Der Mensch ist sein eigenes Karma
- Sunrise 3/1979
Ein Okkultist oder ein Philosoph wird nicht von der Güte oder der Grausamkeit der Vorsehung sprechen, sondern er wird sie mit Karma-Nemesis gleichsetzen und lehren, daß sie dennoch über die Guten wacht und sie in diesem wie in den zukünftigen Leben behütet und daß sie den Übeltäter straft - ja sogar bis zu seiner siebten Wiedergeburt -, kurz, so lange, bis die Wirkung endgültig ausgeglichen ist, die zustandekam, als er auch nur das kleinste Atom in der unendlichen Welt der Harmonie gestört hatte. Denn das einzige Gesetz Karmas - ein ewiges und unveränderliches Gesetz - ist absolute Harmonie in der stofflichen Welt wie auch in der Welt des Geistes. Es ist deshalb nicht Karma, das belohnt oder bestraft, sondern wir sind es, die uns selbst belohnen oder bestrafen, je nachdem ob wir mit der Natur, durch sie und zusammen mit ihr arbeiten, indem wir den Gesetzen Folge leisten, von denen diese Harmonie abhängt - oder ob wir sie brechen.
- Die Geheimlehre, I. 704, deutsche Ausgabe.
Karma ist die Verhaltensweise des universellen Seins, das so wirkt, daß eine Handlung unbedingt zu einem Ergebnis führt - zu einer Reaktion der umgebenden Natur. Der Kern dieser Lehre ist, daß jeder Gedanke und jede Handlung unmittelbar eine Kette von Ursachen hervorrufen, die auf jeder Ebene wirkt, die diese Kette von Ursachen erreicht. Aber was ist diese uranfängliche Verhaltensweise der Natur, die sie veranlaßt, auf eine Ursache zu reagieren? Kosmisch gesehen ist es der Wille der spirituellen Wesenheiten, die vor uns da waren und die für uns jetzt wie Götter sind, deren Wille und deren Denken den Charakter und die Beschaffenheit des Universums, in dem wir leben, leiten und schützen.
Es gibt jedoch keinen Gott außerhalb von uns, der festlegt, was unsere Bestimmung oder unser Schicksal sein soll. Wir sind freie Wesenheiten, Kinder des Universums, Götter, die durch das großartige Abenteuer des kosmischen Lebens gehen. Wir haben freien Willen, Intelligenz und Bewußtsein und wohnen in einem Universum, dessen untrennbare Teile wir sind. Im innersten Wesen sind wir Parabrahman - und doch sind wir in allen äußeren Hüllen des Bewußtseins Einzelwesen.
Daher ist Karma nichts außerhalb von uns selbst; wir sind unser eigenes Karma. Wir sind, essentiell betrachtet, der spirituelle Teil unseres Selbst. Der materielle oder elementale, der psychische und der intellektuelle Teil sind nur bestimmte Aspekte unserer Konstitution, durch die unser essentielles Selbst wirkt. Diese untergeordneten Teile müssen dem Sog des Lebensstroms folgen, so wie er aus der Quelle im Innern hervorströmt - woher auch der Wille, das Bewußtsein, das Verständnis und alle anderen geistigen Eigenschaften und Kräfte, wie Liebe und Mitleid, kommen.
Betrachten wir die Sache von einem anderen und vertrauteren Gesichtspunkt aus: Würden Sie erwarten, daß der göttliche Teil von Ihnen das Karma zu erleiden hat, das dem äußeren Körper bestimmt ist? Oder daß Ihr innerer Gott sklavisch an das gebunden sein müßte, was die prânischen Lebensatome oder Ihr Astralkörper tun, oder an das, was Ihr Verstandesdenken oder Ihre Gefühle Sie zu tun drängen? Bestimmt nicht. Wir bereiten uns das Schicksal, das wir sind oder durch das wir hindurchgehen werden, und wir tun das aus unserer spirituellen Natur heraus, wo letztlich alle unsere karmische Aktivität entspringt. Was uns daher auch immer zustößt, verursachen wir entweder bewußt oder unbewußt: Wir haben uns zu dem gemacht, was wir jetzt sind, und machen uns zu dem, was wir in Zukunft sein werden.
Es gibt im Gehirn ein Organ, durch das die elementalen karmischen Energien wirken, indem sie ein Lebewesen auf diesen oder jenen Weg des Handelns, des Denkens oder des Fühlens treiben. Dieses Organ ist das "dritte Auge" genannt worden oder das "Auge Sivas". Physisch ist es die Zirbeldrüse, das Organ, das den karmischen Drang - der uns dazu zwingt, diese oder jene Art der Handlung auszuführen, wodurch entweder Wohl oder Wehe entsteht - im physischen Körper zum Ausdruck bringt und in diesen überträgt. H. P. Blavatsky schreibt diesbezüglich in der Geheimlehre (II. 316, deutsche Ausgabe):
Was nun Schüler des Okkultismus wissen sollten ist, daß DAS "DRITTE AUGE" UNAUFLÖSLICH MIT KARMA VERBUNDEN IST. Der Lehrsatz ist so geheimnisvoll, daß nur sehr wenige von ihm gehört haben.
Das ist sehr schwierig zu erklären. Wir sind unser eigenes Karma. Alles, was wir sind, ist Karma. Unsere gesamte Konstitution ist das Ergebnis dessen, was wir in der vergangenen Zeit waren, die unserer augenblicklichen vorausgegangen ist. Wir sind ein Aggregat von Kräften, eine zusammengesetzte Wesenheit, mit unseren eigenen Besonderheiten, Neigungen und Impulsen, die uns alle formen und bilden, selbst die äußere Form unseres Körpers - das alles ist unser Karma, weil wir und Karma eins sind.
Was verursacht und lenkt das Schicksal? Welcher Teil von uns übt den größten Einfluß aus und bestimmt, was wir in Zukunft sein werden? Es ist der höhere Teil; und der niedere Teil ist sowohl unser Ausdrucksmittel als auch der Stein, über den wir stolpern. Daher sind wir nichts als ein Ausdruck von uns selbst, ein Ausdruck unseres Karmas auf allen Ebenen. Wir formen unsere eigene Zukunft, wie wir unsere Gegenwart und Vergangenheit gestaltet haben. Wir tun das mit unserem Willen, nach unserer eigenen Wahl, mit unserem Unterscheidungsvermögen. Diese Eigenschaften gehören alle zu unserem höheren Teil, der, so gut er kann, durch sein eigenes Organ, die Zirbeldrüse, arbeitet. Und diese ist, wie gesagt, so unauflöslich mit Karma verbunden wie mit jedem einzelnen von uns; sie zeichnet die erfolgreichen Schritte der Wahl und der Unterscheidung genauso auf wie die des Versagens.
Wir lernen durch unsere Fehler. Kummer, Schmerz und Leiden sind unsere besten Lehrer. Laßt uns jedoch nicht danach trachten, "gut" zu sein; der Mensch, der danach strebt, "gut" zu sein, handelt in einer gewissen Art spiritueller Selbstsucht, denn er sucht etwas für sich selbst. Der Weg zum Berggipfel ist Unpersönlichkeit, denn der wahrhaft und geistig unpersönliche Mensch vollbringt niemals eine böse oder selbstsüchtige Tat. Wenn er das täte, wäre er persönlich. Würde der unpersönliche Mensch taub für einen Hilferuf, für Bitten um Mitgefühl und Mitleid sein, dann wäre seine Unpersönlichkeit nur ein Blendwerk.
Derjenige, dessen Sicht klar ist, dessen Herz voll Ruhe und dessen Geist unbewegt ist, der verlangt weder nach Gutem noch nach Bösem; sein ganzes Wesen ist auf das überirdische Licht aus dem Inneren gerichtet. So lange es in der Welt gute Menschen gibt, so lange wird es böse geben - und umgekehrt. Die Rettung des Menschengeschlechts wird nicht durch das Verlangen nach dem Guten und danach, gut zu sein, zuwege gebracht, sondern durch ein Sehnen, das über allen gewöhnlichen Begriffen steht: unpersönlich zu sein, sich selbst zu vergessen, so daß die allmächtige Liebe und das allmächtige Mitleid, die das Universum in sicherer Hand halten, ohne irgendeine Schranke des niederen Selbst durch das menschliche Herz strömen können.
Wie alles andere offenbart sich Karma in Energien von unterschiedlicher Stärke. Die stärksten setzen sich gewöhnlich zuerst durch. Jede karmische Auswirkung kommt zur geeigneten Zeit und am rechten Ort zur Auswirkung. Kein Karma kann abgewendet werden. Es kann allerdings für eine gewisse Zeit zurückgedämmt werden, doch eines Tages wird es zum Ausbruch kommen. In Wirklichkeit bedingt das Zurückdämmen eine Anhäufung von Karma, nämlich von anderem Karma einer naheverwandten Art, das deshalb die Wirkung des so zurückgestauten Karmas verstärkt.
Wir können uns auch nicht für eine falsche Tat entschuldigen, indem wir sagen: "Wie hätte ich anders handeln können? Es war mein Karma." Damit betrügen wir uns selbst mit Worten. Wenn wir handeln, handeln wir nach freier Wahl und schaffen neues Karma. Bedacht lenken wir unseren Geist und unser Bewußtsein im Denken und Tun. Ist unsere Wahl auch karmisch? Gewiß, denn alles, was wir denken oder tun, ist karmisch, aber wir können unser Karma in jedem Augenblick ändern, indem wir neues Karma schaffen und dem alten eine bessere Richtung geben, denn durch unsere spirituelle Natur haben wir Energie erzeugt. Der Mensch hat in jedem Augenblick die göttliche Fähigkeit der freien Wahl; er kann sich bemühen und neue Wege einschlagen, die die Bereiche der Natur fortwährend für ihn liefern. Die Ausdehnung des Universums ist grenzenlos, und das Bewußtsein des Menschen ist nicht nur ebenso alt wie das Universum, sondern auch spirituell von gleicher Größe.
Ein starker Mensch macht auf die Umgebung, auf die Umstände, auf die anderen Menschen einen starken Eindruck, und die Reaktion auf ihn ist dementsprechend stark. Kraftlose Menschen machen einen sehr schwachen Eindruck, und die Reaktion ist entsprechend schwach. Doch der Mensch, der einen starken Willen hat, handelt unvermeidlich entschlossen in allem, was er tut; und sei es im Guten oder im Bösen, die Reaktion wird entsprechend sein. Folglich muß der Mensch um so sorgfältiger sein, je höher er auf dem Pfad der Entwicklung voranschreitet.
Alles Karma wirkt von innen nach außen; es hat seinen Ursprung im Innern und drückt sich lediglich auf der körperlichen Ebene aus. Der Mensch ist es, der sein eigenes Karma schafft, denn dabei gestaltet er sich selbst. Der Mensch ist sein eigenes Karma, sein eigenes Schicksal - das Schicksal, in das er gerät, ist gerade das, das er für sich gestaltet hat, und dies tut er, indem er sich selbst, seinen eigenen Charakter formt. Was er tut, tut er aus sich selbst, und die Reaktion der Natur wird ihn treffen. Es gibt Karma verschiedener Art: mental, psychisch, emotional, vital, astral, physisch; und es gibt individuelles oder persönliches Karma wie auch kollektives Karma. Wir müssen am Karma der Welt teilnehmen, am Karma unserer Rasse, am Karma unserer Familie, unseres Sonnensystems und unseres Universums, weil wir uns selbst dahin gestellt haben, wo wir sind - und niemand sonst.
Wenn der Mensch aus seinem Innern seine inneren Kräfte in Übereinstimmung mit dem kosmischen Gesetz entwickelt, kann er in der spirituellen Entwicklung einen so hohen Rang erreichen, daß er dadurch in seiner eigenen Sphäre ein unmittelbarer und selbstbewußter Mitarbeiter der kosmischen Gesetze wird. Wenn er nicht gegen die Ordnung der Natur handelt, gibt es keine Reaktion der Natur, und somit kann man sagen, daß er insofern "über Karma hinausgestiegen ist" als die Bezeichnung Karma sich auf seine eigene Entwicklung, auf seinen Charakter und seine Tätigkeit als Mensch bezieht.
Der spirituelle Teil wird nicht durch irgendein äußeres Karma berührt, ausgenommen durch das des Universums, von dem wir ein untrennbarer Teil sind, und auch dann nur, weil wir unser Sein als ein monadisches Wesen in dem zusammengesetzten Ganzen einer größeren Wesenheit haben. Doch unser persönliches Karma wirkt niemals auf der spirituellen Ebene, weil diese Ebene die Quelle ist, aus der es entspringt. Wenn ein menschliches Wesen die Entwicklungsstufe erreicht hat, wo es ganz unpersönlich ist, schafft es kein persönliches Karma mehr. Folglich wirkt es um sich selbst kein weiteres Schicksalsgewebe. Es wird ein unpersönlicher Diener derer, die spirituell über ihm stehen.
Es gibt natürlich unpersönliches Karma, weil Karma die Folge von Ursache und Wirkung ist, die aus dem entsteht, was der Handelnde denkt und tut; doch die Feststellung, daß er kein Karma mehr wirkt, wenn er Göttlichkeit erreicht hat oder schon als menschliches Wesen wirklich unpersönlich geworden ist, besagt, daß er nicht mehr an die Fesseln der Persönlichkeit gekettet ist. Er ist davon befreit und lebt als Diener und Mitarbeiter des Naturgesetzes. Doch das universale Karma des kosmischen Seins ist der letzte Hintergrund der karmischen Auswirkung jedes Einzelwesens, weil es untrennbar mit dem Universum verbunden ist. Dem universellen Karma ist der höchste Gott ebenso unterworfen wie die einfachste Ameise, die einen Sandhügel hinaufklettert, nur um wieder hinabzurollen.
Wenn der Mensch beinahe Göttlichkeit erreicht hat, weil er mit der göttlich-spirituellen Natur seiner eigenen Hierarchie eins geworden ist, untersteht er der Herrschaft der allgemeinen Wirkungen in dieser Hierarchie nicht mehr. Er ist der Herr ihres Lebens geworden, weil er ein Diener ihrer innersten Impulse und Befehle ist. So kommt es, daß sich der Mensch über die karmische Sphäre, in der er sich befindet, erheben kann und doch noch innerhalb des hierarchischen Karmas des kosmischen Seins bleibt.
- Fountain-Source of Occultism, Seite 410-414