Die Macht zu wählen
- Sunrise 1/1979 Sonderheft: Mensch im Kosmos: Kosmos im Menschen
Geschichte ist all das, was früher geschah, im Großen und im Kleinen, in der Natur und im menschlichen Bereich. Der Regensturm macht bestimmt genauso Geschichte wie der Diktator, aber bevor nicht unser Erkenntnisvermögen umfassend genug ist, die großartige Gesamtheit zu begreifen, zu der die unendlich vielen Teilchen beitragen, werden wir nie erkennen, in weicher Weise dies geschieht. Eigentlich müßte die Geschichte auch von der Geburt der Welten, Götter und Menschen berichten. Sie würde damit die Verwandtschaft zwischen jedem einzelnen und zwischen allem und jedem Regentropfen, jeder Eidechse, jedem Menschen und jedem Planeten beschreiben. Obzwar sie alle getrennt zu leben scheinen, vermischen sich doch alle Naturreiche in der großartigen Ökologie der Natur.
Fast alle alten religiösen und philosophischen Systeme gingen davon aus, daß jede Einheit, vom winzigen Atom bis zu unserem Heimatuniversum mit seinen Milliarden Sonnen, eine Verkörperung von Bewußtsein ist, eines Bewußtseins, das sich seiner Entwicklung entsprechend zum Ausdruck bringt. Alle sind mit göttlichem Leben erfüllt, und jede Einheit ist ein einzigartiger Ausdruck davon. Die Vorstellung von einem Kosmos, der von Wesen überquillt, führte ohne Zweifel zu der Anschauung, daß es eine Vielzahl von Göttern gebe, deren Funktion es war, die harmonische Arbeitsweise des Kosmos zu unterstützen.
"Ursprung des Lebens" ist somit in Wirklichkeit eine irrtümliche Bezeichnung, wenn wir annehmen, daß Bewußtsein ebenso wie Materie von Beginn an existiert haben. Leben wäre dann kein spielerisches Nebenprodukt materieller Kombinationen, denn es wäre immer vorhanden gewesen. Wenn es alle Dinge beseelt, muß unser Verständnis darüber, was es ist, erweitert werden. Unsere Auffassung in bezug auf Evolution werden wir ebenfalls ernsthaft revidieren müssen: Wir werden die Vorstellung mit einzuschließen haben, daß jede Welt ein Wesen ist, in dem Scharen anderer Wesen leben. Intelligenz muß ebenfalls vom Anfang des Universums an vorhanden gewesen sein und es erfüllt und den Entwicklungsprozeß geleitet haben. Eines Tages wird es vielleicht durchaus wissenschaftlich sein, sich auf jene ferne Vergangenheit zu beziehen, in der die Herren der Schöpfung mit ihren intelligenten Kräften das Chaos ordneten und die Gottheit das Universum ausatmete.
H. P. Blavatskys monumentales Werk Die Geheimlehre war ein Versuch, die Ideen, die das Erbe der Menschheit aus frühester Zeit gewesen sind, in moderner Sprache neu zu formulieren. Ihr erster Band behandelt die Entstehung der Welten (Kosmogenesis) und Band zwei die Geschichte der Menschheit (Anthropogenesis). Sie übernahm es, die Stadien zu beschreiben, die jedes beliebige universale System durchmacht, wenn der göttliche Impuls, der aus den Tiefen des Raumes emaniert, zur allmählichen Entfaltung kommt. Hinsichtlich des Menschen zeigte sie, daß es uns bewußt werden muß, daß unsere eigene Seele ein Teil der Weltseele, unser eigenes Leben ein Teil des kosmischen Lebens ist und daß unsere eigene Zukunft mit jenen majestätischen Prozessen verknüpft ist, durch die in endloser Zeit Atome zu Buddhas und Buddhas zu Sonnen werden.
In dieser riesigen Ansammlung von Wesen, in dieser Pilgerfahrt von Lebewesen, trat eines der erregendsten und wichtigsten Ereignisse ein, als die Menschheit nach viele Zeitalter währender menschlicher Evolution genügend vorbereitet war, das Licht des Geistes, Selbstbewußtsein, zu empfangen. Von da an war der Mensch von allen niederen Reichen abgesondert. Dieses Ereignis wird manchmal das Erwachen des Geistes (mind, Gemüt, Denken, Seele) genannt und wird durch die Vermittlung höherer Wesen bewirkt, die im Osten Söhne des Denkens (Mânasaputras) genannt werden. Man erinnert sich ihrer aber auch in der ganzen Welt in zahlreichen anderen religiösen Mythen, wie z. B. in der Geschichte von Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl und es den Menschen übergab. Noch näher steht uns der christliche Mythos von Luzifer (wörtlich "Lichtbringer"). Osiris in Ägypten erfüllte in einer seiner Rollen dieselbe Aufgabe. So kennzeichnet das Menschenreich in der Lebensgeschichte unserer Erde mit all ihren inneren und äußeren Aspekten den Wendepunkt in der Evolution: denn diejenigen, in welchen das Denken erwacht ist, können nicht länger das Leben im Paradies genießen, das für den frühen oder präadamitischen Menschen und die niederen Lebenswogen oder Reiche charakteristisch ist, in welchen der Instinkt über das 'schlafende' oder 'heranwachsende' Denkprinzip herrscht.
Der Mensch ist wahrhaft ein Kind der Unendlichkeit. Er durchwandert in endloser Zeit die Wege des Universums, "verweilt mal hier, mal dort und lernt überall", wie es G. de Purucker so schön ausdrückt. Der Mensch kommt als unbewußter Gottesfunke aus der Matrix des universellen Seins hervor, wandert periodisch wiederkehrend während zahlloser Zeitalter abwärts in noch materiellere Ausdrucksformen und erlangt schließlich Selbstbewußtsein. Das ist sein derzeitiger Zustand. Am Ende wird er als ein Gott in Erscheinung treten. Er begann als ein Gott, aber unbewußt; er wird als ein Gott mit vollem Selbstbewußtsein enden - wenigstens in dieser Hierarchie.
Es ist wohl angebracht, jetzt bei unserer gegenwärtigen Inkarnation in dieser flüchtigen Ära unserer Geschichte zu verweilen, denn hierher hat uns unser Karma gestellt, um alte Ursachen abzuarbeiten und neue Saaten für zukünftige Ernten zu säen. Die Arena, in der wir uns befinden, ist der lebenswichtigste und schöpferischste Teil der menschlichen Pilgerreise. Wir dürfen nicht in der Vergangenheit leben oder unsere Tage mit Spekulationen über die Zukunft verschwenden. Wir müssen heute und immerzu im Ewigen Jetzt leben und dem gegenwärtigen Augenblick unser Bestes geben. Das soll nicht heißen, daß es nutzlos ist, unsere kosmische Vergangenheit zu verstehen. Ganz im Gegenteil. Wir sollten das Leben und unsere Brüder aus dem menschlichen Reich und den anderen Reichen ganz bewußt so betrachten, daß wir alle Zeiten hindurch mit ihnen eine Gemeinschaft bilden. Wie anders könnten wir sonst die gottgleichen Möglichkeiten erkennen, die diese Reihen von Leben zu bieten haben? Auf diese Weise können wir unser Haupt "über die donnernden Gezeiten" erheben, ohne von ihnen unwissend und gedankenlos mitgerissen zu werden.
Man sagt, "wie ein Mensch in seinem Herzen denkt, so ist er." Ebenso gilt, daß wir oft das Werkzeug unserer alltäglichen Gedanken und Leidenschaften sind, indem wir es zulassen, daß unser Bewußtsein bei niederen Gedanken und üblen Impulsen verweilt. Unser Leben reflektiert diese Kurzsichtigkeit, wenn wir uns nach dem Modell unserer niederen Natur gestalten. Glücklicherweise hat die Menschheit eine innere, höhere Natur, die die echte Quelle der ethischen Instinkte ist. Es lebt in jedem Menschen der innere Gott, der die irrende menschliche Seele anspornt, über sich selbst hinauszugehen.
Im gegenwärtigen Leben fehlt die Gewißheit, daß durch alle Leiden, Unruhen und Enttäuschungen mit der endlosen Kette von Kompromissen ein evolutionärer Prozeß abläuft. Tatsächlich bietet uns gerade die Unruhe des Lebens die Gelegenheit, unsere Wahrnehmungen zu vertiefen und unsere Entschlüsse zu stärken. Ohne die Schwierigkeiten, in die wir uns letzten Endes ja selbst bringen, würden wir niemals die Fähigkeiten entwickeln, sie zu überwinden. Wir sind unser Karma, individuell und als Familien, Nationen und Rassen. Von Leben zu Leben haben wir als einzelne Personen oder in kleinen und großen Gruppen Ursachen in Bewegung gesetzt, in die wir zusammen mit allen anderen verflochten sind. Nur wenn wir in den Ereignissen des Lebens die Qualität unserer vergangenen Saat erkennen, können wir Schritte zur dauerhaften Lösung unserer Schwierigkeiten unternehmen.
Ich glaube, wenn wir hinter die Ereignisse blicken können und die Qualität dessen erkennen, was sich in unseren täglichen Erfahrungen sichtbar auswirkt, werden wir einmal den Punkt erreichen, wo wir mit der natürlichen Entfaltung unseres Lebens zusammenarbeiten. Wir werden fähig sein, dieselben alten Fehler zu vermeiden, die daraus entstehen, daß wir das Leben lediglich oberflächlich betrachten und negativ auf eine Umgebung reagieren, die uns nur dazu bringen will, uns selbst ins Gesicht zu sehen. Aber die meisten von uns sind derart in die Ereignisse des Lebens verstrickt, daß sie die erstaunlichen Möglichkeiten vergessen haben, die in unserer Macht liegen, zu wählen. Wir achten nicht immer darauf, unseren Willen bewußt einzusetzen, und folgen deshalb Abwegen. Wir sind im Materiellen versunken. Die innere Stimme, die das unterscheidende Element in unserem Leben sein sollte, kann mit ihrer schweigenden Gegenwart nur dann und wann in unser unruhiges Gemüt vordringen.
Die Menschheit hat in ihrer Entwicklung den Punkt erreicht, an dem eine große Zahl Menschen versucht, ihre Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen. Das bringt eigene Gefahren mit sich. Doch anscheinend ist das der nächste Schritt für die Menschheit, denn wenn sich einzelne Menschen vervollkommnen, dann wird unser Leben hier vernünftiger, sicherer und produktiver werden. Ein solches Vorhaben kann jedoch nur vor dem Hintergrund einer Evolution in vielen Leben richtig bewältigt werden. Millionen Menschen - die meisten in der Welt - haben nur den Drang nach Verbesserung und Vorankommen, aber keine Philosophie. Dennoch kommen sie vorwärts, weil die höhere Natur in uns allen lebendig ist. Doch es stärkt einen Menschen, wenn er versteht, daß viele Leben ihn an seinen jetzigen Platz geführt haben und daß Lebenszeiten vor ihm liegen, in denen er das werden wird, zu dem er sich jetzt macht. Dies klar zu sehen bedeutet ein echtes Erwachen. Er erkennt, daß er sich nicht länger treiben lassen kann. Er entdeckt in seinen Pflichten und Verpflichtungen die Gelegenheiten, die er am meisten braucht, um die Stärke und das Mitleid hervorzubringen, die er ersehnt hat.
Selbstgeleitete Evolution ist eine spirituelle Alternative zu den modernen Evolutionstheorien - und das Wort 'selbst' in selbstgeleitet sollte mit Großbuchstaben geschrieben werden! Denn der Sinn des Lebens ist Entfaltung, die Herrlichkeit aus dem Inneren hervorzubringen, die dort potentiell vorhanden ist. Unsere Umgebung ist das Milieu, das den Vorgang stimuliert - und wir haben diese Umgebung Stück für Stück durch unsere vergangenen Saaten geschaffen. Wir können daher auf sie eingehen, uns über sie erheben und sie ändern. All das ist schön, erfreulich und erhebend. Alle diese Dinge können aber nur so weit verbessert werden, wie der Mensch an Größe zunimmt und sein Empfindungsvermögen vertieft. Er wird in einer Weise wissen, fühlen und erkennen, von der die meisten von uns nur den äußersten Rand erfassen können. Die ganze Natur wird nun mit ihm in der Sprache des Wachstums sprechen. Je mehr wir sind, desto mehr werden wir sehen und verstehen.
Es wird gesagt, daß jedes Wesen entweder ein der menschlichen Stufe entsprechendes Stadium durchschritten hat oder es irgendwann tun wird. Diejenigen, die heute als Mensch erfolgreich das Menschengeschlecht durchlaufen, werden zur gegebenen Zeit als Götter geboren werden; dann als höhere Götter und schließlich in noch großartigere Hierarchien der Erfahrung übergehen, in denen unsere Götter vielleicht wie Atome sind. Denn die größere Evolution vollzieht sich im endlosen Raum und in unendlicher Zeit. Das Leben einer Galaxie ist wie eine Sekunde der Ewigkeit. Unendlichkeit liegt hinter uns, in uns und vor uns.
Die nächsten Schritte liegen jedoch unmittelbar vor uns. Wenn sie auch unter dem Normalzustand verborgen, in gewohnheitsmäßige Routine gekleidet und als Unbequemlichkeiten getarnt sein mögen, sie sind die goldenen Stufen, die zu einem größeren Leben führen.