sein, die nach einer Meditationsmethode suchen, mit der sie beginnen können. Mir hat sie sehr geholfen.
G. de Puruckers Fountain-Source of Occultism habe ich verschlungen, sobald ich das Buch in die Hände bekam. Wie köstlich war es, darin zu lesen! Ich mußte allerdings eine gewisse Zeit verstreichen lassen, bevor ich es nochmals lesen konnte. Ich war sehr beeindruckt von dem, was G. d. P. über das Ausführen selbstloser Taten sogt. Das Gute an sich bedeutet in Wirklichkeit eine Anstrengung, um das normale Gleichgewicht in unserer Konstitution wieder herzustellen, das jetzt sehr einseitig ist, weil wir zu sehr im persönlichen Element leben. Ich habe mich immer etwas unbehaglich gefühlt, wenn ich las, welche großen Opfer gute und heilige Menschen gebracht haben und immer noch bringen. Diese Dinge sehen wir wohl nur so von unserer Ebene hier unten, wo wir sind; von ihrer Ebene aus werden sie gewiß anders gesehen.
Ich habe einige wirklich gute Menschen gekannt (ich meine Durchschnittsmenschen; ich bin mir nicht bewußt, irgendwelchen Heiligen oder Märtyrern begegnet zu sein, dazu bin ich wahrscheinlich nicht wachsam genug!), und sie waren sehr energisch und realistisch. Sie waren nie der Meinung, irgend etwas zu opfern; was sie taten, war für sie normal und gehörte sich so. Was sie taten, war: sie bemerkten etwas, das getan werden muß. Die meisten von uns sehen es nicht, denn wenn wir es sehen würden, dann würden wir wahrscheinlich helfen, so gut wir könnten. Deshalb sind jene, die es bemerken, uneigennützig; oder sollten wir nicht lieber 'selbstlos' sagen? - dieses Wort ist nicht so abgenützt wie das arme andere Wort -, sie sind selbstlos, und daher denken sie: Das muß getan werden, nicht, ich sollte etwas Gutes tun.
Wie werden wir "selbstlos"? Indem wir unser Bewußtsein in ein natürlicheres Gleichgewicht bringen. Natürlich heißt, die Einheit und die Bruderschaft mit allem, was ist, hin und wieder zu fühlen und zu verstehen, oder nicht? Es würde mich wundern, wenn Jesus mit 'die andere Wange hinhalten' nicht das meinte. Wenn er nur 'nicht zurückschlagen' meinte, dann hätte er ebensogut sagen können, gehe hin und halte die linke Wange immer und immer wieder hin und rühre dich nicht, wie oft du auch einen Schlag darauf bekommst. Tatsächlich aber sagte er, biete die andere Wange dar, versuche eine neue Annäherung. Wie können wir aber die andere Wange darbieten, ohne unsere Position zu verändern und unser Gleichgewicht zu verlagern? Physisch können wir es nicht. Mental ja, und auch spirituell können wir es. Wenn wir uns in einer aussichtslosen Situation uns selbst oder unserer Umwelt gegenüber befinden, können wir unseren Schwergewichtspunkt verlagern und alles von einer anderen Perspektive aus sehen.
Wille und Bewußtsein sind sehr interessant, und ich finde, darüber läßt sich mit meinen Freunden leichter sprechen als über Karma und Reinkarnation. In einem begrenzten Sinne stellt eigentlich niemand Karma in Abrede; nur universales Karma, weil die meisten Menschen nicht in so ausgedehnten Begriffen denken. Und was Reinkarnation anbetrifft, so haben sie keine Erfahrung, und ich auch nicht. Doch mit dem Bewußtsein haben wir alle Erfahrung, und darüber können wir sprechen.
Daß es unmöglich ist, uns mit der Persönlichkeit zu identifizieren, die wir vor dreißig Jahren oder vor zwanzig oder vor zehn Jahren waren - dazu hat jeder etwas zu sagen, und viele sprechen gern darüber. Daraus ergibt sich natürlich, daß man anerkennen muß, daß der "Mensch ein zusammengesetztes Wesen und ein Bewußtseinsstrom" ist. Ich will nicht behaupten, daß ich oder die Leute, mit denen ich spreche, das alles vollkommen verstehen, aber ich glaube, es ist viel leichter, über Dinge zu sprechen, die wir alle erfahren haben. Selbstverständlich sollen wir versuchen zu verstehen, wer wir wirklich sind und was wir werden können, weil wir nicht statisch sind wie die Tiere, sondern uns verändern, und es ist viel besser, wenn wir uns in einer natürlichen, vorwärtsführenden Weise verändern. Das kann nur durch uns selbst geschehen. Leben bedeutet also: mehr verstehen, mehr erfahren und unser Bewußtsein erweitern.