Denk an die Quelle
- Sunrise 2/1979
Wenn du von dem Wasser trinkst, denk an die Quelle." Diese alte chinesische Lebensregel scheint mir den eigentlichen Kern des menschlichen Dilemmas zu treffen. Je mehr man darüber nachdenkt, desto ausgedehnter wird ihre Anwendung, umso größer ihre Reichweite. Was wissen wir überhaupt über uns, über die Quelle, aus der wir kamen? Wie können wir, wenn wir nicht wissen, wer wir sind, den Grund für unser Sein, für die wahre Bedeutung der Seele erfassen?
Nur wenige werden daran zweifeln, daß ein kosmischer Plan existiert, der auch das Schicksal des Menschen und der niedrigeren Naturreiche mit einschließt. Aber kann dieser Plan genügend erkannt werden, damit er eine vertrauenswürdige Grundlage bietet? Schon eine geringe Kenntnis von dem heiligen Erbe der Welt erbringt die Bestätigung, daß die Menschheit das besondere Interesse einer geistigen Schirmherrschaft genossen hat und immer genießen wird - einer Vereinigung fortgeschrittener Menschen, die ihr Leben nicht nur dem Suchen nach der erkennbaren Wahrheit und ihrer Weitergabe gewidmet hat, sondern auch dem Schutz unseres Planeten und seiner Menschheiten. Zeitalter für Zeitalter senden sie einen aus ihren Reihen - einen Lichtbringer -, um das "dunkle Holz unserer Naturen" neu zu entzünden. Wenn die Stunde günstig ist, wird das Feuer des höheren Strebens bei vielen geschürt. In ungünstigen Zeiten reagieren nur wenige, aber immer gibt es Menschen, die empfangen und weitergeben.
Uns sind in der Tat goldene Schlüssel hinterlassen worden, aber wie viele von uns sind, wenn es um ihre Anwendung geht, darauf vorbereitet, die Bedingungen zu erfüllen, die notwendig sind, um diese Schlüssel im Schloß unseres Bewußtseins mit Einsicht umdrehen zu können? Das ist umso eigenartiger, weil jeder, der die Mühe auf sich nimmt, diese Wahrheiten zu prüfen, weiß, daß sie die Grundlage einer lebensfähigen Philosophie für das heutige Leben bilden. So war es auch immer in den vergangenen Zeitaltern; dennoch bleiben diese Wahrheiten, trotz unserer Versäumnisse, die Triebkraft für eine echte religiöse Erfahrung und für die Ausübung jener ethischen Ideale, die die Seele erheben.
Denk an die Quelle - dieses Gebot wächst einem ans Herz. Wie oft bewundern wir die Vollkommenheit der Schöpfungen der Natur: die Libelle, die über einem Teich schwebt; das taubehängte Spinnengewebe bei Sonnenaufgang. Wer oder was schuf die Geometrie des eingefangenen und reflektierten Lichts? Alle Völker bestätigen das Einssein, daß wir, zusammen mit jedem Wesen in der ganzen Schöpfung, Abkömmlinge von Göttern sind; Kinder der Sonne, des Mondes und der Sterne. Fantasie? Anmaßende Einbildung? Oder liegt hier eine den Naturgesetzen entsprechende Wahrheit vor, die unser Leben direkt betrifft?
Es ist bemerkenswert, daß mündliche und schriftliche Überlieferungen, wenn auch mit verschiedenen bildlichen Ausdrücken, denselben Ablauf der evolutionären Ereignisse wiedergeben: die lange Nacht der Ruhe vor dem Tag der Offenbarung - Dunkelheit lag auf dem Wasser; Chaos, formlos und leer; eine Leere, die eine Fülle verbirgt. Und dann, wenn Göttlichkeit, Leben und Bewußtsein über die Tiefen des Raums schweben, wird die Dunkelheit zu Licht, Chaos wird Kosmos, Bipolarität entsteht, und von einem einzelnen Punkt aus ergießt sich das Licht in eine Reihe von "Zahlen", Welten, Monaden, und ein sieben- oder zehnfältiges Universum wird ins Leben geatmet. Das Eine ist das Viele geworden - ein ungeheurer Ausstoß von Leben. Bewußtseinsbrennpunkte, Energien schießen aus der ungeheuren Ausdehnung des Raumes hinab in irdische Sphären und nehmen ständig dichter werdende Ausdrucksformen an, um Erfahrung zu sammeln.
Ein wunderbares Mysterium, und wären wir nicht wirkliche Teile des Einen, des Logos, der ursprünglichen Gottheit, dann wären wir nicht hier auf der Erde und würden nicht erneut versuchen, das Geheimnis zu ergründen. Für uns, die Betrachter des kosmischen Dramas, ist das Universum ein Spiel des Lichts auf der Dunkelheit in und auf dem Bildschirm der Zeit und des Raumes. Die Schattenbilder sind nichts anderes als die Gesamtheit seiner Lebewesen, jedes in seinem eigenen Entwicklungszustand: Milchstraßen, Sonnen, Planeten, Menschen, Tiere, Pflanzen, Minerale und Elementale oder beginnende Wesenheiten, einschließlich jenen, die das Atom beleben, das selbst eine kleine Welt, ein Sonnenkosmos im kleinen darstellt.
So wie unser Planet Erde zuerst ätherisch war und sich nur allmählich in seine gegenwärtige Form verdichtete, so wurde auch in uns, bei unserem mutigen "Wagnis in die dunkle Tiefe hinab" - das Paradies ist jetzt verloren - das Verlangen nach irdischer Erfahrung immer stärker, bis wir nach Erreichen des tiefsten Punktes des Bogens die Wanderung nach oben wieder antraten, "zum Wiederaufstieg" - um das Paradies wiederzugewinnen. Das Streben nach dem Ursprung, die Sehnsucht nach dem Vater, der Drang, mit dem Einen wieder zu verschmelzen, ist in jedem Lebensteilchen vorhanden und kommt noch in der menschlichen Gattung wegen des Selbstbewußtseins verstärkt zum Ausdruck. Diese Heimreise, dieser Wiederaufstieg ist jedoch keinesfalls ein automatischer Prozeß. Er ist auch keine bloße Wiederholung. Obwohl wir anscheinend unseren Weg in umgekehrter Richtung wieder zurückgehen, ist es in Wirklichkeit ein Vorwärtsschreiten. Langsam und oft schmerzhaft muß jeder Schritt des Weges bewußt gegangen werden, weil in diesem Stadium unserer Menschheitsgeschichte von uns erwartet wird, daß wir unser menschliches Potential voll zum Vorschein bringen, so daß wir, wenn wir das Ende des großen Zyklus erreichen, erleuchtete Gottheiten sein werden.
Diese Einhüllung in die Materie während langer Zeitalter und unsere bewußte Lösung von ihrem Zug nach unten ist grundlegende Theosophie. Es ist auch die Grundlage der Philosophie der Stoiker, der Neuplatoniker, der Lehren der Maya und von vielen anderen erleuchteten Überlieferungen. Die Kabbala erzählt zum Beispiel in ihrer charakteristischen, bildlichen Darstellung die gleiche Geschichte: Wir Menschen hatten ursprünglich "Mäntel aus Licht", als wir jedoch in die Materie eintauchten, wurde es notwendig, daß wir "Röcke aus Fellen" anlegten, womit angedeutet ist, daß wir eines Tages diese Röcke aus Dunkelheit wieder ablegen und wieder unsere Mäntel aus Licht, die Gewänder der Gottheit, verwenden werden.
Bezeichnenderweise hat unsere Erdkugel ebenfalls einen Prozeß der Verfeinerung begonnen, als sie einige ihrer schwereren Elemente durch Radioaktivität abbaute. Wir weisen hier auf die bemerkenswerten Schlußfolgerungen hin, die von Arthur Young angestellt wurden, einem erfahrenen wissenschaftlichen Denker und Erfinder, der in der Quantenphysik eine Beziehung zu einem absteigenden und aufsteigenden Bogen in den Naturreichen sieht, wie es in seinem kürzlich erschienenen Buch The Reflexive Universe (Das denkfähige Universum) zum Ausdruck kommt, das in dieser Ausgabe besprochen wird.
Erstaunlich ist, daß das Ganze größer ist als die Summe seiner Teile. Gott verteilte sich in eine Vielheit, das Licht dehnte sich in eine nicht errechenbare Anzahl von Funken, Lichtatomen aus; die Wiedervereinigung dieser einzelnen Teile ergibt jedoch seltsamerweise einen zusätzlichen Quotienten von Lichtenergie über die Selbsterleuchtung der Vielzahl der einzelnen Lichtteilchen hinaus, die bewußt den Bogen des Aufstiegs beschreiten. Vielleicht sehen wir allmählich ein, warum und in welcher Art und Weise ein Verständnis des ewigen Wechselspiels der polaren Gegensätze unser Leben so einschneidend beeinflußt: Ausatmen/Einatmen, Evolution/Involution, Ausdehnung/Zusammenziehung; Flut und Ebbe, auf die der Rückfluß folgt; Geburt und Tod, dem die Wiedergeburt folgt. Der lange Zyklus des menschlichen Fortschritts ist nicht nur ein Bogen, sondern in Wahrheit eine Spirale, die sich zweckvoll nach unten windet und dann, wenn der Nadir erreicht ist, sich wieder nach oben windet. Dieser Prozeß ermöglicht, daß die Wirkung mit der Ursache zusammentrifft und der Seele die erforderliche Unterweisung erteilt wird.
Die Kenntnis des zyklischen Gesetzes, von Reinkarnation und Karma, ist keine Garantie für eine weise Lebensführung, wie uns die Geschichte an vielen Beispielen aufzeigt. Für uns im Westen, die wir viele Jahrhunderte lang über unsere innige Verflechtung mit dem eigentlichen Wesen der Natur in Unkenntnis gelebt hatten, kommen diese Ideen jedoch als ein erfrischender Trank. Sie erinnern uns an unseren Ursprung im Licht und an unsere wiederholten Gelegenheiten, die zerstörte Harmonie wiederherzustellen, während wir unsere verborgene Stärke entwickeln. Nicht weniger wichtig, bestätigen uns diese Ideen, daß wir nicht allein sind: Wir sind untrennbare Aspekte des Universums, weil wir das Universum sind.
Ich glaube, eine der größten Gefahren in unserem heutigen Leben ist der Zweifel an uns selbst. Wir sehen so viel Dunkles und Schicksalhaftes, ja, Dämonisches, daß wir unsere innere Zuversicht, daß Wahrheit und Schönheit die Wirklichkeiten sind, verloren haben. Wir haben die einfache, aber bedeutungsvolle Tatsache vergessen, daß Licht Schatten erzeugt, und nicht umgekehrt; daß Leben, Bewußtsein und Geist sich in materielle Formen kleiden, und nicht umgekehrt. Liegt darin nicht die Gewißheit, daß das Licht schließlich der Dunkelheit überlegen ist?
Daher lassen Sie uns, während wir von den Wässern der Mühsal und Freude trinken, an die Quelle unseres Wesens denken, an unseren Ursprung im Göttlichen, wissend, daß, wenn wir danach streben, wahrhaft menschlich zu werden, wir durch das Buddha-Licht im Inneren schneller vorankommen. Wenn das geschieht, stellt sich augenblicklich eine synchrone Vibration mit den Lichtenergien ein, die die Menschheit beschützen, und wir sind gesegnet und werden ermutigt, unerschrocken in die Fußstapfen der Mitleidsvollen zu treten, die uns auf dem Weg nach oben vorangehen.