Kinder des Regenbogens
- Sunrise 1/1979 Sonderheft: Mensch im Kosmos: Kosmos im Menschen
Vor Beginn der Neugestaltung gab es nur den Schöpfer und Bewahrer von Allem, den All-Vater, Gott-Vater. Nichts anderes war während der großen Zeiträume der Ewigkeit. Dann machte sich Awonawilona in sich selbst eine Vorstellung von dieser Gestaltung und richtete sein Denken in den Raum hinaus. Nebel und Dämpfe mit großer Wachstumskraft entwickelten sich und wurden sichtbar. So wurde der Allbewahrer durch sein angeborenes Wissen zur zentralen Sonne; mit der Erhellung des Raumes verdichteten sich die großen Nebelwolken und entwickelten sich zu den großen geoffenbarten Wassern des Raumes.
Auf seine eigene Substanz zurückgreifend, gestaltete der Sonnen-Vater den Samenstoff der vierfältig bewahrenden Mutter-Erde und den das All umhüllenden Vater-Himmel. Als beide zusammenlagen, zeugten sie alle Menschen und Geschöpfe der Erde. Dann schob die Erden-Mutter den Himmels-Vater von sich, um einen großen Zwischenraum für ihre Brut zu schaffen, und bildete Schaum und Gischt, die der Himmels-Vater mit seinem kalten Atem härtete, damit alle ihre Geschöpfe Lebensraum erhielten. Nachdem er das getan hatte, spreizte der Himmels-Vater seine Hand, in der er sieben goldene Maiskörner hielt, in alle Regionen der Weltdämmerung hinaus und sprach:
Wenn der Sonnen-Vater nicht nahe ist und deine Hochebenen wie die Finsternis selbst sind, in der alles verborgen ist, dann sollen unsere Kinder von Lichtern geführt werden - gleich diesen Lichtern aller sechs Regionen, die sich um die mittelste drehen - wie in und um den mittelsten Ort, wo diese unsere Kinder wohnen, all die anderen Regionen des Raumes liegen!
So traten nach der Erzählung der Zuni-Indianer der Mensch und alle seine jüngeren und älteren Brüder wieder zu einer neuen Pilgerfahrt der Offenbarung an, weiter und durch die Welten des Seins, die als Gedanke im Geiste von Awonawilona, dem All-Bewahrer, wiedererschienen waren. Die Erzählung kann allgemein als die Vorstellung aller amerikanischen Urbewohner in bezug auf unser Menschenreich angesehen werden: Aus der Gottheit geboren, in Materie gekleidet; zuerst in Nebelform, später jedoch physisch. Der Geist trennt sich von der Substanz, um der Evolution Spielraum zu geben. Aber immer verbindet die beiden eine sechsstufige Regenbogenbrücke als die Lichter des Sonnenvaters für die Kinder, die jetzt auf den dunklen Hochebenen der Erdmaterie leben und handeln, um sie zur Gottheit zurückzugeleiten. Bei ihrer früheren Pilgerfahrt war Großmutter Mond ihre Mutter gewesen. Dieses Mal ist die Erde ihre Mutter. Aber die Großmutter hilft noch der Mutter Erde und ihren Kindern und übt noch einen Einfluß auf sie aus.
In der niedersten der vier Höhlen-Schöße der Welt müssen die Samenmenschen und Samengeschöpfe unfertig und dicht zusammengedrängt jetzt ihren Ausgang zu einem höheren Ort erarbeiten, indem sie weiser und menschenähnlicher werden. Alles ist hier in Dunkelheit. Dann kommt der älteste, fortgeschrittenste und weiseste der weisen Männer, der allheilige Meister, "der Krieger des Regenbogens", Poshaiyanka, der älteste Bruder, der, voll Mitleid für die Menschen und alle Geschöpfe, kraft seiner angeborenen Weisheitserkenntnis einen Ausgang von diesem Ort nach oben findet. Der Weg ist so eng und dunkel, daß nicht alle folgen können, aber er geht voran, dem Tageslicht entgegen und sucht den Sonnen-Vater und beschwört ihn, die Menschheit und alle Geschöpfe unter ihr zu befreien.
Der Sonnen-Vater antwortet, indem er die Geliebten Zwillinge von einer Schaumkronenwelt zur Erde hinunter sendet, wo die Erden-Mutter sie gebiert. Da sie die dem Sonnen-Vater eigene Weisheitserkenntnis besitzen, belehren die Zwillinge die Menschen und alle Geschöpfe. Sie formen eine Ranke und fordern die Menschen und Wesen auf, ihnen auf der Ranke in die zweite Welt zu folgen, die zwar immer noch dunkel wie eine stürmische Nacht ist, jedoch mehr Raum bietet. Viele fallen zurück und können den Aufstieg nicht durchstehen. Sie bleiben in der Unterwelt. Später führten die Zwillinge jene, die folgen konnten, zur dritten großen Welthöhle, welche heller war, wie ein Tal im Sternenlicht. Sie nannten sie Ort der Geschlechtlichen Zeugung oder Schwangerschaft. Zusammen mit den Göttern und geringeren Geschöpfen erreichten im Laufe der Zeit sechs Gruppen der Väter der sechs Menschengattungen diese Welt. Generationen ihrer Völker wurden dann nacheinander in die nächste, die vierte Welthöhle geführt, in die Letztenthüllbare oder Geburt-Welthöhle. Hier war es hell wie in der Dämmerung. Aber wie zuvor gingen viele verloren und waren nicht fähig, diese Welt zu erreichen oder in ihr zu leben.
Bildtext: Ein indianisches Symbol des Südwestens für die Sechs-Grad-Region-Menschen der höheren Welten, deren Einfluß sich auf diese Erde ergießt.
Mit dem Licht der Dämmerung begannen die Menschen zu verstehen und zu lernen. So lehrten die Zwillinge sie, zuerst den Sonnen-Vater zu suchen, der ihnen Weisheit und Lebenserkenntnis geben würde. Schließlich führten die Göttlichen Zwei die Völker und alle Arten von Wesen in Intervallen weiter in die fünfte große, obere, voll erhellte Welt, die die Welt des Verbreiteten Lichts und Wissens oder des Sehens genannt wird. Aber es dauerte lange Zeit, bis die Menschen eine so große Lichtfülle ertragen konnten, ohne geblendet zu werden. Diejenigen, die sie nicht ertrugen, konnten in der fünften Welt, in der wir jetzt alle sind, nicht einmal einen kleinen Fußbreit Platz fassen. Die volle Erfahrung der fünften Welt liegt aber noch weit entfernt vor den Menschen und anderen Geschöpfen. Sie ist dort, wo die älteren Brüder wohnen, die, wie Poshaiyanka, weiter voran, dem Sonnen-Vater entgegen gegangen sind. Zwei weitere Welten liegen noch darüber; denn der Himmels-Vater schüttete sieben goldene Maiskörner in die Arena der Welten-Dämmerung. Vielleicht gelangte Poshaiyanka selbst, der älteste und allheilige Meister, bereits nach oben zu einer von ihnen und bahnte die Wege für diejenigen, die folgen können.
In dem ersten Höhlen-Schoß der Welt waren die Menschensamen wie Minerale; in der zweiten glichen sie Pflanzen, die von den Mineralien leben; in der dritten glichen sie Tieren, die von Pflanzen und Mineralien leben. Und in der vierten wurden sie so wie heute als vollständige Menschen geboren, in denen in gleicher Weise Tier, Pflanze und Mineral enthalten sind. In jener fünften Welt, die in ihrer Gesamtheit noch bevorsteht, werden sie als ältere Brüder geboren, die Mineral, Pflanze, Tier und auch den Menschen enthalten, weil alles das Ergebnis von etwas und die Ursache von etwas anderem ist, wie bei einer Kette oder einer Schriftrolle, die erst aufgerollt und dann wieder zusammengerollt wird. Da dies so ist, müssen alle Lektionen gelernt und alle Schulden bezahlt werden, bevor von einer Welt zur nächsten weitergegangen werden kann; denn das ist das Gesetz des Gleichgewichts. Nicht alle werden die Kraft haben, zukünftige Welten zu erreichen, aber es wird neue Gelegenheiten geben.
Wahrlich, mit allen Dingen, die auf der Erde sind, ist es so, daß sie ihre Körper immer wieder umformen oder austauschen. Alles, was sprießt und wächst, alles, was sich selbst erzeugt und entwickelt, auch die Menschenwesen, wandelt sich und formt sich unaufhörlich um: Die Gottheit in ihnen ist immer vollständig, unvermindert und immer wirksam. Bei jedem Tode wandern die Seelen der Menschen unbewußt durch die Welten aufwärts zu ihrer Heimat in der Sonne und dann in die Milchstraße. Von dort kehren sie wieder zurück und steigen hinab in ein Leben auf dieser Welt. Hier müssen sie sich wieder unter dem großen Gesetz des Ausgleichs der Sonne entgegenkämpfen und Weisheit erlernen, denn die Heiligkeit der Verwandtschaft ist von größter Bedeutung: Da die ganze Schöpfung im wesentlichen eine Einheit ist, sind alle Teile innerhalb des Ganzen miteinander verwandt. Alle Verwandtschaften auf der Erde sind Symbole der wahren und großen Verwandtschaft, die immer zwischen den Menschen und dem Großen Geist, dem Sonnen-Vater, oder zwischen dem Menschen und der Erde besteht, von ihrem Ursprung her gesehen. Der Indianer liebt die Gestalt nur wegen des inneren Wesens, das in ihr ist, sagen die Onondaga und die Oglala Sioux.
Aber Tod und Wiedergeburt bringen Vergessen, wenn der Sonnen-Vater nicht nahe ist und wieder einmal nur die dunklen Ebenen der Erden-Mutter gesehen und gefühlt werden. Die Illusion der Trennung muß erneut zerstört werden, damit der neu-junge Mann oder die neu-junge Frau Erleuchtung oder Weisheit von den Göttlichen Zwillingen empfangen kann, was von den Anthropologen als die Kultur-Epoche der Helden und Heldinnen bezeichnet wird. Denn die Zwillinge besitzen Sonnen-Vaters eigene Weisheitserkenntnis, und die Nachkommen ihrer ersten Abkömmlinge sind die "anderen" der neu-jungen Person, ihre "älteren Brüder" oder Kachinas (kachi - Leben, na - Vater des), die in höheren Welten leben. So sagen die Hopi-Indianer.
In der Pubertät, an der Schwelle der vollen Inkarnation, muß der Jugendliche die Hilfe seiner älteren Brüder suchen, indem er spirituelle Einsicht erfleht, die seine Erinnerung an vergangene Lebenserfahrungen wiederherstellen und ihm sagen wird, was er nach des Sonnen-Vaters Wünschen in diesem Leben sein und tun soll. Denn im Zentrum seiner Seele und seines materiellen Wesens ist der Große Geist vorhanden. In welcher Form dieser zeremonielle Ritus bei den indianischen Völkern auch stattfindet, er ist die erste wichtige Initiation des neuen Menschen in den großen Clan erwachter Menschen, die das wahre Wesen in der Form sehen und die Einheit aller Dinge erkennen. Wenn das visionäre Suchen, das Verlangen des Jugendlichen nach Einsicht erfolgreich ist, dann weiß er, wer er ist und was er tun muß, um seine ihm obliegenden Aufgaben auf dem Vormarsch entlang der Straße des Lebens und Todes wieder aufzunehmen. Wenn er beharrlich ist, werden im Verlaufe seiner vielen Lebenszyklen weitere Initiationen folgen und ihm schließlich die Befreiung von seinem eigenen persönlichen Ich und vom Kosmos bringen.
Weil von allen Geschöpfen der Adler am höchsten fliegt und alles sieht, wird er von den Indianern als ein Symbol des Großen Geistes betrachtet und als ein Sonnen-Vogel angesehen. Seine Federn nur als Schmuck getragen oder selbst siegreich errungen, repräsentieren die "Wirkliche Gegenwart." In der heiligen Lehre der Sioux entspricht der Gefleckte Adler wanbli galeshka genau der buddhi der östlichen Tradition: das gestaltlose und transzendente Prinzip aller Manifestation und ein direkter Strahl aus âtma, der göttlich-spirituellen Sonne. Der Adler ergreift seine Beute von der Erde und trägt sie aufwärts, genauso wie die buddhi in der Hinduphilosophie das Seelen-Bewußtsein des Menschen zur göttlichen Erleuchtung emporhebt. So gesehen sollte klar sein, was die Worte der Indianer im Gesang des Geistertanzes bedeuten: "Der Gefleckte Adler kommt, um mich hinwegzutragen." Das berichtete Joseph Epes Brown nach vielen Gesprächen mit Black Elk, dem heiligen Mann und Seher der Sioux.
Der Initiant erweitert sein Bewußtsein so lange durch die sechs Richtungen des Raumes, bis er aufhört ein Teil, ein Bruchstück zu sein, und ganz oder heilig wird: Sonnen-Vater, der Unendliche. Letzten Endes werden das viele erreichen. Für den traditionsgebundenen Menschen hat alles im Kosmos seine Entsprechung im Mikrokosmos; so wird eines Tages, wenn die Welt enden wird, auch die Ich-Welt des Menschen oder das Unwissen über die Wirklichkeit enden. Denn wann auch immer er Erleuchtung oder Weisheit vom Großen Geist erhält, fortan wird er beständig im Bewußtsein des All-Vaters, als ein älterer Bruder, als ein "Krieger des Regenbogens", leben. Die in den Anden wohnenden Quechuas nennen ein solches Wesen einen Viracocha, einen "Wanderer auf der Gischt des Meeres", einen Herrn über Leben und Tod.
Nachdem ein solcher Viracocha die volle Erkenntnis in allen sieben Regionen gewonnen hat - die sieben goldenen Maiskörner, die der Himmels-Vater in den Raum gestreut hatte -, befindet er sich in der höchsten Region. Er hat eine Wahl. Er kann noch weiter in immer höhere Regionen des Geheimnisses aufsteigen; oder er kann bleiben, um mitzuhelfen, einen neuen siebenstufigen Lebensraum von sieben Welten hervorzubringen, der mit Familien von Geschöpfen erfüllt wird, die die Wiedervereinigung mit dem Sonnen-Vater suchen. Bewegt von Mitleid und Erbarmen für alle hinter ihm, kann er ihnen ein "Krieger des Regenbogens" sein. Einige Viracochas jedoch, so sagen die Quechuas, entscheiden sich, nicht zurückzubleiben, sondern entschwinden in höhere Regionen. Dann wird die neue Geburt verzögert, und das Erscheinen eines wahrhaft mitleidsvollen Viracocha muß abgewartet werden. Durch sein großes Opfer wird ein erneutes Werden ermöglicht. Er wird damit den Weg für Myriaden geringerer Leben öffnen, die die Befreiung suchen, die er gewonnen, aber zu ihrem Heil wieder aufgegeben hat.
Diese Auswahl von Gedanken wurde verschiedenen Überlieferungen amerikanischer Ureinwohner entnommen, wie sie von ihren Ältesten bewahrt wurden. Aus ihnen erkennen wir, wie die Indianer die ehrfurchtgebietende Pilgerfahrt des Menschen die Zeitalter hindurch, vom niedrigsten Schoß des Seins bis zum Gipfel menschlicher Vollkommenheit, dem Göttlichkeit folgt, betrachten.